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Full text of "Das Wesen des Christentums: Sechzehn Vorlesungen.."

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THBOLOGKALUBRARY 






Das 



IDefen bes Cfyrtftentums 



Dor Stubtcrenben aller 5<*cultäten im IDmtcrfemejter 
1899/J900 an ber UntDcrfttät »criin 

gehalten 



von 



2lbolf £}arnacf 



2ldjtunb3toanj{gfies Caufenb 




£etp3tcj 

3. <£. ^tnricfys'fcfye BudfljanMung 

1902 



Akdoyer-üarvard 

CAMBRIDGE. M/S 









Weo. 



2IHe Hechte, insbefonbere t>as ber Überfefeuiig, t>orbeljalten. 



v 



Dortport 



Die folgen6en X)orlefungen ftn6 im pergangenen XDintcr» 
femefter vox einem Kreife pon etu>a fecfysfyun6ert Stu6ieren6en 
aller ^aeultäten gehalten u>or6en. Die freien Vorträge ifat fjerr 
stud. theol. tDaltfyer Becf er ftenograpfyifcfy aufge5eicfynet un6 miefy 
mit 6er Umfcfyrift überrafcfyt: icfy fage xtjm 6afür auefy an 6iefer 
Stelle meinen Danf, Sein ^leif fyat es mir ermöglicht, 6ie X)or* 
lefungen in ifyrer urfprünglicfyen (Beftalt 5U peröffentlicfyen, (Einige 
2tusnafymen abgerechnet, fyabe idj nur forrigiert, wo 6er Stil 6er 
ge6rucften He6e es ©erlangte» Dag 6as gefprocfyene tDort einem 
Be6ürfnis entgegengefommen ift, fyaben mir 6ie ^örer freun6licfyft 
be$eugt; fo 6arf icfy fyoffen, 6a§ auefy 6as gefdjriebene feinen XDeg 
fin6en urir6. Das füfyne Unternehmen aber, in wenigen Stun6en 
6as fipangelium un6 feinen (Bang 6urcfy 6ie ©efcfyicfyte 5U befyan6eln, 
fonnte idj nrie vox mir felbft fo vox 6en Cefern nur rechtfertigen, 
tx>enn 6er Darftellung 6er Cfyarafter afa6emifcfyer X)orlefungen 
getx>afyrt blieb. 

Die Aufgabe ift als eine rein fyiftorifcfye geftellt un6 befyan6elt 
u>or6en. Das f erlieft 6ie Derpflicfytung ein, 6as XDef entließe un6 
Bleibende in 6en <£rfcfyeinungen auefy unter fprö6en formen $u 
erfennen, es fyeraus$ul}eben un6 perftän6lidj ju madjen. 3 rr *ömer 
fin6 6abei unpermei61idj; aber als „itrcfyäologie" ift alle <Be* 
fdjidjte ftumm. — 



— IV — 

Das epangelifcfye (Etjriftentum beftefyt in einer ^üüe fircfylicfyer 
(ßemeinfcfyaften unb Sichtungen. 2lber fobalb fie ftcfy ernftfyaft 
auf bas befhtnen, was ifynen gefcfyenft tft unb wovon jte leben, 
muffen fie empfinben, ba% jte im tEtefften einig jtnb. JTtöge es 
biefer Darftellung belieben fein, bas Betouf tfein um biefe (Einig* 
feit im (Beift yx beftärfen. Der <£rfenntnis unb bem ^rieben uriü 
jte bienen unb nicfyt bem Streit. 

3m 2Ttai 1900. 



§ur 3ipetten Auflage* 

3d? fyabe bie ©elegenfyeit bes Heubrucfs 5U einigen ftiliftifcfyen 
Korrefturen benu^t unb auf S. 68 ein mif oerftänblicfyes Heferat 
berichtigt. J m übrigen fyabe icfy feine itnberungen vorgenommen. 

3m 2tuguft 1900, 



gur fünften Auflage. 

<£ine 5'nt oon (ßeg^nfdjriften Ijat ftdj in ben lefeten UTonaten 
über biefe Porlefungen ergoffen. 3<i? lf a be jte gelefen unb bann 
betfette gelegt, lernen fonnte tdj leiber nichts aus Ujnen; b^nn 
aud\ biejenige, tseldje n>enigftens bm Schein einer tDiffenfdiaftlidjen 
Disf uf jton 31t u>al|ren fudjt l ), jtdjt mit Dorausfefeungen unb Argu- 
menten, bie in fetner IDiffenfdjaft fonft ftattfyaft jtnb, nimmt meinen 
Ausführungen bas ZKafc, perbrefyt jte foplfiftifd} unb fperrt über* 
bies bie gefdfidjtltdje (Erfenntnis bes <£fyriftentums einfad] ab. 
IDenn bie Cfyeologen fortfahren, in biefer IDeife „bie djrtjtticfye 
(ßemeinbe" 3U beruhigen, toirb jtdj Sdileiermadjers Porter jagung 



*) W. Waltet, 21. §/s tt>efen bes (^rtflentums für bie d?riftltd?e <Se« 
meinbe geprüft, ^etpjtg 190;. 



_ y _ 

Erfüllen, ba% ber (Blaube mit ber öarbarei gct^t; benn es giebt audj 
eine Sdfeintoiffenfdjaft, bie Sarbarei ift* ZDas foQ man aber 60311 
fagen, ba% profeffor ZDaltfjer als einigen (Bcroinn meines Sucres 
bie abfdjrecfenbe öebeutung nennt unb bal^er feine Ausführungen 
mit bem Safee fdjließt: „So fann audj £}arnacfs Sudj, toie alles 
von (Bott gugelajfene, ber Kirdje bes %rrn 311m Sejlen bienen"? 
Diefe 5enten3 ijt 3U>ar burdf ben häufigen (Bebraudj Iängft trivial 
geroorben, aber fle djarafterifiert nodj immer bie innere Perfaffung 
beffen, ber es nidjt oerfdjmäfy, pdf ifyrer 3U bebienen. Don anberen 
<5egenfdjriften muß idi gan3 fdftoeigen; alle Cöne fanatifdjer £eiben* 
fdjaftlidjfeit unb gebanfenarmer petulan3 toerbeu in ifynen ange* 
fdjlagen — unb bies in einem ZTlomente, in toeldjem meine (ßegner 
alle Urfadje Ratten, ftdj auf ben <5laubcn, bie £iebe unb bm fttt* 
liefen <£mft 3U beftnnen. ZHufj man benn ben Kampf um bas 
Derjtänbnis ber Heligion auf bas niebrigfte Hioeau Ejerab3iefyen, 

um nur nidjt in ben (ßerudj bes Unglaubens 3U fommen? 5flft 
fdjeint es fo. 

7>odi idf wxü mit bem ^tnu>eis auf biefe trüben (Erfahrungen 
nidjt fdjliefjeu. Sie toerben reidjlidj aufgewogen burdj bie Cfyat- 
fadje, ba% mir aus ben meiffcn Ceilen unfres Paterlanbes, aus 
Dielen anberen Cänbern, aus allen Confeffionen unb aus allen 
tfyeologifdjen unb firdjlidjcn Cagern in Anlaß biefer Dorlefungen 
lebenbige Se3eugungen ber Kraft bes fioangeliums unb ber <£in« 
fyeit bes djriftlidjen <5laubens sugefommen finb. 3n bie unfidjt« 
bare (Bemeinfdjaft ber Cbriften, bie burdj feine offizielle (Theologie 
vertreten finb, fyabe idi einen 23licf tfyuu bürfen. Keine anbre <£r« 
fafyrung meines Cebens fommt bfefer gleidj, unb fo fdjließe id? 
audj biefes Portoort uneberum mit bem Ausblicf auf ben 5neben, 
ber inmitten bes nottoenbigen tfyeologifdjen Kampfes regieren 
fann unb toirb. 

3m 3uni \<)0\. 



3nfyalt. 



Seite 

Bestimmung unb Äegre^ung 5er Aufgabe \ 

I. £a* (Evangelium 

äinleitenbes unb <5cf$i$Ui$ea 6 

U Die Dcvfiinbigung Jefu na# tyren (Brunbjiigen . . 32 

Das Heidj (Softes unb fein Kommen ....... 3<t 

(Sott ber Dater unb ber unenblidje ZDert ber IKenf djenf eele <*o 

Die beffere (Seredjtigfeit unb bas (Sebot ber JEiebe . 45 

2. Die Itauptbeßie^ungen bes Cvangeliume im (Einjdncnr 50 

Das (Evangelium unb bie tt?elt, ober bie ^rage ber 2Js?efe 50 

Das (Eoangelium unb bie 2Irmut, ober bie fo3tale ^rage 56 
Das (Epangelium unb bas Rety, ober bie frage nadj 

ben irbifdjen (Drbnungen 65 

Das (Epangelium unb bie 2Irbeit, ober bie $ rage ber Kultur i\ 
Das (Epangelium unb ber (Sottesfofm, ober bie jrage 

ber <Lr)rtf)o(ogie 79 

Das (Epangelium unb bie lefyre, ober bie frage nadj 

bem BeFenntnis 92 

IL Da* (Epangelium in bev <5ef$i$te 96 

\. Die $rißli$e Religion im apoftoliföen Seitalter . . 9* 

2. Die $rißli$e Keügion in tyrer £ntn>i(tlung 3um Tkatyolu 

3temiw U9 

3. Die $rijlU$e Religion tot gde$if$en 1tatyoli3iemtte . 135 
<\. Die $rißii$e Religion im römif^en &atyoli3i*mud . \53 
5. Die $rißli$e Keügion im Protestantismus .... ^6? 



(Erjfe T&üxltfm$. 



3)er große pfyilofopfy bes pofttioismus, 3ol|n Stuart TXlxll, 
fyat einmal gefagt, bie ZTCenfdffyeit fönne nidjt oft genug baran 
erinnert toerben, ba% es einß einen tltann ttamens Sofrates ge» 
geben f\at <£r fyat recfyt; aber toidjtiger ift es, bie ZTCenfdifyeit 
immer toieber bavan 3U erinnern, bajj einjt ein ZKann Ztamens 
3efus <£^ri(hxs in ifyrer tltitte gejtonben ^at Pon 3ugenb auf ift 
ans freilief} biefe Cfyatfacfye nai|e gebracht toorben; aber man fann 
Ieiber nidjt fagen, bajj ber öffentliche Unterricht in unferem Seit- 
alter geeignet ijt, uns bas 23ilb 3cfu (Efyrijtt audj nadi ber Sdjul- 
3eit nnb für bas gan3e £eben einbrucfsooU nnb als einen unoer- 
äußerlichen 23eftfe 3U erhalten. Unb wenn audj fein ITCenfdj, ber 
einmal einen Straft oon Seinem Cicfyte in ftdt aufgenommen l\at, 
je toieber fo toerben fann, als fyabt er nie ehoas oon 3fynt gehört 
toenn audj auf bem (ßrunbe jeber einmal berührten Seele ein <2in- 
bruef 3urücfbleibt — biefe oertoorrene (Erinnerung, oft nur eine 
f „superstitio", genügt nidjt, um Kraft unb teben ans ifyr 3U fdiöpfem 
^Wädifi aber bas Perlangen, mefyr nnb Sichereres oon ifynr 3U 
rotffen, unb begehrt (Einer 3Uoerläfjtge Kunbe barüber, toer 3«fus 
Cljrifasgeioefen fei, unb toie feine Sotfcfyaft toirflidt gelautet 
tldbe, jojtefyt er ftdj alsbalb, wenn er bie Cageslitteratur befragt, 
x>on tot5~erfprudtsoollen Stimmen umfd)toirrtJ <£r fyört foldje, bie 
(5d Behaupten, bas urfprünglidje Cfyriftentum tyabt bem 23ubbfyismus 
Xcifx nafye gejtanbenj unb es toirb ifym bemgemäfc gefagt, bäjj pdf 
in ber tDeltfludjt unb bem peffunismus bas (Erhabene biefer Heligion 
unb itjrc tüiefe offenbaret 2lnbere oerficfyern xfyn bagegen, ba% bas 
(Et^rifientum eine optimijHfc^e Heligion fei unb tebiglidj als eine 

$amacf. Das IDefen bes Ct)rif2entnms. 1 



■ ■+■ - 2 - 

liefere <£nta>icflungsftufe bes 3ubentums aufgefaßt roerbcn muffe; 
audj fie meinen, (bamitj'etoas fcB^r (Eiefes ausgejprodjen 3U fyaben. 
IDieber andere behaupten umgefefyrt, bas 3übifdjc fei von bem 
<£t>angelium abgetan motten, biefes felbft aber fei unter geheim- 
nisvoll toirfenben griedjifdjen (Einflüffen entftanben unb fei als eine 
23lüte am 23aum bes fjeüenismu^ 3U begreifen. Heligionspfyilo» 
fopfyen treten auf unb erflären, ^bie TXletapiwfit, bie ftdj au* bem 
€t>angelium enttsicfelt fyabe, fei fein eigentlicher Kern unb bie 
(Enthüllung feines (ßefyeimniffes; aber anbere antworten ifynen, bas 
<2t>angelium Ijabe gar nidjts mit ber pfyilofopfyie 3U fdjaffen, fon» 
bem fei ber empftnbenben unb leibenben Ztlenfdjl^eit gebracht; bie 
pfyilofopfyie fei xfyn nur aufgebrängt toorben. <£nblidj treten bie 
2lüemeuefien auf ben plan unb t>erftdjern uns, Heligions-, Sitten«, 
pfyilofopfyiegefdjidjte feien überhaupt nur fjüfle nnb 2lufpufe; hinter 
ttjnen liege 3U allen Reiten bie IPirtfdiaftsgefdjidjte als bas allein 
IPirflidje unb türeibenbe; fo fei aud? bas Cfyriftentum urfprünglid? 
nichts erntetes als eine feciale 23eu>egung unb (Ojriftus ein fosialer 
£rlöfer, ber (Erlöfer ber fdjmadjtenben unteren Klaffen, geroefen." 

<£s fyat etwas Hutjrenbes, 3U fefyen, u>ie jeber mit feinem 
eigenen Stanbpunft unb 3 n ^reffcnfreifc ftdj in biefem 3*fus (Ojriftus 
roieberfinben ober bodj einen Anteil an ifym gewinnen roill — es 
uneberljolt ftdj fyier ftets aufs neue bas Sdjaufpiel, roeldjes fd?on 
bas 3tpcite 3flfyri}unbert im „(Snofticismus" bot, unb toeldjcs ftdj 
als ein Kampf aller benfbaren Bidjtungen um ten Beftfc 3^fu 
(Ojrifti barftellt Sinb uns bodj iüngjt nidjt ettx>a nur (Eoljioi's, 
fonbern jc&fir^tieftfdic's 3been in ifyrcr befonberen Pertpanbtfdjaft 
mit bem <£t>angeüum ©orgefüfyrt roorben, unb üielletdtf lägt ftd> 
felbft barüber Beachtenswerteres fagen als über ten eütofammen« 
Bjang fo mancher „ tfyeologif djen" unb „pfyilofopfyifdjen" Spefulation 
mit ber prebigt Cfyrifti. 

2lber alles in allem genommen ift bod? ber (Einbrucf, ten 
man aus biefen tpiberfpredjcnben Urteilen gewinnt, ein nieber« 
fdjlagenber: bie Dcrarirrung fdjeint hoffnungslos. Wem tann man 
es ba oerbenfen, wenn er, nadt einigen Perfudjen, jtdj 3U orien- 
tieren, bie Sadje aufgiebt? Unb üielleidjt fügt er nodj fyn3U, ba% 
im (ßrunbe bie frage bod\ eine gleichgültige fei. IDas gefyt uns 
eine <5efdjid}te, mos gefyt uns eine perfon an, bie oor neun3efyn« 
Ijunbert 3<*facn gelebt iiaf? Unfre 3beale unb Kräfte muffen 
präfent fein; es ift baroef, es ift ausftdjtslos, fte aus alten Zfianu* 



— 3 — 

ffripten mütjfam ju entoidPeln! IDer fo fpridjt, fyat nid)! unrccfyt, 

aber bodj nidjt redjt Was mix ftnb unb ijaben — : im Eueren 

Sinn — , fyahen totr aus ber (ßefdjidjte unb an ber (Sefd^idjte, 

freiließ nur an bem, was eine 5olge in ifyr gehabt fyat unb bis 

fyeute nadjmirft. Dapon aber eine reine (Erfenntnis 3U geminnen, ^ 

ift nidjt nur Sacfye unb Aufgabe bes fjijtorifers, fonbern eines / 

jeben, ber bm Heidjtum unb bie Kräfte bes <5eu>onnenen felb* \ 

ftönbig in ftd^ aufnehmen toiH. Va% aber bas <£pangelium fyerfter 

gebort unb burdj nichts anberes erfefct toerben fann, fyaben bie 

tiefften (ßeifter immer roieber ausgebrochen, „ZlTag bie geiftige 

Kultur nur immer_,fortfdjreiten, ber menfdjlidje (Seift ftdj erweitern, 

tr>ie er txrill; über bie fjofyeit unb ftttlidje Kultur bes (Efyriftentums, 

tote es in ben (Eoangelien flimmert unb leuchtet, roirb er nidjt 

fyinausifommen." 3" biefen Porten fyat (Soetfye nadj t>ielen Per» 

fudjen unb in unermüblidjer Arbeit an ftdj felbß bas (Ergebnis . t 

feiner jtttlidjen unb gefd?idjtlid?en <£inftdft 3ufammengefajjt. £ptä3jj& _ , o^- * / 

audj ber eigene tDunfdj in uns nidjt,(^) toirb es ftdj bodf^^H 4 *^^*/'/ 

um bes geugniffes biefes ITlannes grillen lohnen, ^em ein ernftes j,. „ 4 

Zladjbenfen 3u tmbmen, voa£~\\\m als fo u>ertooU aufgegangen ift; *...<!■ 

unb 4gero^ im (Segenfafe 3u feinem 23efenntnis fyeute Stimmen lauter 

unb ^t>erftd]tlid?er ertönen, toeldie oertunbigen, bie djrifUidje Heß- 

gion \\abz ftdj über lebt,£fä,f oll uns bas eine Slufforberung^ fein, 

fte, beren Coteufdjein man bereits ausftellen 3U fönnen glaubt, 

näEjer fennen 3U lernen. ""iSS 1 ^ 

3" tDafyrljeit aber ift fyeute biefe Heligion unb bas 23emül|en 
um fte lebenbiger als früher. Wir bürfen es unferer Seit 3U 
Cobe nadjfagen, ba% fte jtd} ernftlidj mit ber 5*<*ge nadj bem 
tDefen unb IPert bes (Efyriflentums befdjäftigt, unb bajj t^eute mefyr 
Sudjens unb 5ragens ift als oor breißig 3aB^ren. 2ludj in bem 
Caften unb experimentieren, in ben feltfamen unb abjhrufen 2lnt« 
tporten, in ben Karifaturen unb bem djaotifdjen Durdjeinanber, 
ja felbp in bem Raffel ift bodj txrirflidjes tehen unb ein ernftfyaftes 
fingen 3U fpüren. Ztur follen urir nidjt glauben, ba% biefes Hingen 
cremplarifdj ift unb roir bie firften ftnb, bie ftdj uadj 2lbfd]üttelung 
ber autoritativen Heligion um eine u>afyrfyaft befreienbe unb eigen- 
toüdiftge bemühen, roobei benn t>iel Dertsorrenes unb fjalbtoafyres 
auftauten muß. Por 62 3^ren fdjrieb (Earlvle: „3" biefen 3er» 
fa^renen Reiten, tx>o bas reiigiöfe prin3ip nadj feiner Vertreibung 
aus ben meiften Kirdjen entroeber ungefeljen in b^n £)ei*3en guter 

1* 



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— 4 — 

ZHenfdten einer neuen Offenbarung ftdj entgegenfeijnt unb entgegen» 
arbeitet ober aber heimatlos, tote eine Seele ofyne Körper, ifyre 
irbifdje ©rganifation fudjt — in einer foldjen Seit fleibet es ftdj 
©erfudjs- unb Übergangsweife in manche feijr feltfame 5ormen bes 
Aberglaubens unb bes 5<ntatismus. Der I^ötjere <£ntf}uftasmus ber 
menfdilidjcn Ztatur ift für eine Seit lang ofyne einen (Exponenten, 
unb bodj bleibt er un3erflörbar, unermüblidj tijätig unb arbeitet 
blinb in ber großen djaotifdjen Ciefe. So entfielt eine Sehe nad) 
ber anbeten unb eine Kirche naefy ber anberen unb 3ergeijt wieber 
in eine neue IHetamorpliofe." 

IDer unfre Seit fennt, ber wirb urteilen, ba% biefe JDorte 
lauten, als wären fte Ijeute niebergefeffrieben. Aber in biefen Por* 
lefungen wollen wir uns nic^t um bas „religiöfe prin3ip" bemühen 
unb feine €oolutionen, fonbern bie befcfyeibenere, aber nidjt minber 
brtrtglicfye 5*<*ge wollen wir 3U beantworten fudjen: was ift 
<£Ejrifientum? was ifi es gewefen, was ift es geworben? XDir 
hoffen, ba% aus ber Beantwortung biefer 5*age unge fuefrt audt 
ein Cidjt auf jene umfaffenbere fallen wirb: was ifl Heügion, unb 
was fod fte uns fein? fyabcn wir es bodj in iljr fdfliefjlidi nur 
mit ber dirifllidjen 3U tijun; bie anbeten bewegen uns im tEiefften 
nicfyt meljr. 

\] Was ifl Cijriftentum? — lebigticfy im fyiftorifdten Sinn wollen 
wir biefe 5rage ljier 5U beantworten oerfudjen, b. fy mit bm ZUitteln 
ber gefcfyiditlidfen IDiffenfdjaft unb mit ber £ebenserfafjrung, bie 
aus erlebter töefdjidjte erworben ift. Damit ifl bie apotogetifdje unb 
bie rcligionsptiilofopfyfdie Betrachtung ausgefdfloffen* (ßcjlatten 
Sie mir hierüber einige IDorte. 

Die Apologetif fyat in ber Beligionswiffenfdjaft iijren not- 
wenbigen plafe, unb es iß eine würbige unb große Aufgabe, ben 
XTadjweis bes Hechtes ber djriftlidien Religion 3U führen unb üjre 
Bebeutung für bas jtttlidje unb intelleftuelle teben ans £td?t 3U 
(teilen* Aber biefe Aufgabe barf man nidit mit ber rein gefdjidjt» 
f lidjen 5^age nadj bem liefen biefer Heligion oermengen, fonfl 
5 bringt man bie gcfdtidjtlidje 5orfdjung um jeglidjen Krebit. Da3U 
Fommt, bafc wir für bie Apologetif, wie wir fte fyeute brauchen, 
nodj fein wafyrfjaft großes ZHufler beftfeen. ©nige Anfäfce 3um 
Seffcren abgerechnet, befinbet ftdj biefe Dis3tplin in einem traurigen 
Suftanbc: fte ifl ftdj nidjt flar barüber, was fte oerteibigen foll, 



— 5 — 

unb fie ijt unjtdjer in iljren ZlTitteln. Qa$u mxvb jte ntdjt feiten 
toürbelos unb aufdringlich betrieben. 3n ber HTeinung, es reift 
gut 3U madjen, preijt jte bie Heligion an, als wäre jte eine Hamfdj* 
roare ober ein UniDerfalijeilmittel für alle (ßebrecfyen 6er (ßefell- 
fdjaft 2Ludi greift jte immer trieber nadj allerlei Canb, um bie 
Heligion auf3upufeen, nnb roäfyrenb jte jtdj bemüht, fte als etwas 
Ijcrrlidjes unb Ztotroenbiges bar3uftellen, bringt fte fte um tfjren 
(Ernjt unb betocifl im bejten 5aQe nur, bafa fte etwas gan3 an- 
nehmbares, weil Unfdiäblidjes fei €nblidj fann fte es nidjt laffen, 
irgenb einJPirdjlidjes Programm t>on gejtern unter ber fjanb tjin- 
3U3une^men unb mit 3U „beweifen"; benn in bem locferen (5efüge 
ifyrer (ßebanfen fommt es auf ein Stücf meijr ober weniger bodj 
nidjt an. IDeldfer Sdjabe baburdj angerichtet worben ift unb nodj 
immer um jtdj frijjt, ijt unfäglidj! XTein, bie djriftlidte Heligion 
iß etwas JEjoljes, einfaches unb auf einen punft 33e3ogenes: 
€wiges Ceben mitten in ber gett, in ber Kraft unb t>or ben 2lugen 
(5ottes. Sie tj* fem etljifdtes ober fojiales 2lrcanum, um alles 
mögliche 3U fonferoieren ober 3U beffern. Sdjon ber ©erwunbet ftc, 
ber in erßer £tnie fragt, was jte für bie Kultur unb ben $oxU 
fdjritt ber ZTCenfd$ett geletjtet fyat, unb banadj ifyreu tDert be- 
ftimmen will, (ßoetije fyat einmal gefagt: „Die HTenfdtijeit f errettet 
immer fort, unb ber ZTCenfdt bleibt immer berfelbe." Ztun, auf 
ben Hlenfdjen be3iefyt ftdj bie Heligion, auf ben HTenfdfen, wie 
er mitten in allem IDanbel unb 5ortfdjritt ber Dinge jtdf gleidj 
bleibt Darum foll bie djrijilidje 2lpologctif wijfen, ba%. jte es mit 
ber Heligion 3U ttpxn fyat m tfyrer einfachen 2lrt unb Kraft (ße- 
wi§, bie Heligion lebt nidjt nur für jtdf, fonbern in einer innigen 
(ßemetnfdiaft mit allen Cfyätigfeiten bes (ßeiftes unb ebenfo mit 
ben jtttlidjen unb wirtfdiaftlidjen gujiänben. 2lber jte ift bodj 
nidjt nur eine 5unftion ober ein (Exponent berfelben, fonbern ein 
mächtiges liefen, bas B|emmcnb ober förbernb, ©erwüjienb ober 
befrudjtcnb eingreift Sie gilt es 3unäd)jt fennen 3U lernen nnb 
ifyre (Eigenart 3U bcjHmmen — einerlei, wie ftdj bas betradjtenbc 
3nbix>ibuum 3U üfr jleHen mag, unb ob es jte in bem eigenen 
teben für wertooll fyält ober nidjt 

2lber audj bie religionspijilofopfyifdje Betrachtung im jkengen 

Sinne bes Portes fdjliefcen wir t>on biefen Porlefungen aus. 

p,c/ IDürben tx>ir jte x>or fedftig 3a*!**n gehalten ^aben, fo würben mir 

uns bemüht l^aben, burdj Spefulation einen 2Illgemeinbegriff Don 

v^- ,J '** !' 



_ 6 — 

Religion 311 ftnben, unb nait ifym bie d?rifHid)c 3U befttmmcn per« 
fudjen. 2lHein wir ftnb mit Hcc^t ffcptifdj geworben in 23e3ug 
auf biefes Derfaijren. Latet dolus in generalibusl Wxv wiffen 
fyeute, ba§ £ebcn ftdj nidft burdt 2lllgemcinbegriffe umfpannen läfct, 
unb ba§ es feinen Religionsbegriff giebt, 3U weldjcm ftdj bie wirf« 
liefen Religionen emfadj wie bie Spcsies x>crfyalten. 3<* man fann 
fogar fragen: giebt es überhaupt einen gemeinfamen begriff 
„Religion"? Oft bas <5emeinfame oieüeid]t nur eine unbefttmmte 
yfy Anlage? Seseidjnet etwa bas XDort nur einen leeren 5fecf in 
^ unferem 3nnern, bzn jeber anbers ausfüllt unb mancher gar nidjl 

bemerft? 3dj bin nidjt biefer RTeinung, bin vielmehr überjeugt 
ba% es lfter im Ciefjten etwas <5emeinfames giebt, was ftdj aus 
ber ^erfpattung unb ber Dumpfheit im £aufe ber <5efd|idjte 3ur 
(Einheit mxb Klarheit emporgerungen i\at 3dj bin ber Überscu* 
gung, ba§ 2lugufHn redftijat, wenn er fagt: „Du, Qcrr, fyaft uns 
auf Didj ljin gefdjaffen, unb unfer £jer3 ift unruhig, bis es Hu^e 
faxtet in Dir." 2ü>er btefes nadtfuweifen imb auf bem IDege 
pfydjologifdier unb DÖlferpfydiologifdier ttnterfudjung bas IDcfen 
unb bas Zledit ber Religion bar3ujteüen, foll nidjt unfre Aufgabe 
fein. £s bleibt bei bem rein gefdjiditlidjen Omenta: Was x\J djrift« 
lidje Religion? 



/ 




Wo tjaben wir ten Stoff 3U fudjen? Die Antwort erfdjeint 
einfadj unb 3ugleidt erfdjöpfenb: 3efus <£fyriftus unb fein 
(EDangelijim. allein fo gewiß btes nidft nur bm Ausgangs» 
punft, fonbern audf bm ijauptfädjlidjen 3 n *!<*l* für unfere Unter« 
fudjung bietet, fo wenig bürfen wir uns bamit begnügen, lebiglidf 
bas Silb 3^fu grifft unb bie <5runb3Üge feines (Epangeliums bar- 
3ujkßen. F Wxv bürfen es btst\a\b nidjt, weil jebe große, wirffame 
perfönlidjfeit einen Seit ifyres IPefens erft in benen offenbart, auf 
bie fte wirft. 3 a man & ar f f a 9* n / i* gewaltiger eine perfönlid}» 
feit ift unb je mei^r fte in bas innere Ceben anberer eingreift, um 
fo weniger läßt ftdj bie Totalität ifyres IDefens nur an iBjren eigenen 
XDorten unb (traten erfennen. ZXlan muß ben Refle£ unb bie Wxv* 
fungen ins 2luge faffen, bie fte in bmen gefunben fyat, beren 5üfyrer 
unb fjerr fte geworben ij!. Deshalb ift es unmöglich, eine ooll' 
jtänbige Antwort auf bie 5n*ge: was ijt djrifttidi? 3U gewinnen, 
wenn man ftdf lebiglidf auf bie prebigt 3 c f u grifft befdjränft. 
Wxv muffen bie erfte Generation feiner jünger — bie, bie mit 



— 7 — 

ifym gegeffen unb getrunfen fabelt — fyin3unefymen unb oon irrten 
fyören, was fte an ifym erlebt ljaben. 

2lbcr auefy bamit ift unfer Stoff nodj nidjt erfdjöpft: toenn es 
ftdj in bem (Efyriftentum um eine (Sröße- ijanbelt, beren (ßeltung 
nidjt an eine beftimmte €podje gefnüpft xoav, wenn in ifym unb 
burefy baffelbe nidjt einmal, fonbern fort unb fort Kräfte ent» 
hunben morben finb, fo muffen auefy alle fpäteren fjeroorbring« . 

ungen feines (Seiftes ^tu? s Eingenommen »erben. ZTidjt um eine ^' 
„Cefyre" ^anbett es ftdj ja, bie in einförmiger XDieberfyolung über» 
liefert ober roillfürlidi entftctlt toorben ift, fonbern um ein Ceben, 
bas, immer aufs neue ent3Ünbet, nun mit eigner 5fomme brennt 
Wir bürfen auch fyi^ufügen, bajj <£fyriftus felbft unb bie 2lpoftel 
baoon überseugt roaren, ba§ bie Heligion, bie fyier gepftan3t n?ar, 
in §ufunft nodj (ßröfeeres erleben unb ©eferes fäauen wexbe als ; 
in ber ^eit iijrer Stiftung : fte'^Sertnrateh bem (ßctfte, bajj er x>on 
einer Klarheit 3ur anbern führen unb ^öt^ere Kräfte entoicFetn 
werbe. Wie wir eine pftan3e nur bann ooflftänbig fennen lernen, 
wenn wir nidjt nur ifyre ZPu^el unb ifyren Stamm, fonbern audf 
ifyre Hmbe, iljre Sfte unb Blüten betrachten, fo formen wir audi 
bie djrifttidje Heligion nur auf (ßrunb einer ooüftänbigen 3"buftion, 
bie ftdj über ifyre gefamte (Sefdjidtte erftreefen mujj, redjt würbigen. 
<ßewi§, v fie fyat eine flafftfdje (Epoche erlebt, unb nod> mefyr, fie 
hatte einen Stifter, ber bas mar, was er lehrte — in iB^n jtdj 3U 
oertiefen, bleibt bie ^auptfacfye — ; aber auf ifyn ftcfy 3U befdjränfen, 
fyießc ben 2lugenpunft für feine Sebeutung 3U niebrig nehmen» 
Selbftanbig.es religiöfes teben wollte er entsünben, unb B^at es 
ent3Ünbet; ja bas ift^ wie wir fefyen werben, feine eigentliche <5rö§c, 
ba% er bie 2TTenfd>en 3U (Sott geführt fyrt/ auf ba% fte nun tfjr 
eignes Ceben mit ifym leben — roie fönnen wir" ba oon ber <5e- 
fdfidfte bes <£t>angeliums fdjweigen, wenn wir fein liefen fennen 
lernen wollen? 

ZlTan fann einwenben, bajj bie fo gefteöte Aufgabe 3U fdjwierig 
werbe, unb ba% iljre Cöfung von vielen -5e^lern unb 3rrtümem 
bebrofyt fei. Das foll nidjt geleugnet werben; aber um ber Schwierig- 
feiten willen bie Aufgabe felbft einfacher, b. fy. in biefem 5<*fle unrichtig, 
fteüen, wäre- eine fefyr oerf eljrte 2lusf unft. Sernev aber, mögen audj 
bie Scbwiertgfeiten warfen, bie größer gefteüte Aufgabe erleichtert 
anbererfeits bie Arbeit; benn fie fylft uns, bas Öffentliche 111 
ber Crfdjeinung 3U faffen unb Kern unb Schale 3U unterfdjciben. 



1 



— 8 — 

3cfus <0}rißus unb feine erfien 3ö"9^ Ijaben ebenfo in tfjrer 
Seit geftanben, wie wir in ber unfrigen fielen, b. fy fte fyaben 
gefüllt, erfannt, geurteilt unb gefämpft in bem J}ori3ont unb 
23afymen ifyres Polfes unb feines damaligen ^ujtanbes. Sie wären 
nidjt ZTCenfdjen von 5feifcfy unb Slut, fonbem gefpenfHfd?e tDefcn 
gewefen, wenn es anbers wäre, jreilidi, fteb3eljn 3^ Wunberte 
fynburdi ijat man gemeint, unb t>iele unter uns meinen es nodj, 
ber „Znenfdjljeit" 3$fa <£fyrtfti, weldjc audj fte lehren, fei bereits 
genügt, roenn man annehme, er Ijabe einen menfdilidjen £eib unb 
eine menfcfyüdje Seele gehabt. 2lis ob es fo etwas ofyie tnbi» 
oibueüe SefKmmtfyeit gäbe! ©n ZKenfdj fein f^cigt erjUid}, eine 
fo urib fo befHmmte unb bamit begren3te unb befdjränfte geifftge 
Anlage beftfeen, unb 3weitens, mit biefer 2lnlage in einem wteberum 
begren3tcn unb befdjränften gefdjidjtlic^en <§ufammenfyang fielen, 
darüber hinaus giebt es feine „ZHcnfdjen". hieraus folgt aber 
unmittelbar, Sa% nichts, fdjledjterbings uidjts, x>on einem ZKenfdfen 
gebacfyt, gefprocfyen unb getEjan »erben f ann ofyte bie Koefftienten 
Jetner eigentümlichen Anlage vmb <§eit. ITCag audj ein ein3elnes 
XDort wafyrljaft flafftfdj unb für äße Reiten gültig erfdjeinen — 
fdjon in ber Sprache liegt eine fefyr fühlbare Befcfyränfung. TXodi 
r>iel weniger aber permag fxd\ bie Cotalität einer geizigen perfön- 
lidjfcit fo 3ur DarfteUung 3Ü bringen, ba% man bie Sdjranfen, unb 
mit ifynen bas 5rembartige ober bas Konventionelle, nidjt empfinbet, 
nnb biefe <£mpfinbung mu§ jtdj notwenbig fieigern, je weiter ber 
33etrad}tenbe 3eitlidj entfernt fielet 

5ür ben fjiftorifer, ber bas IPertoolle unb Sleibenbe fefouflellen 
fyat *— unb bas ift feine tjödjjie Aufgabe — ergiebt ftdj aus biefen 
Derfyältniffen bie notwenbige 5orberung, ftdj nidjt an Worte 3U 
flammern, fonbem bas ZDefentlidje 3U ermitteln. 3)er „gan3e" 
<£ljriftus, bas „gan3e" fipangelium, roenn man unter biefer 2)eoife 
bas äußere 23tlb in allen feinen gügen ©erfleht unb 3ur Z?ad)> 
adjtung aufhellt, ftnb ebenfo fdjlimme unb täufdjenbe Sdjlagworte 
tote ber „ganse" Cutter u. a. Schlimm ftnb fie, weil fte fnedjten, 
unb täufdjenb ftnb fte, weil felbjl bie, bie fte ausgeben, nidjt baran 
benfen, mit ifyxen (Ernfl: 3U machen, unb ©erfudjten fte es, fte ©er» 
möchten es nidjt. Sie oermögen es nidjt, weil fte nidjt aufhören 
fönnen als Kinber iijrer gett 3U empfinben, 3U erfennen unb 3U 
urteilen. 
X <£s ftnb ijter nur 3wei Znögüdjfciten : entmebex bas €oan» 



— 9 — 

gelium iffc in allen Siücfcn ibentifdj mit feiner erften $orm: bann 
iß es mit ber Seit gefommen unb mit ifyr gegangen; ober aber 
es enthält immer gültiges in gefdiidjtltdt toedjfelnben 5ormen, Das 
lefetere ijl bas Hidftige, Die Kirdjengefdiidjte seigt bereits in ifyren 
Anfängen, ba% bas „ttrdfrijtentum" untergeben mußte, bamit bas 
„Cfyriftentum" bliebe; fo ift audj fpäter nodj„cine ZHetamorpIjofe 
auf bie andere gefolgt Von Anfang anmalt es Formeln ab3u- 
greifen, Hoffnungen 3U forrigieren unb <£mpftnbungsrDeifen 3U 
änbern, unb biefer pro3e§ f ommt niemals 3ur Hülfe, &>en babntdt 
aber, ba% toir, u>ie ben Anfang, fo ben ga^en Perlauf über» 
fdjauen, x>erftärfen toir unferen IHaßftab für bas IDef entließe unb 
roaljrEiaft IPertootle. 

XDir ©erftärfen ifyn — aber nur brauchen ifyn nidjt erft ber 
<5efdjidjte ber 5olge3eit 3U entnehmen. Die Sadje fclbji giebt üjn 
an bie E(anb. XOit »erben feigen, ba% bas £pange(ium im <£oan» 
gelium etmas fo einfaches rxnb fraftootl 3U uns fprecfyenbes ift, 
ba% man es nidjt leidft oerfefjlen fanu. <£s ftnb nidjt roeitfdjidt- 
tige, metfyobifdje 2lm»eifungen unb breite (Einleitungen notig, um 
ben JDeg 3U tfjm 3U ftnben, 2£>er einen frifdjen 23li<£ für bas 
£ebenbige unb roa^re <£mpftnbung für bas roirflidt (Sroße bejlfet, 
ber muß es fetjen unb von ben 3eitgefdjiditlid}en füllen unter- 
treiben fönnen. Unb mag es audj an manchen ein3elnen punften 
nidit gan3 letdjt fein, 33leibenbes unb Pergänglic^es, prin3ipielles 
nnb bloß ^iftorifdjes 3U unterfdjeiben — es foH uns nid?t fo ge^en 
«>ie jenem Kinbe, toeldjes, nadj bem Kerne fudjenb, einen 2£>ur3el- 
floef fo lange entblätterte, bis es mdjts meljr in ber §anb fyatte 
unb einfeljen mußte, ba% eben bie Blätter ber Kern felbft toaren» 
Undi bie töefdjidjte ber djrifllidjen Heligion fennt foldje Se- 
nkungen ; aber jte t>erfditx>inben gegenüber ben anberen, burdj 
tpcldje uns eingerebet »erben foHte, fyier gebe es u?eber Kern nodj 
Schale, toeber tDadjstum nodj 2lbftcrben, fonbern alles fei gleich 
toertooll unb alles bleibenb. 

XDir roerben bemnadj in biefen Porlefungen erftlidj oon bem 
fioangelium 3efu <£fyrifti fymbeln, unb biefe Aufgabe wirb uns am 
langten befdfäftigen, XDir roerben fobann 3etgen, toeld^cn ©nbrud 
er felbß unb fein £Dangelium auf bie erfle (ßcneration feiner 
3ünger gemalt iiat Wit roerben enbltdj bie JEjaupttoanblungen 
bes Cljriftliclten in ber (ßefdfidjte ©erfolgen unb bie großen (typen 



— 10 — 

■ 3U erfenncn fucfyen. 7>as <5emetnfame in allen liefen <£rfd?ci* 
nungen, fontrotliert an bem (Eoangelium, unb wieberum bie <5runb- 
3Üge bes <£t>angeliums, fontrollicrt an ber (ßefdjidjte, werben uns, 
fo bürfen wir fyoffcn, bem Kerne fcer Sadje na^ bringen» 3n 
bem Halmen einer Porlefung x>on wenig Stnnben fann freiüd) 
überall nur bas tüidjtigfte fyeroorgetjoben werben; aber tüeHeidjt 
ift es nidjt ot^ne (Sewinn, einmal nur bie flarfen §üge unb bie 
Ijöljcpunfte bes Beliefs ins 2luge 3U faffen unb, unter gurücf jteflung 
alles Sefunbären, ben gewaltigen Stoff in einer Kon3entration 3U 
betrachten. Selbft baoon werben wir abfegen unb abfegen bürfen, 
cinleitenb uns über bas 3ubentum unb feine äußere unb innere 
£age 3U verbreiten unb über bie gried|ifdj»römifc^e IDelt uns aus» 
3ufpredjen. t Selbftoerjtänblidj werben wir nie unfern Blicf ifynen 
gegenüber üerfcfylicßen bürfen — fte muffen uns xnelmefyr immer 
im Sinne fein — , aber weitfcfyidttige Darlegungen ftnb Ijier nidjt 
nötig. Sie prebigt 3efu wirb uns auf wenigen, aber großen 
Stufen fofort in eine ^öt^e führen, auf welcher ifyr Sufammen* 
Bjang mit bem 3ubentum nur nodj als ein Iocferer erfdjeint, unb 
auf ber überhaupt bie meijlen 5äben, bie in bie „Seitgefdjidjte" 3urücf • 
führen, nnbebeutenb werben. Diefe Behauptung mag 3^ neri Petra* 

• bo£ erf feinen; benn gerabe t^eute wieber wirb uns mit ber ZHiene, 
als ijanble es fxd\ um eine neue <£ntbecf ung, einbringlidj perjtdjcrt, 
man fönne bie prebigt 3efu nidjt oerjiefyen, ja überhaupt nidjt 
richtig wiebergeben, wenn man fte nidjt im gufammenfyang ber 
bamaßgen jübifdjen £efyren betrachte unb biefe allen 3ut>or auf« 
rolle. 21n biefer Behauptung ift fcBjr t>iel XüaBjres, unb fte x\t bodj, 
wie jtdj 3eigen wirb, unrichtig. PoHenbs falfdj aber wirb fte, 
wenn fte ftcfy 3U ber blenbenben Cfycfe jleigert, bas <£t>angelium fei 
nur als bie Religion einer bezweifelten Polfsgruppe begreiflich; 
es fei bie lefete 2lnjfrengung einer becabenten §eit, bie nadi bem 
notgebrungenen Vet$\dit auf biefe <£rbe nun ben fjimmel 3U ftürmen 
t>erfudjt unb bort Bürgerrecht forbert — eineHeligion besltlifera- 
bilismus! Zlnx merf würbig, ba% bie wirflid? Per3weifelten jteeben 
nidjt aufnahmen, fonbern befämpften; merf würbig, ba% bie 5üfy 
renben, foweit wir fte fennen, wafyrlidj nidjt bie Süge fdiwädjlidjer 
3)efperation tragen; am merf würbig jten, ba% fte auf biefe <£rbe 
imb tEjre (ßüter swar t>er3id}ten, aber in Qeiltgfeit unb Ctebe einen 
Bruberbunb grünben, ber bem großen <21enb ber ZTCenfd^eit ben 
Krieg erflärt. So oft idj bie <£t>angelien wieber lefe unb über- 



— 11 — 

fdjlage, um fo mefyr treten mir &ie 3eitgefd}idjtüdien Spannungen, 
in benen bas <£oangelium geftonben bat nnb aus benm es B?cr» 
rorgetreten ift, 3urücf. 3di 3»eifle nidjt, ba§ fdjon ber Stifter ben 
ZlTenfdien ins 2luge gefaxt tiat f in welcher äußeren £age er fteb. 
aueb, immer befinden mochte — ben ZTCenfcfjen, ber im (ßrunbe 
ßets berfelbe bleibt, mag er ftdj auf einer auf* ober abfteigenben 
ßnie bewegen, mag er im Hcidjtum ftfcen ober in 2lrmut, mag er 
ftarf ober fdjwadt fein im (ßcijfe. Das ift bie Souoeränetät bes 
£t>angeliums, ba% es Iefetlidj alle biefe (Begenfäfce unter fidt weijj 
unb über ifjnen ftefyt; benn es fudjt in jebem ben punft auf, ber 
pon allen biefen Spannungen nidjt betroffen wirb. 23ei paulus ijt 
bas gan3 flar — wie ein König betjerrfdjt er innerlich bie irbifdjen 
Dinge unb Pcrfyältniffe unb will jte fo befyerrfäjt fetjen. 3ene 
(Efyefe von bem becabenten Zeitalter unb ber Heligion ber <£Ienben 
mag geeignet fein, in einen äußeren Porfyof ein3ufüfy:en; fte mag 
audj richtig auf urfprünglidt 5ormgebenbes fyn weifen; wenn fte 
ftdj aber als Sdjlüffel für bas Perftänbnis biefer Heligion felbft an* 
bietet, ifi fte _ab3ulefynen. Sie ift übrigens mit biefem Slnfprudj 
nur bie 2Inwenbung einer allgemeinen gefdndjtüdjen ZHobe, bie 
freiließ länger in ber (ßefdjiditfdjretbung fyerrfdjen wirb als anbere 
ZTCoben, weil mit ifyren Mitteln in ber (Efyat manches Dunfle er- 
fteEt werben fann. 21ber an ben Kern ber Sadje reichen ü|re 
3ühger nidjt Ijeran, im füllen mutmajjenb, ba% es einen foldjen 
Kern überhaupt nidjt giebt. 

§um Schluß laffen Sie midf nodt einen wichtigen punft fiug 
berühren: abfolute Urteile oermögen wir in ber (ßefdjidjte nidjt 
3U fällen. Dies ifi eine ©nftcfyt, bie uns fyeute — idj fage mit 
2lbjidtt: fyeute — beutlidj unb unurnftößlidi ifi. Die <5efd?idjte 
fann nur 3eigen, wie es gewefen ijl, unb audj, wo wir bas <ße- 
fdjefyene burdjleudjten, 3ufammenf äffen unb beurteilen, bürfen wir 
uns nidtf anmafcen, abfolute IDerturteile als €rgebniffe einer rein 
gefdjiditlidjcn Betrachtung abflrafyieren 3U fönnen. Solche fdjafft 
immer nur bie <£mpfmbung unb ber XDille; fte ftnb eine fubjefttDC 
Cfyat. Die Derwedjslung, als fönnte bie <£rFenntnis jie cr3eugen, 
(lammt aus jener langen, langen <£podje, in ber man oom IDiffen 
unb ber IPiffenfdjaft alles erwartete, in ber man glaubte, man 
fönne biefe fo ausbefynen, bafa fte alle Bebürfniffe bes (ßeiftes unb 
fjer3ens umfpannt unb befriebigt. Das oermag fte nidjt. Rentner* 



? 



— 12 — 

fdtroer faßt biefe €inpdjt in manchen Stunbcn feiger Tbcbcit auf 
unfere Seele, unb boefy — tote Bezweifelt jiünbe es um bie ZHenfdj- 
fyeit, roenn 6er tjöljere 5riebc, nadj bem Ytc ©erlangt, unb bie Klar- 
heit, Sidjerijeit unb Kraft, um bie jte ringt, abhängig wären pon 
bem ZTCage bes IDiffens unb ber €rfenntnis! 



3nmfe Barfejmtg. 



ZDir ^anbcln im erjten 2tbfdjnittc unferer Darlegung von ber 
Perfünbtgung 3cfu nad] tfyren <Srunb3Ügen, gu biefen 
<Srunt>3Ügcn gehört arxdt bie 5orm, rote er bas ©erfünbet Ijat, was 
er lehrte. Wxt werben fetten, ein wie wefentlidjer Ceti feiner (Eigen- 
art fyier 3U Cage getreten iji; benn „er prebigte gewaltig, nidjt 
toie bie Sdiriftgelefyrten nn^ pljarifäer". ©od} bet>or idj auf biefe 
<Srunb3Ügc eingebe, Ijalte v$\ midi für _t>erpflid?tet, Sie in fur3en 
XDorten über bie Quellen 3U orientieren. 

ttnfere Quellen für bie Derfünbigung 3*f** 1™& — einige 
wichtige XTadjridjten bei bem 2lpojlel paulus abgeregnet — bie 
brei erften <£t>angelien. 2lHes übrige, was wir unabhängig von 
biefen €t>angelicn über bie (ßefdjidjte unb Prebigt 3*fu wiffen, 
lägt jtdj bequem auf eine Quartfeite f djreiben, fo gering an Um»* 
fang ifi es» 3nfonberfyeit barf bas üierte (Evangelium, welches 
nidjt von bem 2lpoftet 3oi|annes Ijerrüijrt un^ fyerrüfyren will, als 
eine gefdjidjtltdje Quelle im gemeinen Sinn bes IDortes nidjt be* 
nufet werben* Der Perfaffer E^at mit fouoeräner 5reifyeit gewaltet, 
Begebenheiten umgefteHt unb in ein frembes £idjt gerücft, bie 
TZeben felbjttfyätig fomponiert unb Ejolje (S^anhn burdj erbadtfe 
Situationen tllujlriert 2)afyer barf fein ZPerF, obgleich ifyn eine 
wirflidje, vomn audj fdjwer erfennbare Überlieferung nidjt gan3 
fcljlt, als Quelle für bie (ßefdjidjte 3cfa Faum irgenbwo in 2ln- 
fprudj genommen werben; nur weniges ijl ifyn, unb mit Befyut» 
famfeit, 3U entnehmen, dagegen ijt es eine Quelle erjten Hanges 
für bie Beantwortung ber 5*age, weldjc lebenbige 2lnfdjauungen ber 



— 14 — 

pcrfon 3cfu, welches Cidjt unb welche ZDdrme bas Coangelium 
entbunbcn fyat. 

Dor fedftig 3<*fyren glaubte Daaib 5riebrtdj Strauß, bic 
<5cfdjiditlidtfcit aud) ber bret erften <£oangclien faji in jcber £}in» 
fidit aufgeloft 3U rjaben. <£s ijt ber I^iflorifdj-fritifdjen Arbeit 3roeier 
Generationen gelungen, jte in großem Umfange tmeberrjersuftelten. 
2lllerbings, auAi biefe ۩angelicn fhtb mdjt (BefdfiditstDerfe; fte 
ftnb nidjt gcfdjrieben, um einfad} 3U berichten, u>ie es geu>efen, 
fonbem fte jtnb 33üdjer für bie €oangelifation. 3fy* 2lbftdjt ijl, 
<5Iauben an bie perfon unb ZKif jton 3*fa CfyrijH 3U enoeefen, unb 
bie Sdjilberung feiner Sebcn unb C^aten foirie bie 3urücfbc3ierjung 
auf bas 21lte Ceftament bient biefem &voedt. Dennodf ftnb jte als 
<5efcf|iditsquellen nidjt unbrauchbar, 3umal ba il^r §wed fein von 
außen entlehnter ijl, fonbern mit ben 2lbjtdjten 3*fu 3um Ceti 3u» 
fammenfäHt t£>as man aber fonji nodj als große leitenbe tEen* 
ben3en ben <£oangelijtat 3ugefdjrieben fyat, fyat ftdj famt unb fonbers 
nid?t bemärjrt, wenn auef) im ein3elnen nodj mandje Ztebenabjtdjten 
gemattet fyaben mögen. Die <£pangelien jtnb feine „parteifdjrtften", 
unb ferner, fte jtnb audj nodj nidjt burdjgreifenb von bem grie» 
djifdicn <5eijle beftimmt. Sie gehören irjrem tr>efentlidjcn 3ttrjalte 
nad\ nodj ber erften, jübifdjen <£podje bes <£r?rijtentums an, jener 
fur3en <£pocr/e, bie toir als bie paläpntologifdje be3eidjnen fönnen. 
<£s ift eine ber banfenstoerteften Fügungen ber (ßefdjidfte, ba^ rotr 
noerj 33eridjte aus biefer Seit bejtfeen, wenn audj bie 5<*ffmtg unb 
Hicberfdjrift, rote fte in bem erften unb britten <£oangelium oor» 
liegt, fefunbär ftnb. Der eht3tgartigc Crjarafter ber (Eoangelien 
iji tjeute von ber Kritif allgemein anerfannt. Vov allem fyeben 
jte ftdf burdj bie 2lrt ber <£r3ärjlung oon aller nadjfolgenbcn Sdjrift« 
ftellerei ab. Dtefe litterarifdje <5attung, teils nadj Analogie ber 
jübtfcrten £er}rer»<£r3är|lungen, teils burdj bas fatedjetifdje 23e» 
bürfnis gehaltet, biefe fo einfache unb einbrucfspoHe 5orm ber 
Darftellung fonnte fcfjon nad\ einigen 3<rfP3*tinten nidjt mefyr rein 
rcprobu3iert roerben. Settbem bas <£t>angelium auf ben toeiten 
gried^ifdKÖmifdfen Boben übergetreten war, eignete es jtdj bie 
litterarifdjen 5ormen ber (Briefen an, unb man empfanb nun ben 
(Eoangeltenftil als ettoas 5rembes, aber (Erhabenes. £icgt bod? bie 
gried}tfd}e Sprache gleidjfam nur rote ein burcrjftcr/tigcr Schleier 
über biefen Sdjrtften, beren 3nfy*lt ftdj audj mit leidster tHürje 
in bas £}ebrätfcr/e ober 21ramätfd]c 3urüdübertragen läßt. Daß 



— 15 — 

toir fyer in ber fjauptfadje primäre Überlieferung r>or uns Ijaben 
ift unoerfennbar. 

XDic feji ber 5orm nadj biefe Überlieferung rx>ar, bas beseugt uns 
bas britte (Evangelium. (Es iji, rx>a^rfcf?einlidj in ber Seit Domitian's, 
von einem <Sriedjen gefdjrieben, unb in- bem 3t»eiten Ceile feines 
IDerfes, ber 2Jpoftelgefdiidite, — übrigens fcfyon in ber Porrebc 3um 
erften — betoeift er uns, ba$ ifym bie Südjcrfpradje feines Dolfes 
©ertraut a>ar, unb er ein vortrefflicher Stilift geroefen ift 2lber in 
ber eoangelifdien <£r3äljlung fyat er nic^t geroagt, ben ifym überlieferten 
(Typus 3U oerlaffen: er er3äfylt in ber Sprache, ber Safeperbinbung, 
bem Kolorit, ja in meiern Detail genau fo wie ZlTarcus nnb 
XTTattfyüus; nur bie gröbjten, bem gebilbeten (Befcfcmacf anflögigen 
ZDenbungen unb IDorte i>at er mit fdjonenber §anb forrigiert 
2tber nodj etwas ift uns in feinem (Eoangelium bemerfensroert: er 
pcrfldiert im (Eingang, ba$ er „allem genau" nachgegangen fei 
unb oiele Darjicllungen cingefefym fyabe. prüfen rx>ir ifyn aber 
auf feine Quellen, fo finben toir, ba% er ftd) Ijauptfädjlidi an bas 
ZHarcuseoangelium unb an eine Quelle, bie arir auefy im ZHattljäus- 
eoangelium aueber finben, gehalten fyat. Diefe beiben Schriften 
fdjienen ilnn, bem refpeftablen (Befdjiditfdireiber, als bie oorsüg- 
lidtften in ber ZHcnge ber übrigen. Das bietet eine gute <Scrt>ätjr 
für fie. Der Ijiftorifer E^at biefe Überlieferung burdj feine anbere 
3U erfefecn für möglich ober für nötig befunben. 

VLnb nod\ eines — biefe Überlieferung ift, abgefefjen oon ber 
Ceibcnsgefdjidjte, nafye3u ausfdjließlidi galiläifd). Wenn biefer 
geograpfyifcfye ^ori^ont nidjt roirflid} ber befyerrfdjenbe in ber <5e- 
fdjidjte ber öffentlichen ZDirffamfeit 3efu getoefen roäre, fyättc bie 
Überlieferung nidjt fo berichten fönnen; benn jebe jttlifterte (ße- 
fcfyicfrfser3äfylung Ejattc ifyn Ejauptfädjlicfi in 3cnifalem tfyätig fein 
laöen. So fjat audj bas oierte (Eoangelium er3äfylt. Daß unfre 
fei erften (Evangelien oon 3^wfalem faft gan3 abfegen, ern?edPt 
lin gutes Vorurteil für fie. 

Slllerbings, gemeffen mit bem ZTCaßftab ber „Übcreinftimmung, 
3nfpiration unb Dollftänbigfeit", laffen biefe Sdjrif ten fcfyr r>icl 3U 
tDÜnfcfyen übrig, unb audj nad\ einem menf dilidjeren ZHaßftab 
beurteilt, leiben fie an nidtf irenigen UnDoUfommenljeiten. §n?ar 
grobe (Eintragungen aus einer fpäteren Seit finben ftd} nidit — 
es xx>ixb immer bcnftxnirbig bleiben, bafc iriebcrum nur bas vierte 
<£r>angelium (Sriccfycn nadj 3*fus fragen läßt — , aber fyn unb \^/ 




. / 



— IG — 

!jer fpiegeln ftdj bodj audj in iBjnen bie Perfyältnijye ber ttrgemcinbe 
unb bie (Erfahrungen, bie fte in fpäterer Seit gemacht B^at. Dodj 
ijt man Bleute fdjneller mit foldjen Ausbeutungen bei ber JBjanb als 
nötig iji 5erner Bjat bte Öber3eugung, ba$ ftdf in ber <5efdjid)te 
3efu bie alttejlamentlidie &)eisfagung erfüllt Bjabe, trübenb auf bic 
Überlieferung geunrft €nblidj erfdjeint bas rounberbare Clement 
in manchen €r3äBjlungen offenbar geweigert ^Dagegen Bjat fidj bie 
Behauptung von Straug, bie <£oangelien enthielten feBjr xriel 
„ZnytBiifdies", nidjt bewahrheitet, felbft wenn man ben feBjr unbe« 
ftimmten unb fehlerhaften Segriff bes ZnytBiifdien, ben Straug in 
Antoenbung bringt, gelten lägt. 5ctjl nur in ber KinbBjeitsgefdiidjte, 
unb audj ba nur fpärlidj, lägt es ftdj nadjmeifen. Alle biefe Crü- 
bungen reichen nidjt bis in bas ^nnex^e ber Seridjte hinein; nidjt 
wenige von xfyxen forrigieren ftdj für ben Setradjtenben letdjt, 
teils burdj Pergleidjung ber €&angelien untereinanber, teils burdj 
bas gefunbe, an gefdjiditlidicm Stubium gereifte Urteil* 

Aber bas Wunbexbaxe, alle biefe ZPunberberidtfe! ZTtdtf nur 
Strauß, fonbern audj oiele anbere Bjaben jtdj burdj jte fo abfdjrecfen 
laffen, bag fte iBjretoegen bie (ßlaubroürbigfeit ber €oangelien runb 
©erneint Bjaben. XDieberum ift es ein groger 5ortfdjritt, ben bie 
gefdiidjtlidje tOiffcnfcftaft im legten ZlTenfdjenalter gemacht Bjat, bag 
fte jene ©öäfylungen oerjlänbnispoüer unb n?oB|ln>ottenber 3U beur- 
teilen gelernt Bjat unb bafyer audj IDunberberidjte als gefdjiditlidje 
Quellen 3U rr>ürbigen unb 3U t>eru?erten permag, 3^1 bin es 3fynen 
unb ber Sadie fdjulbig, bie Stellung, toeldje bie gefdjidjtlidje 
XDiffenfdjaft Bleute 3U jenen Berichten einnimmt, fur3 3U prä3ijteren. 

firjHidj, rxrir miffen, bag bie <£t>angelien aus einer Seit 
flammen, in welcher lüunber, man barf fagen, fajl etwas Alltäg- 
liches waren, ZlTan füllte unb faBj ftd) t>on lüunbern umgeben — 
feineswegs nur in ber Sphäre ber Heligion. lüir ftnb Bleute, ab» 
gefeBjen oon einigen Spiritijlen, gewohnt, bie ZDunberfrage aus- 
fdjlieglidj mit ber Heligionsfrage in 23e3ieBjung 3U fefeen. 3" 
jener Seit war es anbexs. Der Quellen, aus benen XDunber 
fprubelten, gab es oiele. ^}xgenb eine (SottBjeit würbe aüerbings 
wofyl bei jebem als wirffam vermutet — ber (Sott tBjut bas 
ZHirafel — ; aber nidjt 3U jcbem (Sott jtonb man in einem rcli- 
giöfen PerBjältnis* Den ftrengen Segriff femer, ben irrir mit bem 
IDorte XDunber oerbinben, fannte man bamals nodj ntdjt; erfl mit 
ber <£rfenntnis t>on XTaturgefefeen unb ifyrer ©eltung Bjat er ftdj 



— 17 — 

etngejleltl. Bis bafyin gab es feine fixere fiinftdjt in bas, was 
tnöglidj unb unmöglich, was Hegel vmb was Slusnafyme fei. VOo 
darüber aber Unflarfyeit Ejerrf iit, Qe$w. wo biefe 5*age überhaupt 
«od? nidjt fdjarf gebellt wirb, ba giebt es feine ZDunber im ftrengen 
Sinn bes IPorts. €ine 2)urdibredjung bes ZTatursufammentjangs 
fann von niemanbem empfunben werben, ber nodj nicfyt weiß, was 
ZIatur3ufammen^ang iß. So fonnten bie ZHirafel für jene Seit 
gar mdjt bie Sebeutung l\aben, bie fte für uns Ratten, wenn es 
weldje gäbe. • 5ür ftc waren alle ZDunber eigentlich nur außer- 
orbentltdje Creigniffe, nnb bilbeten fie audj eine ZPelt für ftdj, fo 
flanb es eben feft, ba% biefe anberc ZDelt an un3ätjltgen Stellen in 
$ie unfrige ge^eimnispoD eingreift. Zlxdit nur (Böttcrboten, fonbem 
audj ZHagier nnb (Etjarlatane befyerrfdjen einen tCeil ber wunber- 
Baren Kräfte. XDeldje Sebeutung „Wvmbettitaten" fyaben, war 
&atjer eine Kontrooerfe, bie nie 3ur Hutje fam: balb wertete man 
fie feijr fyodj unb oerfnüpfte fte audj mit bem Kern ber Hcligion, 
Balb fpradj man geringfdjäfeig von ifyten. 

Zweitens, wir wiffen jefet, ba% von ijeroorragenben perfonen 
tOunber berichtet worben ftnb nidjt erji lange nadj iijrem tCobe, 
<mdj nidjt erß nadi mehreren 3afyren, fonbern fofort, oft fdjon am 
näd#en tEage. Berichte lebiglid) bestjalb als gan3 unbrauchbar 3U 
verwerfen ober in eine fpätere Seit 3U rücfen, weil fte audj lüunber- 
«r3ätjlungen enthalten, entfpringt einem Vorurteil. 

drittens, wir ftnb ber unerfdjütterlidjen Überseugung, t>a$ r 
was in Ziaum unb Seit gefdiiefyt, ben allgemeinen (ßefefeen ber 
Bewegung unterliegt, ba% es alfo in biefem Sinn, b. % als 3)urdj- 
Brechung bes XTatwsufammenfyangs, feine ZDunber geben fann* 
2lber wir erfennen andi, ba% ber religiöfe ZlTenfdi — wenn xfyx 
wirflidj bie Heligion burcfybringt unb er nidjt nur an bie Heligion 
anberer glaubt — , beffen gewiß ijl, ba% er nic^t eingefdjloffen ift 
in einen blinben unb brutalen Ztaturlauf, fonbern ba$ biefer ZTatur* 
lauf leeren gweefen bient, 6e3W. ba% man ifym burdj eine innere, 
göttliche Kraft fo 3U begegnen" permag, ba$ „alles 3um Seften 
dienen muß". Q'\e\e €rfafyrung — idj mödjte fte in bas lüort 
3ufammenf äffen: wir fönnen frei werben x>on ber TXladit unb x>om 
Dienft bes pergänglidjen lüefens — wirb an ben einseinen <£rleb- 
niffen immer wieber wie ein XDunber empfunben werben; fte ifi 
t>on jeber ijöfyeren Heligion unabtrennltcfy: biefe würbe 3ufammen-' 
flutten , xvenn fte fte aufgäbe. 3cne (Erfahrung gilt aber ebenfo 

Qaxnad, Das XDefen bes Ctpißentams. 2 



— 18 — 

für bas Ccbcn bes cirt3clnen wie für bcn großen (Bang ber ZHcnfdi- 
fycitsgcfdiidtfc. IDie jfreng unb flar muß aber bann bas Dcnfcn 
eines rcligiöfen ZTCcnfdicn fein, roenn er troftbem an ber <£rfenntnis 
ber UnDcrbrüdilidjfcit bes raum3eitltd7cn <5cfdieljcns fcftfyältl lüer 
fann ftdj rxmnbern, ba% fclbjt tjo^c (Seiftcr bic (Scbictc nidjt rein 
3u fd>eibcn vermögen? Unb ba xx>iv alle in erfter £inie nidjt in 
Segriffen, fonbern in 2lnfd}auungcn leben unb in einer Silber- 
fpracfye — rt>ie läßt es fidj Dcrmciben, baß roir bas <5öttlidje unb 
bas t was 3ur 5rcifycit füfyrt, auffaffen als eine mächtige Kraft, bie 
in ben Hatursufammcn^ang eingreift, ifyn burdjbridjt ober aufgebt? 
2)iefe Dorftcllung, 'obgleich ftc nur ber pfyantafic angehört unb bilb- 
lidj ift, rr>irb, fo fdjeint es, bleiben, fo lauge es Hcligion giebt. 

Picrtens cnblid}, ber ZIatur3ufammcnl}ang ift unDcrbrüdjüdj; 
aber bic Kräfte, bie in ifym tijätig finb unb mit anberen Kräften 
in IE>cdtfola>irFung ftcfyen, fennen roir längft nodj nidjt alle» XDir 
fennen nodj \üd]t einmal bie materiellen Kräfte lücfenlos unb bcn 
Spielraum ifyrcr IDirfungcn; ir>ir roiffcn aber nodj x>iel roeniger 
x>on bcn pfcd\\\dicn Kräften. XDir fcfyen, ba$ ein fefter lEttHe unb 
ein über3cugtcr (51aubc eimx>irfcn audj auf bas leibliche £eben unb 
(Erfdjeinungen fycnx>rruf cn , bie uns rt>ie lüunber anmuten» XDcv 
fyxt fyev bisher ben Scrcid? bes ZHöglidjen unb tDirflidjcn fidler 
abgemeffen? ZTiemanb. IDcr fann fagen, n?ie rocit bie <£intr>ir- 
hingen ber Seele auf bie Seele unb ber Seele auf ben Körper 
reichen? Xttemanb. IDer barf nodj behaupten, baß all bas, uxts 
auf biefem <5cbiete (an 21uffallcnbem 3U Cage trity nur auf Cäu- 
fdjung unb 3rrtum oeru^t ? <5cn>iß, es gcfdjeijen feine XDunber, 
aber bes lüunberbaren unb ttnerflärlidjen giebt es genug. IDeil 
roir bas Ijeuie tsiffen, finb tsir audj r>orfidjtiger unb im Urteil 
3urücffyaltenber geworben gegenüber IDunbcrberidjten aus bem 
Altertum. 2)aß bie €rbe in ifyrcm Cauf je fülle geftanben, ba% 
eine vgfclin gefprodjen Ijat, ein Seefturm burdj ein ZDort gcftillt 
tsorbeu ift, glauben roir nidtf unb werben es nie roieber glauben; 
aber ba^ £afyme gingen, Slinbe fa^en unb Caubc hörten, roerben 
xx>iv nidjt luvtet £}anb als 3üufion abtoeifen. 

2lus biefen 21nbeutungen mögen Sic felbft bie richtige Stcl* 
lung 3U ben cr>angelifd]cn H)unbcrbcrid}tcn cnttxricfcln unb bas 
5acit 3icfyen. 3m ein3clnen, b. fy bei ber 2liu»enbung auf bie 
fonfreten I£>unbcrcr3äl}lungcn, roirb immer eine gcanffc Unfidierfyeit 
nadjblcibcn, Sooicl id] feEje, laffen fid] i^icr folgenbe (Sruppen 



— 19 — 

bilbcn: \. IPunberbcridjte, bie aus Steigerungen natürlicher, ein- 
brucfsroHer Porgänge entffanben fmb, 2. XDunberbcridjtc, btc aus 
Heben unb ©leidjniffen ober aus ber projeftion innerer Porgänge 
in bie 21ufcenn>elt entftanben fmb, 3. fold^e, bie bem 3ntereffc, alt- 
tejtomentlidje 23cridite erfüllt su feigen, entftammt finb, ^. r>on ber 
geiftigen Kraft 3*fu gennrfte, überrafdjenbc Teilungen, 5. ttnburdj- 
bringlidjes. Scfyr beadjtcnsroert iß es aber, ba% ^}e\us felbß auf 
feine IDunbcrttjatcn nidjt bas entfdjeibenbe Cßeroic^t gelegt Ijat, 
rocldjes fdjon ber €pangelifl ZlTarcus unb bie anbeten alle ifynen 
beilegen* Fiat er bodj flagenb unb anflagenb ausgerufen: „Wenn itjr 
nidtf geilen unb XPunber fefy, fo glaubt ifyr nidjt!" Qotj. 4/^8.) 
XDer biefc XDorte gefprodjen fyat, fann nidjt ber ZTCeinung geroefen 
fein, ber (ßlaube an feine IPunber fei bie redete ober gar bie einige 
23rücfc 3ur Slnerfennung feiner perfon unb feiner ZHiffton; er mufc 
r>ielmcl?r über fic u>cfcntlidj anbers gebadet §aben als feine <£van* 
geltffcn. VLnb bie merftoürbige töjatfadie, bie eben biefc <£r>an- 
geitften, ofyne ifjre Cragmeitc 3U toürbigen, überliefert fyaben, 3*fus 
fyabe in ZTa3aretfj besljalb fein XPunber ttjun fönnen, toeil-bie 
Ceute bort ungläubig n?aren, 3eigt nod} t>on einer anbeten Sexte 
fyet, wie porfidjlig tr>ir bie H)unberer3ä^lungen auf3unefymen unb 
in rr>eldje Sphäre roir fie 3U rücfcn fyaben. 

€s folgt aus altebem, ba% xoit uns nidjt hinter bie er>an- 
gclifdjcn ZDunbcrbcrid^te t>erf dja^en bürfen, um bem (Evangelium 
3u entfliegen. Crofe jener <£r3äi)lungcn, ja 3um tEeil audj in ifyncn 
tritt uns fyiet eine XDirflidjfeit entgegen, bie auf unfere tEeilnafyme 
SInfprud? ergebt 1 Stubieren Sie fie unb laffen Sic ftdj nidjt ab* 
fdfreefen burd) biefe ober jene ZPunbergefdiidjte, bie Sie fremb unb 
froftig berührt. IPas ^nen In'er unt>erftänblidi ift, bas fdjiebcn 
Sie rufyig beifeite. Pieüeidjt muffen Sie es für immer unbeachtet 
laffen, t>ielletdft geljt es 3*)nen fpäter in einer ungeahnten 3ebeu- 
tung auf. Zlod\ einmal fei es" gefagt: laffen Sie ftdj nidjt ab* 
fdjrccfcn! Die IPunbcrfrage ift etoas relativ (Bleidjgültiges gegen- 
über allem anbeten, roas in ben (Evangelien fteljt. ZTidjt um 
XHirafel fyanbclt es ftdj, fonbern um bie entfd?eibenbe 5rage, ob roir 
hilflos eingefpannt jtnb in eine unerbittliche ZTotoenbigfcit, ober ob 
es einen (Sott giebt, ber im Hegimente fifet unb beffen natur- 
bc3ix>ingenbe Kraft erbeten unb erlebt roerben fann. 

Unfere (Evangelien cr5äfylen uns befanntlidj feine (Entrvicf lungs- 

2* 



— 20 — 

gefdjidjte 3cfu; jte berichten nur von feiner öffentlichen tDirffam« 
feit. g>xoe\ £pangelien enthalten allerdings eine Porgcfdjidjte (<5c« 
burtsgefdjidjte), aber urir dürfen jte unbeachtet laffen; benn felbft 
u>enn jte ©laubnmrbigeres enthielte als fte urirflidj enthält, toäre 
fte für unfere &xx>e& e fo gut ir>ie bedeutungslos. Die €pangeliften 
felbft nämlidj rr>eifen niemals auf jte 3urücf ober laffen 3cfum felbft 
jtdj auf jene Porgänge surücfbcsieljen. 3m (Segenteil — jte er« 
Säulen, ba% bie ZTCutter unb <5efd)tr>ijter 3efu r>on feinem auftreten 
völlig überrafdjt geroefen feien unb jtdj nidjt in basfelbe su ftnben 
t>ermodit Ijaben. 21udj paulus fd>rx>eigt, fo bajj tr>ir gewiß fein 
fönnen, bajj bie älteftc Überlieferung bie (Beburtsgefdjidjten nidjt 
gefannt Ejat. 

XDir totffen nichts t>on ber <5efd}idite 3*fa in öen erjten breigig 
3afyren feines Gebens. 3ji bas nidft eine fdjrecflidje Ungewißheit? 
Was bleibt uns, trenn rr>ir unfere Aufgabe mit bem <£ingejtänbnis 
beginnen muffen, ba% tr>ir fein £ebcn 3efu 3U f einreiben vermögen ? 
Wie fönnen nur aber bie (Sefdjtdjte eines ZTCannes fdjretben, pon 
beffen (Entmicfelung urir gar nidjts triff en, unb t>on beffen Ceben 
uns nur ein ober 3tx>ei ^}a^xe befannt ftnb? ZTttn, fo geunjs unfre 
Quellen für eine „öiograpfyie" nidjt ausreichen, fo inhaltsreich finb 
jte bodj in anberer Besicfyung, unb audj tfjr Sdjtoeigcn über bie 
erjien breißig 3&k*t Ic^rt uns etn?as. ^}ntialtsveidi fwib fte/ w>«U 
jte uns über brei rr>id?tige punfte ^luffdiluß geben; benn fie bieten 
uns crjilid) ein anfdjaulidjes 3ilb oon ber prebigt 3efu, 
forooljl in JEjinfidjt ber <Brunb3Üge als ber 2lntr>enbung 
im ein3clnen; fie berichten 3u>citens ben Ausgang feines 
Gehens im Dienjle feines Berufs, unb fie fdjilbcm nns 
brittens ben €inbrudP, ben er auf feine 3ünger gemacht 
ijat, unb ben fie fortgepflan3t fyaben. 

Z>as jtnb in ber Cfyat brei bebeutenbc, ja es ftnb bte ent« 
f djeiben ben punfte. ZDeil urir fn'er flar feljen, iji es möglich, ein 
(Efyarafterbilb 3efa 3U 3eidnaen ober — befdjetbener gefprodjen: ber 
Perfudj ijl nidjt ausjtdjtslos, 3U erfennen, n?as er gewollt fyat, toie 
er gewefen ift unb was er uns bebeutet. 

XDas aber jene breißig 3afyre bes Schweigens betrifft, fo ent* 
nehmen tr>ir unferen <£oangelicn, ba% ^}e\ns nidjt für notig befunben 
l\at, feinen 3üngem barüber etu>as mtt3uteilen. 21ber negattp x>er« 
mögen wir Ijier bodj manches 3U fagen. (Erftlidf, es ift fefyr un« 
wafyrfdjeinlidj, ba% er burdj bie Sdjulen ber Habbinen gegangen 



— 21 — 

ifl; nirgenbtüo fpridjt er tx>ie einer, ber jtdj tec^rttfcft«t^eoIogtfd)e 
Bilbung unb bie Kunft gelehrter €jegefe angeeignet E^at. ZVie 
beutlidj erfennt man bagegen aus ben Briefen bes 21poftels paulus, 
ba% er 3U ben 5üßen tljeologifdier £efyrer gefeffen! Bei 3efas finben 
roir nichts Neroon, es machte ba^er 2luffeljen, ba% er überhaupt 
in ben Sdjulen auftrat unb lehrte* 3n ber ^eiligen Sdjrift lebte 
unb n?ebte er, aber nidjt tvxe ein berufsmäßiger Cefjrer* 

5erner, 3U ben (Ejfenern, einem merfroürbigen jübifdjen 2Xlond}s* 
orben, fann er feine Bc5ieljungen gehabt t(aben. JEjätte er ja roeldie 
befeffen, fo roäre er einer jener Sdjüler geu>efcn, bie bie Slbljängig- 
Zeit oon itjren ZlTeijtem baburdi bewähren, ba% fie bas (ßegenteil 
von bem oerfünbigen unb tfyun, toas fie gelernt l\aben. Die 
offener gelten auf gefefelidje Heinljeit bis 3um Sußerjten unb 
fdjloffen jtdj fhrenge nidjt nur gegen bie Unreinen, fonbern aud) 
gegen bie Saferen ab. ^fyce peinliche 2lbfonberung, bas ZVofynen 
in beftimmten ©rtfdjaften, iljre täglichen 3afylreidjen Züafdfungen 
laffen fref^ nur von fyier aus r>erj!eljen. Sei 3efus finben roir ben 
voüen (Segenfafe 3U biefer £ebensu>eife: er fudjt bie Sünber auf nnb 
ißt mit ifynen. Sdjon biefer funbamentale Unterfdjieb madjt es 
ftdjer, ba% er ben €jfenern gan3 fern gcjlanbeu B^at 3n ben 
fielen unb ZTCitteln ift er von ifynen gefcfyieben* Wenn* er in 
manchen <£in3elanu>eifungen an feine 3ünger mit tfjnen 3ufammen* 
3utreffen fdjeint, fo ftnb bas 3uf affige Berührungen; benn bie ZHo* 
tioe roaren pöHig anbere* 

IVeiter, rx>enn nidjt alles trügt, liegen hinter ber uns offen- 
baren geh bes £ebens 3cfu feine gewaltigen Krifen unb Stürme, 
fein Brudj mit feiner Vergangenheit Hirgenbroo in feinen Sprüchen 
unb Heben, mag er broljen unb jfrafen ober freunblidj locfen unb 
rufen, mag er oon feinem Verhältnis 3um Pater ober 3ur lüelt 
fpredjcn, bemerft man überjkmbene innere Umu>äl3ungen ober bie 
Karben eines furchtbaren Kampfes» IVie felbjtoerfiänblid}, als 
fönnte es nidjt anbexs fein, fhrömt alles bei \fyn fyerpor — fo 
bricht ber (Quell aus ben Cicfen ber <£rbc, flar unb ungehemmt. 
Ztun 3eige man uns ben ZlTenfdien, ber mit breißig 3al)ren fo 
fpredjen fann, roenn er fyeiße Kämpfe hinter ftdj fyat, Scelcnfämpfc, 
in benen er fdjließlidj bas r>erbrannt fyat, was er einft angebetet, 
nnb bas angebetet, rr>as er Derbrannt Ijat! Klan 3eige uns ben 
ZHenfdjen, ber mit feiner Vergangenheit gebrochen $at, um bann 
audi bie anbeten 3ur Buße 5U rufen, ber aber babei pon feiner 

< 



— 22 — 

eigenen Süße niemals fpridjt! T)iefe Beobachtung fdjließt es aus, 
ba% fein Ceben in inneren Konträren ©erlaufen iß, mag es auefy an 
tiefen Belegungen, an Perfudjungen unb gtpeifeln nidjt gefehlt 
ijaben. 

(Entließ nodj «nes — &<*s Ccbensbilb unb bie Heben 3cfu 
3eigen fein Dertjältnis sum (Sriedjcntum, 5<*ft muß man ftdj barüber 
rounbern; benn (Saliläa roar r>oll von (Briedjen, unb griedjifdj tourbe 
bamals in oielen feiner Stäbte gefprodjen, ettoa rrue fyute in 5inn* 
lanb fcfyiDebifdf, (Sriedjifdie Cefyrer unb pljilofopljen gab es bafelbjl, 
unb es ift faum benfbar, ba% 3efus ifyrer Sprache gan3 unfunbig 
geroefen tji. 2lber ba% er trgenbune von ifynen beeinflußt trorben, 
ba% bie (Spanien plato's ober ber Stoa, fei es audj nur in irgenb 
tDeldjcr populären Umbilbung, an itjn gefommen ftnb, läßt fid) 
fdjlcdjterbings nidjt behaupten. 5reilic^, roenn ber religiöfe 3nbi« 
©ibualismus, (Sott unb bie Seele, bie Seele unb iljr (ßott, roenn 
ber Subjeftioismus, trenn bie oolle Selbjtoerantoortlidjfeit bes 
einseinen, trenn bie £oslöfung bes Heligiöfen x>on bem politifdjen — 
tr>enn bas alles nur griedjifd} i% bann fteljt and\ 3*f us w bem 
5ufammenf)ang ber griedjifdjen (Enttoicflung, bann tjat aud? er 
reine griedjifdje Cuft geatmet unb aus ben ©ucllen ber (Sriedjen 
getrunfen. 2Iber es läßt jtdj nidjt nad}tx>eifen, ba% nur auf btefer 
£inie, nur im Polfc ber £jcHenen, biefe (EntroicFlung jktttgefunben 
ijat; bas <5egenteil läßt fidj oielmeljr seigen: audj anbere Stationen 
finb 3U äfynlid?en €rfenntniffen unb Stimmungen fortgefdjritten — 
fortgefdjritten aüerbings in ber Hegel erjt, nad\bcm 2lle£anber ber 
(Sroße bie Sdjlagbäumc unb Sänne, u>eldjc bie Dölfcr trennten, 
nicbergerijfen fyatte. Das griedjifdje (Element ift geu?iß in ber 
2Tüef}r3al}l ber Säue ber befreienbe unb förbembe 5<*?tor audj für 
fte getsefen* 2Iber id) glaube nidjt, ba% ber pfalmijt, ber bie 
IDorte gefprodjen l\at: ,,^err, roenn idj nur Dxdi tiabe, frage id| 
nidjt nadj Fimmel unb (Erbe" — je ettoas r>on So!ratcs ober oon 
plato gehört iiat 

(ßenug, aus bem Sdjrocigen über bie breißig erften 3 a fc* 
3*fu unb aus bem, was bie (Evangelien oon ber &e\t feiner Berufs« 
roirffamfeit ntdjt berichten, läßt ftdj IDidjtiges lernen* 

€r lebte in ber Heligion, unb fte roar iEjm Climen in ber 
5urdjt (5ottes; fein gan3es feben, all fein 5ül)len unb ©enfen, toar 
in bas Perfyältnis 3U (Sott aufgenommen, unb bod] — er fyat niefy 



— 23 — 

gef prodjen n>ie cht Sdjroärmer unb Janatifer, ber nur einen rot- 
glühenden punft peljt unb bem bie XDelt unb alles, mos in ifyr 
ift, bes^alb ücrfdjroinbet £r fyat feine predigten gefprodjen unb 
in bie ZDclt geflaut mit bem frtfdjen unb gellen 2luge für bas 
große unb Heine Ccben, bas ifyt umgab. €r t>crfünbigte, ba^ ber 
<5ctoinn ber gan3en ZPelt nichts bebevde, wenn bie Seele Schaben 
nafyne, unb er ift bodj Ijersüdi unb teilnefymenb geblieben für aücs 
Cebenbige. Das ift bas <£rftaunlid)fie unb (Srößtc! Seine Hebe, 
gewofytlid} in (ßleidjnijfe unb Sprudle gefaßt, 3eigt alle (Srabe 
menfdftidier Hebe unb bie gan3e Stufenleiter ber Slffeftc* Die 
fjärteften tEöne leibenfdjaftlidjer SlnHage unb 3ornigen (ßertdjts, ja 
felbf* bie ^onxe, t>erfdjmä^t er nidtf; aber fte muffen bodj bie 
Slusnatjme gebilbet traben. (Eine ftille, gleichmäßige Sammlung, 
alles auf e i n gicl gerichtet, beljerrf dtf ilpu 3« ber €f ftofe fpridtf 
er niemals, unb ben (Eon aufgeregter propfyctcnrebe finbet man 
feiten. ZJlit ber größten ZHiffton betraut, bleibt fein 21uge unb <D\\x 
für jcben (Einbrucf bes £cbens um ifjn offen — ein Beweis inten- 
jtDcr Hulje unb gefdjloffencr Sidicrljeit ' „(Trauern unb IPeinen, 
Cadjen unb JBjüpfen, Heidjtum unb 21rmut, junger unb Surft, <5e- 
funbfyeit unb Kranffjeit, Kinberfpiel unb politif, Sammeln unb &ex* 
freuen, 2lbreife r>om Ijaus, Verberge unb JjcimFetjr, l^odtfeit unb 
Cotentraucr, ber £u£usbau ber £ef?cnbcn unb bas (5rabmal bes 
Coten, ber Säcmann unb ber Sdjnittcr auf bem 5elbe, ber £Din3er 
in ben Heben, bie müßigen Arbeiter auf ben ZTTärften, ber fudjenbc 
fjirt auf bem 5clbc, ber perlen banbelnbe Kaufmann auf ber See 
unb roieber bafyehp, bie Sorge bes ZPeibes um IDei3enmef}l unb 
Sauerteig ober um eine verlorene 2>radjme, bie Klage ber Witvoe 
vor bem mürrifdjen Amtmann, bie irbifdje Speife unb ifyr Der- 
geljen, bas geiftige Derfyältnis oon £efyrcr unb Schüler; Ejier Königs- 
glan3 unb X}crrfä)fudjt ber ZTCadjtfyaber, bort Kinbesunfcftulb unb ' 

2>ienerfleiß — all biefe Silber beleben feine Heben unb madjen 
fte anfdjaulidj audj für Kinber am (Seift." Sic fagen meljr als 
nur bics, ba% er in Silbern unb (Sleidjniffen gefprodjen Ijat. Sie 
3eigcn eine innere 5retfyeit unb ^eiterfeit ber Seele inmitten ber i 

Ijödjften Slnfpannung, roie fie fein prop^et por ifym befeffen li<xt. 
Sein 2(uge rocilt frcunblidj auf ben Slumen unb Kinbcrn, auf ber 
Cilie bes Selbes — Salomo in aller feiner pradtf tft nid)t alfo 
befleibct . geu>efen — auf ben Dögeln unter bem Üjimmel unb ben 
Sperlingen auf bem Qadi. Das Übcru>cltlid]e, in bem er lebte, j 




— 24 — 

• 

Serftörte ifyn biefe Welt nidjt; nein, alles in \fyc besog er auf ben 
(Sott, ben er fannte, unb fafy es in ifym gefdjüfet unb bewahrt: 
„<£uer Pater im ^immel ernährt fte," Sie (Sleid^nisrebe ijl iljm 
bie vertrautere. Unmerflidj aber ge^en <5leid)nis unb (teilnähme 
meinanber üben <£r, ber nidjt \\aitz, ba er fein ^aupt Einlegte, 
fpridjt bodj nidjt rote einer, ber mit allem gebrochen fyat, nidjt toie 
ein Ijeroifdjer Süßer, nidjt roie ein efjiatifdjer propfyet, fonbern 
roie ein Vflann, ber Hufye unb triebe Bjat für feine Seele, unb ber 
anbere 3U erquiefen oermag. €r f djlägt bie geroaltigften One an; 
er Pellt bm ZHenf djen t>or eine unerbittliche <£ntfdjeibung; er läßt 
xfyn feinen 21ustoeg, unb roieberum — bas firfdjüttembjte ijt ifym 
wie f elbitoerftflu frlid?, unb er fpridjt es rote bas Selbftoerftänbfidie 
aus; er t leibet es in bie Sprache, in ber eine ZlTutter 3U ifyrem 
Kinbe fpridjt« 



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Brtffe ©JorlBJimg* 



tDir I^aben in ber porigen Porlefung r>on unferen <£t>angelien 
gefprodjen unb von intern Sd}rx>eigcn über bie Cntroicflung 3efiu 
H)ir fyaben baran eine furse (EEjarafteriftif ber prebigtoeife 3efu 
angefdjloffen. IDir fafyen, er h(at toie ein proptjet gefprodjen, unb 
bodj nidjt roie ein propijet. 5riebe, 5^eubigfeit nnb <6en?if$eit 
atmen feine IDorte. <£r brängt auf Kampf unb fintfcfyeibung — 
„VOo bein Schafe iß, ba tft bein £jer3" — , unb bodj erfcfyemt alles 
in bem ruhigen (Sleidjmafj ber <5Ieidjniffe: unter ber Sonne (Bottes -n 
unb bfem Cau bes £jimmels foll alles roadifen unb roerben bis / 
3ur Crnte, €r lebte in bzxn freien Beroußtfein ber <5ottesnät}e* 
Seine Speife mar, bm XDiUen (5ottes 3U tfjun. 2Iber — unb bas 
fdjien uns bas (Srößte unb bas Siegel feiner inneren 5rett}eit — 
er fyat nidjt toie ein fyeroifdjer Sü§er gefprodjen ober rote ein 
2tsfet, ber bie l£>elt von ftdi gebogen tjat. Sein 2Iuge ru^te freunb- 
lidj auf allem (Erfcfyeinenben, unb er faif es, rote es ftdj giebt, in 
feinen bunten unb roecfyfelnben 5arben. €r abelte es in feinen 
parabeln; er fcfyaute fynburdj burdj ben Schleier bes 3rbifd?en unb 
ernannte überall bie fyanb bes lebenbigen (Softes, 

2lls er auftrat, roar ein anberer oor ifjm bereits am ZPerfe 
im jübifcfyen Polfe: ^ol\anncs ber Cäufcr. 2In ben Ufern bes 
3orban mar in roenigen ZTTonaten eine große Beilegung ent^tanben. 
Sic roar gau3 rerfcfyteben oon jenen mefftanifdjen öeroegungen, bie 
bereits feit mehreren Generationen ftoßroeifc bas Volt in Altern 
gehalten Ratten. g>xx>ax and} biefer {Läufer oerfünbigte: „Das Heidi 
(5ottcs ift nal\c", unb bas fycjj nichts anbexes als ber tEag bes . 



— 26 — 

fjerrn, bas (Sericfjt, bas &nbe fommt nun* 2Iber 3ofya™es fünbete 
biefen tCag nicrtt an als einen (Scricfytstag, an roeldjem (Sott enb* 
lief? bie Vergeltung über bie fjeibenroelt bringen unb fein eigenes 
Volt ersöffen roerbe, fonbern er propfye3eite irjn als ben (ßeridjts« 
tag für eben biefes Pol!* „IDer rjat eud) gciriefen, ba§ irjr bem 
5ufünftigen gorn entrinnen roerbet? Dcnfet nur nicr/t, ba% xfyc bei 
eudj rooUt fagen: lüir fyaben 2lbraljam 3um Dater, 3d? fage euer?: 
<5ott ©ermag bem 2lbrafyam aus biefen Steinen Kinber su errocefen. 
€s ifl fdjon bie 2l£t ben Räumen an bie ZDur3el gelegt" Zticr/t 
bie SlbraEjamsfmbfcrjaft fonbern recr/tferjaffene XDerfe geben ben 
Slusfdjlag im (Bericht f' Unb er felbft, ber prebiger, fjat mit ber 
Buße begonnen unb ir/r fein Geben gemeint: in einemKleibe r>on 
Kamelsfyaaren ftefyt er r>or ifytcu unb feine XTafyrung finb fjeu- 
fdjrecfen unb roilber ^onig/J 2lber listeten 3U . roerben, barinnen 
jierjt er feine Aufgabe nicfjt ober minbeftens ' nierjt t>ornertmlidj. 
2In bas gan^e Volt, wie es fidj in Beruf, ^anbel unb XDanbel 
beroegt, richtet er fidj unb forbert es 3ur Buße auf. £s fdjeinen 
fefyr einfache ZDar/rr/eiten 3U fein, bie er xfyn 3U fagen fyat: ben 
Zöllnern fagt er: „Norbert nidjt merjr, als gefefet ift"; ben Königs- 
leuten: „tEfyut niemanb (Setoalt nodj Unrecf/t unb laßt eudj begnügen 
an eurem Solbe"; ben IDortlrjabenben: /; Ceilt oon eurer Speifc 
mit"; allen: „Pergcffet bie Firmen nierjt". Das ift bie Betätigung 
$cr Buße, 3U roeldjer er aufruft, nnb fie enthält bie Sinnesäuberung, 
roelcfje er meint Zticfjt um einen einmaligen litt fyanbelt es fid), 
fcie Sußtaufe, fonbern um ein recfr/tfcrjaffcncs Heben im fjinblicf auf 
<5ottes ocrgeltenbe (Serecrftigfcit Von Zeremonien, Opfern unb 
<Sefefeesroerf en fyat 3orjannes nidjt gefprodjen ; augenfcfyeinlidj legte 
er auf fie fein (Seroidjt Die <5efmnung unb bas jittlidje tOjun 
finb allein entfdjeibenb, 2tm (Sericfr/tstage richtet ber (5ott 2lbral?am's 
nadj biefem ZHaßftabe. 

£affen Sic uns fyer einen 2lugenblicf fülle galten. <£s brängen 
fid? an biefer Stelle fragen auf, bie fcfjon oft beantroortet roorben 
finb unb bodj immer ixricber aufgeworfen roerben, Deutlid? ift, 
fcaß ber {Läufer bie Souoeränetät (ßottes unb feines ^eiligen Sitten« 
<jefefees oerfünbigt rjat Klar ift audj, ba% er feinen Dolfsgenoffen 
3ugerufen fyat: bas ZHaßgebenbe, bas allein fintfef/eibenbe ift bas 
Sittliche: irjr bürft feine größere Sorge fyaben als bie Sorge nm 
euere innere Derfaffung unb euer fittlidjes CPfun. Klar ift enblid?, 
$aß nichts Raffiniertes ober Künftlid^cs in feinem Begriff r>om 



— 27 — 

Sittlichen enthalten ijfc er meint bie gemeine ZTToraL 2lber fyer 
ergeben fid} nun bie ureigen. 

(Erftlidj: Wenn es fidj um etwas fo (Einfaches fyanbelte, um 
bas ctoige Hcdjt bes ^eiligen, roarum biefer gan3e Apparat von 
bem Kommen bes <5crid}tstages, von ber 2l£t an ben Wnv^dn ber 
23dume, oon bem 5euer, bas i>er3ei}ren unrb, unb bgl.? 

Streitens: 3ft biefe Bugtaufe in ber XDüfte unb biefe prebigt 
x>om Kommen bes (Scridjts nidjt einfad} Bcflej ober probuft ber 
polittfdjen unb fo3ialen Suftdnbc, in benen ftcf^ bas Dolf bamals 
befanb? 

drittens: Was enthält benn biefe Perfünbigung überhaupt 
Heues, tr>as nicfyt im 3ubentum fdjon früher ausgefprodjen roorben 
todre? 

3)iefe brei 5^9^" Rängen aufs innigfte unter fid? sufammen, 

guuädjft alfo biefer ganse bramatifdvesdjatologifdje Apparat: 
bas Heidj (ßottes fommt, bas <£nbe ift naty, u. f. rx>. Zlun, jebe / 
ernfte, aus ber Ciefe bes (Erlebten rquiüenbejfjimücifung auf (Sott ' 
unb bas ^eilige — fei ts im Sinne ber (Erlöfung, fei es in bem 
v>cs (Scripts — fyat, fotocit u>ir bie (Sefdjidjte fennen, ftets bie 
5orm angenommen, ba% bas &nbe nab(e fei, lOie ift bas 3U er- 
fldrcn? Die 2Inta>ort iß nidjt fdjroierig. Sie Hcligion ift nidjt 
nur ein £eben in unb mit <5ott, fonbeni audj, eben n?eil fxc bies 
iß, bie (Enthüllung bes Sinns unb ber Perantoortlidtfeit bes £ebens, 
£Dem fie aufgegangen i\t, ber finbet, ba$ ofmc fic umfonfl nadt 
fciefem Sinn gcfudjt urirb, ba$ ber eiserne foroofyl wie bie <Se« 
famtfycit 3iellos iranbelt unb ftür3t „Sie gcfjen alle in ber 3rre; 
ein jeglidjer ftcfyt auf feinen Weg." Der propfyet aber, ber <5ottes 
tnnc geworben iji, erfennt mit SdjredPen unb 2lngji biefes allge- 
meine 3*ren unb bie allgemeine Derroafyrlofung. (Es gefyt xfyn 
wie einem H)anberer, ber feine (Senoffen blinb einem 2lbgrunb 
3ueilen fiefyt unb fie um jcben pretef 3urücfrufen wiVL (Es ift bie 
fyödjfte §eit — nodj fann er jte roamen; nodj fann er fie be- 
fdju>ören: „Kehret um"; aber tnelleidjt fdjon in ber nddjfien Stunbe 
ift alles Derloren. (Es ift bie fyödtfte Seit, es ift bie Iefttc §eit — 
in biefen Huf fyat fid] babier bei allen Dölfern unb in allen (Epochen 
bie energifcfye ZTCafyming '31U: Umfcbr gcfleibct, wenn fynen roieber 
einmal ein propfyet gefdjenft roar. Der propfyet burdjfcfyaut bie 
<5efd]id}te, er ftcfyt bas unmiberruflidje <£nbe, unb er ift erfüllt oon 
gren3enlofcm Staunen barüber, ba$ bei ber (Sottlofigfeit unb Slinb- 



— 28 — 

tjeit, bem Ceidjtßnn unb ber Crdg^ett nid?t fdjon alles längj! 3U* 
fammengcßür3t unb pernidjtet ijt Sag überhaupt nodj eine Spanne 
übrig ifi, in ber bie UmfeBjr möglich, tj* ifym bas größte ZDunber: 
nur ber Cangmut (ßottes ift es 311 x>erbanfen. 2Iber geu>i§ iß, bas 
&nbe Fann nidjt lange meljr ausbleiben» So entfielt immer aufs 
neue im Sufammenljang mit einer großen Sußberoegung bie Por* 
ftellung Dom na^en Gnbe. 3n roeldje formen im ein3elnen fie ftdj 
Reibet, bas t}dngt von seitgefdn'djtlidjen Umftänben ab unb iß von 
untergeorbneter Sebcutung. Ztur bie als (Sebanfengebilbe ton» 
jhruierte Religion entbehrt ber entfdjeibenben S^fpifeung auf bas 
<£nbe; bie tfyatfdctyidie Heligion ijt ofyne fte nidjt 3U benfen, mag 
jte neu entfadjt »erben, ober mag fie als jtilles 5euer in ber 
Seele glühen, 

2lber nun bas dfaeite — bie politifdj-foialen Stftänbe als 
ttrfadjen ber religiöfen Bewegung. Orientieren roir uns ftng. Sie 
toiffen, bie füllen Seiten ber jübifdjcn tEfyeofratie roaren bamals 
Idngj* porüber. Seit 3«>ei 3a^rl^unberten u>ar ein Schlag nadj 
bem anbem erfolgt; oon ben fdjrecflidjen tEagen bes 2Intiodjus 
€pipl|anes an xvax bas Volt nidjt meljr 3ur Hufyc gefommen. Das 
Königreich ber ZlTaffabäer rt>ar aufgerichtet u>orben; burdj innere 
Stoijttgfeiten unb ben äußeren 5cinb roar es balb roieber bafyin- 
gefunfen. Die Homer waren ins £anb gefallen unb Ratten ifyre eiferne 
5auß auf alle Hoffnungen gelegt ' Die (Tyrannei bes ebomitifcfyen 
paroenus, bes Königs Ijerobes, na^m bem Volle bie Cebensluft 
unb lahmte es an allen ©Hebern. €s mar nadi menfd}lid)em <£r- 
meffen nidjt ab3ufefyen, wie je u>ieber eine Befferung ber £age ein» 
treten Fönne; bie alten Bjerrlidjen Perfyeißungen fdjienen £ügen 
gejhraft — es fdjien alles aus 3U fein. XDie natje lag es, in folefy 
einer fipodje an allem 3*bifdjen 3U ©e^weifeln \xnb in biefer Per- 
3weiflung notgebrungen auf bas 3U ©e^idjten, was einß als von 
ber CEjeofratie un3crtrennlid? gegolten fyatte. IPie nafye lag es, 
bie irbifdje Krone, ben politifdjen Seftfe, 21nfel?en unb Heidftum, 
ttjatfräftiges Üjanbeln unb Kämpfen nun für unwert 3U erfldren, 
bafür aber pom f}immel fyer ein gan3 neues Seid? 3U erwarten, 
ein Heidi für bie Firmen, bie Vertretenen, bie Kraftlofen unb eine 
Krönung iljrer fanften unb gcbulbigenlugenbenl Unb wenn fdjon 
feit 3al?r^unberten ber Polfsgott 3sracls in einer Umwanblung 
begriffen war, wenn er bie ZPaffen ber Statten 3erbrodjen unb 
ben prunfoollen 2)ienji feiner priefter perfpottet, wenn er geredetes 



— 29 — 

<ßericf}t unb 23armrjer3tgfett verlangt fyatte — roie rerlocfenb roar 
es, iijn als ben (ßott 3U prof lamiercn, ber (ein Volt im <£lenb feiert 
totH, um bann ben (Elenben (Erlöfung 3U bringen! 3n ber Cr/at, 
man fann mit ein paar Strichen bie Beligion unb iPjre Hoffnungen 
fonftruieren, bie aus ben geitperrjältniffen mit Ztotroenbigfeit 3U 
folgen fdjeinen — ein ZHiferabilismus, ber ftdj an bie (Erwartung 
eines umnberbaren Eingreifens <5ottes Hämmert unb jldj Dorther 
gleicr/fam in bas €lenb rtineintDÜrjlk 

2Iber fo geroiß bie furchtbaren geitoerrtältniffe trieles in biefem 
Sinn entbunben unb entroief elt fyaben, fte reidjen bodj längjl nicfjt aus, 
um bie prebigt bes (Eäufers 3U erklären, nxtrjrenb man bie roilben 
Unternehmungen ber falfcrjen ZTCejfiaffe unb bie politif fanatifefr/er 
pijarifäer leicht aus irjnen ab3uleiten vermag. XDorjl erflären fte 
es, bafa bie £oslöfung r>on roeltlid)en Dingen weitere Kreife erfaßte 
unb ba% man 3U (ßott auf flaute — Hot lefyrt beten; aber bie XTot 
an ftdj bringt feine ftttlicfye Kraft; biefe aber ifl in ber prebigt 
bes tCäufers bas £jjauptftücf gcu>efcn* 3nbem ** an fi* 
appellierte, inbem er alles auf bie (ßrunblage bes Sittüdjen unb 
ber Perantroortung fefeen Bn'efc, erfjob er fidf über bie Sdiwädi* 
lidjfeit ber „Firmen" unb fdjöpfte nidjt aus ber Seit, fonbern aus 
fcem Croigen. 

€s fmb nodj nict)t fyunbert 3afyre biet, ba rjat nadj ber fcfjrecf* 
Hcfjen 2Tieberfage unferes Paterlanbes 5icr/te tyer in Serlin feine 
berühmten Reben gehalten. Was tfyat er in ifynen? Zinn 3unäcr$, 
er tjielt ber Station einen Spiegel r*or unb 3eigte iijr irjre Sünben 
unb beten folgen, ben £eid}tftnn, bie (ßottloftgfcit, bie Selbflgefätüg- 
feit, bie Perblenbung, bie ScrjtDäcrte* IDas tfyat er bann? Hief 
er fie einfach 3U ben XDaffen? 2tber eben bie XDaffen permoer/ten 
fte nidjt meFjr 3U fuhren; fie roaren ifynen aus ben fraftlofen Eiänben 
gefcrjlagen roorben, ^ur Buße unb inneren Umfefyr rjat er fte 
gerufen, 3U (ßott unb besfyalb 3ur Slnfpannung aller ftttlicrjen Kräfte, 
3ur XDafyrrjeit unb 3um (ßcijte, bamit aus bem (ßeifte alles neu 
roerbe* Unb burcrj feine fraftooüe perfönltcr/feit fyat er im 23unbe 
mit gleicrjgejHmmten 5reunben ben mäcrjtigften (Einbrucf fjeroor- 
gerufen. Die perferjütteten Quellen unferer Kraft permodfte er 
voxebet auf3ubecfen, roeil er bie ZlTädjte tannte, von benen fjülfe 
fommt, unb roeil er felbft t>on bem lebenbigen XDaffer getrunfen 
Blatte. (ßeroifj, bie XTot ber Seit tjat irjn gelehrt unb geftäfylt; 
aber es roäre finnlos unb lädjerlicr/ 3U behaupten, 5id?te's Reben waten 



— 30 - 

bas probuft bcs allgemeinen (Elenas. Sic ftnb ber (ßegcnfafc 5U 
ifym. Hidjt anbers ift über bie Prebigt 3ofyanncs' bcs (Läufers 
unb — bajj idj es gleid] fagc — über bie prebigt 3cfu felbft 3U 
urteilen. Va% fte fid} an bte manbten, bie von ber IDclt nnb ber 
politif nid)ts ermarteten — r>on bem (Eäufcr ift bas übrigens nicfyt 
bireft berichtet — , bafc fie von jenen Dolfsleitcrn nichts miffeu 
mollten, bie bas Dolf ins Dcrbcrben geführt Ratten, bafc fte ben 
23licf überhaupt von bem 3*bifd]en ablcnften, bas mag man audj 
aus ben geitocrl^ältniffen ableiten. 21ber bas Heilmittel, meldjes 
fie ücrfünbigtcn, mar fein probuft bcrfclben. IHußte es nidjt oiel* 
mcfyr als ein Derfucrj mit untauglichen ZTCittcln crfdjeincn, lebigüdj 
3ur gemeinen 2Horal bie £cutc 5U rufen unb von ifyr alles 3U er- 
märten? Unb mofyer ftammte bie Kraft, bie unbeugfamc Kraft, 
meldje anbere besmang? Dies füfyrt uns auf bie lefete ber fragen, 
bie mir aufgemorfen fyabcn. 

Drittens, mas ift benn Ztcucs in biefer gan3en Bewegung ge« 
mefen? IDar es neu, bie Souoeränetät (Sottcs, bie Souscränetät 
bes (Suten unb ^eiligen in ber Religion gegenüber allem anberen, 
toas fidf eingebrängt Blatte, auf3uridjten ? Was fyat alfo 3ofyanncs, 
mas fyat (Efyriftus felbft Heues gebracht, mas nidjt fdjon längft t>er- 
. fünbigt morben mar? ZTCeinc ^erren! Dic5rage nadi bcmZTcuen 
in ber Hcligion ift feine 5ragc, bie von foldjen geftcllt mirb, bie 
in ifyr leben. XPas fann „neu" gemefen fein, nadjbem bie ZTCcnfdj* 
fycit fdjon fo lange oor 3efus <£fyriftus gelebt unb fo tricl (Seift 
unb <£rfenntnis erfahren fyattc. Der ZHonotfycismus mar längjt 
aufgerichtet, unb bie menigen möglichen tLyven monot^etftifd^er 
5römmigfeit maren längft fyier unb bort, in gan3en Schulen, ja in 
einem Dolf e, in bie (Erfdjetnung getreten. Kann ber fraf tooHe unb 
tiefe rcltgtöfc 3«bmibualismus jenes pfalmiftcn nodj überboten 
merben, ber ba bef annt fyat : „£jerr, voenn idf nurDtdj fyabe, frage 
id] ntdjt nad) ^immcl unb <£rbc"? Kann bas IDort TXlxdia's übet* 
boten merben: „<£s ift Dir gefagt, ZTTenfdj, mas gut ift unb mas 
ber ^err üon Dir forbert, nämlid? (ßottes XPort galten unb £iebe 
üben unb bemütig fein r>or Deinem <5ott"? 3^^^nberte maren 
bereits scrfloffcn, feitOcm biefe XPorte gefprodjen maren. 2lIfo, 
„IDas moüt ifyr mit eurem CEjriftus?" menben uns namcntltd7 
jübifdjc <5elcEjrte ein; „er l\at nichts Heues gebradjt." 3dj ant- 
mortc hierauf mit ZDellEjaufen: <5emtj$, bas, mas 3cfus r>erfün* 
bigt, was ^ofyannes vox tfym in feiner Bußprebigt ausgefprodjen 



— 81 — 

fyat, bas roar aucrj bei ben Propheten, bas roar fogar in ber 
jübifdjcn Überlieferung feiner geit 3U ftnben. Selbft bie prjarifäer l 
rjatten es; aber fic fyatten leiber noerj fcfyr oiel anbercs ba-j 
neben. <£s roar bei irmen befcrjrocrt, getrübt, r>er3errt, unroirffam 
gemacht unb um feinen <£rnft gebracht burdf taufenb Dinge, bie 
fte and} für Heligion hielten unb fo roier/tig nahmen roie bie 23arm- 
fye^igfeit unb bas (Script. Wies ftanb bei irmen auf einer 
^fäcr/e, alles roar in ein (ßeroebe gdrooben, bas (5ute unb fjeilige 
nur ein ©nfdjlag in einen breiten irbiferjen geltet TXun fragen 
Sie nodi einmal: „Was roar benn bas ZTeue?" 3^ ber mono- 
t^eiftifd^cn Heligion ift biefe 5*agc nidft am plafee. 5*agen Sie 
rnelmefyr: „XDar es rein unb roar es fraftooll, roas fyier oer- 
fünbet rourbe?" 3d? antworte: Suchen Sic in ber gan3en Heli- 
gionsgefdjicf/tc bes Dolfes ^sxael, fucr/en Sie in ber <ßefd>icr/te über- 
haupt, roo eine Sotfdjaft oon (ßott unb 00m (Sutcn (0 rein unb 
fo cmft — benn Hemrjcit unb (Ernft gehören 3ufammen — geroefen 
ift, roie roir fte fyier rjören unb lefen! Die reine Quelle bes ^ei- 
ligen roar 3toar längft erfdjloffen, aber Sanb unb Sdjutt roar über 
fte gehäuft roorbeu unb il^r IDaffer roar verunreinigt. Daß nach- 
träglich Habbincn unb (Efycologen biefes IDaffer bcftiHieren, änbert, 
felbjt roenn es ilmen gelänge, nicr/ts an ber Sadie. TXun aber 
bradj ber Quell friferj i^eroor unb bradj ftdf burcrj Schutt unb 
Crümmer einen neuen XDeg, burdj jenen Sdmtt, ben pricjter unb 
(Erjeologen aufgehäuft Ratten, um ben <£rnft ber Heligion 3U er- 
liefen; benn roie oft ift in ber (Sefdjicrjte bie (Er/eologie nur bas 
ZHittel, um bie Religion 3U befeitigen! Unb bas anbere roar bie 
Kraft, pfyarifäifcr/e teurer Ratten ©erfünbigt, im (5ebot ber (ßottes- 
unb ZTädtftenliebe fei alles befaßt; rjerrlidje Xüorte Ratten fte ge- 
fprodjen; fie fönnten aus bem ilTunbe 3efu ftammen! 2lber roas 
Ratten fte bamit ausgerichtet? Daß bas Polf, baß vor allem trjre 
eigenen Schüler ben oerroarfen, ber ntit jenen IPorten <£rnft machte! 
Scf/roädjlidi roar alles geblieben, unb rocil fdjtoäcrfiicrf, barum fdjäb- 
lidj. Xüorte trjun es nict/t, fonbern bie Kraft ber perfönlidjfeit, 
bie hinter irmen fter/t. (Er aber prebigte geroalt ig, „nidjt roie 
bie Scf/riftgelerjrten unb pr»arifäer": bas roar ber <£inbru<£, ben 
feine 3üngcr oon ilmt gewannen. Seine XDorte rourben irmen 3U 
„IDorten bes Hebens", 3U Samenförnern, bie aufgingen unb £rudtt 
trugen — bas roar bas 2Tcue. 
.-"\2Tltt fold] einer prebigt Ijatte 3°fyannes ber Käufer bereits 



— 32 — 

Begonnen. 21udj er rjattc pdf un3a>eifelf>aft fdjon in einen <5egcn« 
fafc 3U ben Rubrem bes Polfs gejtellt; benn einer, ber prebigt 
„ Kehret um" unb babei ausfdiliefclidi auf ben Weg ber 23u§e unb 
bes {ittiidien (Ef}uns pcrtoeiji, fommt ftets in einen <5egenfa$ 311 
ben offöieüen fjütern ber Hcligion unb Kirche. 2Ibcr über bie 
Cinic ber 3u§prebigt hl 3oljannes nidjt {{inausgegangen. 

Da trat 3efus Cfyrtjhis auf. <£r E^at 3unädfji bie Pcrfünbi- 
gung bes Säufers in oollem Umfange aufgenommen unb bejaht, 
unb er ijat \fy\ felbft anettannt, ja es rjat niemanben gegeben, über 
ben er in XDortcn foldjer Tlnettennung gefprodjen E^at tote über 
biefen 3ofymncs. fjat er bodj gefagt, ba% unter allen, bie üon 
XDeibern geboren finb, feiner aufgenommen iji, ber größer fei benn 
er. 3ntmer roieber fyat er befannt, ba% feine Sadje von bem 
Oufer begonnen roorben unb ba% biefer fein Porläufer geroefen 
fei. 3<* er fjat per) fclbjt r>on xfyn taufen Iaffen unb ßdj bamit 
in bie 3croegung In'ncingeßellt, bie jener entfeffelt Jjaite. 

21ber er iji nidjt bei ifjr fteljen geblieben. XDoljl oerfünbete 
audf er, als er auftrat: „Ojuet Süße, bas Hcidf <5ottes iji gerbet- 
gefommen", aber inbem er fo prebigte, rsurbe es eine frolje 23ot« 
fdjaft. TXidiis iji jtdjerer in ber Überlieferung r>on Unn, als ba§ 
feine Derfönbigung ein „<£r>angeltum" roar unb als eine feligc unb 
freubenbringenbe Botfdjaft empfunben rourbe. ZHit gutem 23ebad>t 
liat barum ber <£r>angclifi £ucas an bie Spifee feiner (Ersäijlung 
t>om öffentlichen auftreten 3 e f u & as Wort bes Propheten 3efaias 
gebeut: „Der (ßeiji bes fjerrn iji bei mir, berfyalben er 
midj gefanbt fyat, unbgefanbt3U oerfünbigen bas <£pan- 
gelium ben Firmen, 311 feilen bie 3erfto§enen ^er3en, 3U 
prebigen ben (Befangenen, ba§ fie los fein follen, unb 
ben 23linben bas <5efidjt, unb ben d5erfd?lagenen, ba% fie 
frei unb lebig fein follen, unb 3U prebigen bas angenehme 
3al|r bes fjerrn." ©ber in 3cfu eigener Sprache: „Kommet 
Ijer 3umiralle, bie itjr müfyfelig unb belaben feib; tdj 
toil! eudj erquicFen. ZTefymet auf euer] mein 3 0cr l un & 
lernet von mir; benn tdj bin fanftmütig unb oon £iex$en 
bemütig, fotoerbeti^rHuljefinben für eure Seelen." 
Dtcfcs IDort Bjat über ber gan3cn Dcrfünbigung unb bem XOirfen 
3efu geftauben; es enthält bas <ü\ema für alles, roas er geprebigt 
unb gefyanbclt Ijat. Dann aber ift fofort offenbar, ba% biefe feine 
prebigt bte 23otfdjaft bes 3°fy an ttes roeit hinter jicfy 3urü<f- 



— 33 — 

gelaffen Ijat. *$ene, ob fte fdjon in einem Ritten (gegenfafe 
3U ben priejtern unb Sdfriftgelefjrten geftanben Ijat, iß bodj 
nidjt 3U bem entfdjeibenben ^eviien, bem rotberfprodfen nmrbe, 
geworben* „^etilen unb Stuferjtefyen", eine neue ZTCenfd$eit roiber 
bie alte, <ßottesmenfd>en, fdjuf erft 3efus (Efyrijhts. <£r trat 
fofort ben offoiellen 5üfyrern bes Dolfes, in ifyten aber bem ge« 
meinen ZTCenfdjenroefen überhaupt entgegen. Sie Zaditen ftdj' 
(ßott als ben Despoten, ber über bem Zeremoniell feiner fjaus* 
orbnung roadjt, er atmete in ber (ßcgentoart <5ottes. Sie fafyen. 
tfyn nur in feinem (Sefefee, bas fte 3U einem £abyrintfi oon 
Sdjludften, 3**toegen unb fieimlidjcn Ausgängen gemadjt Ratten, 
ex fafy unb füllte tE^n überall. Sie befajjen taufenb <5ebote oon 
tfym unb glaubten ifyn besfjalb 3U fennen; er fyatte nur ein (gebot 
©on öjm unb barum tannte er ifyn. Sic Ratten aus ber Heligion 
ein irbifdjes (Seroerbe gemacht — es gab nichts Stbfdjeuüdieres — , 
et oerfünbete ben lebenbigen (5ott unb ben 2tbel ber Seele. 

Überfdjauen roir aber bie prebigt 3efu, fo fönnen roir brei 
Kreife aus ifyr gehalten. 3^ber Kreis ift fo geartet, ba% er bie 
<jan3e Derfünbigung enthält; in jebem fann fte bafyer DoHftänbig 
3ur DarfteÜung gebracht roerben: 

(Erftlidj, bas Keidi (gottes unb fein Kommen, 

Zweitens, (5ott ber Pater unb ber unenblidje IDert 
fcer XHenfdfenfeele, 

Drittens, bie beffere (5ercdjtigfeit unb bas (ßebot 
der £iebe. 

Die (große unb Kraft ber prebigt 3efu iß barin befdjloffen, 
•bafc fte fo einfad? nnb roieberum fo reidj iji — fo einfad?, bajj 
fie ftdf in jebem f}auptgcban!en, ben er angefdjlagen, erfdjöpft, 
unb fo reidj, ba% jeber biefer (Sebanfen unerfdjöpflidi erfdjeint 
nnb roir bie Sprüche unb (Sleidjniffe niemals auslernen. 2tber 
darüber hinaus — fyinter jebem Sprudj ftefyt er felbft. Durdj 
die 3<*fyrfyunberte fyinburdj reben fte 3U uns mit ber 5nfdje ber 
<Segentoart f}ier betoafyrfyeitet ftdj bas tiefe £)ort roirflidj: „Sprtdj, 
ba% idj bid| fefye." 

IDir roerben in bem 5olgenben fo oerfatjren, ba% roir jene 
brei Kreife fennen 3U lernen fudjen unb bie (Sebanfen, bie 3U ifynen 
gehören, 3ufammen orbnen. 3n ifynen ftnb bie (Brunb3Üge ber 
Prebigt 3efa enthalten. Dann roerben toir perfudjen, bas <£oan« 

Qarnacf, Das tOefen bes Cijriflentums. 3 



— 34 — 

gelium in feinen Bestellungen 3U ein3elnen großen 5r<*öcn &cs 
£cbcns 3U perjteljen. / 

\. Das Heidf (Sottes ixnb fein Kommen, 
Die predigt 3*fu *>om ZJeidje (Sottes burd?läuft alle 2lus- 
fagen unb formen von ber altteftamcntlidj gefärbten, propfyciifdjcn 
21nfünbigung bes (Seridtfstages unb ber 3ufünftigen ftdjtbar etn- 
tretenben (Sottesfyerrfdjaft bis 3U bem (ßebanfeu eines jefetbeginnenben, 
mit ber Sotfdjaft 3*fa anfyebenbcn inncrlidjcn Kommens bes Beidies. 
Seine Derfünbigung umfaßt biefe beiben pole, 3u>ifdjen benen 
manche Stufen unb Ztuancen liegen, 21n bem einen pole er- 
fdjeint bas Kommen bes Hcidjs als ein rein 3ufünftigcs, unb bas 
Heid? felbft als eine äußere ^errfdjaft (ßottes; an bem anberen 
erfdjeint es als etroas 3nnerlid)cs vxib es ijl fdjon porfyanben, fyält 
bereits in ber (ßegentpart feinen <£in3ug. Sie fe^en alfo: u>ebcr 
ber Segriff „Bcidf (Sottes" nodf bie Dorftcllung pon feinem 
Kommen ift einbeutig. 3*fus fyat fte ber religiöfen Überlieferung 
feines Dolfes entnommen, in ber fte bereits im Dorbergrunbe 
geftanben ljaben, unb er Ifat perfdn'ebene Stufen gelten laffen, in 
benen ber Begriff lebenbig roar, unb Ifat neue {n'^ugefügt. 
^Ibgefdjnitten ijat er nur bie irbifd^en, politifdVeubämoniftifdjen 
Hoffnungen. 

2tudj 3^fus tft, tpie alle in feinem Dolfe, bie es ernft unb 
tief meinten, burdjbrungen getpefen pon bem großen (Segenfafc bes 
(Sottesretdjes unb bes ZDeltreidjes, in tpeldjem er bas 23öfe utxb 
b^n Söfen regieren fafy. Das war Feine blaffe DorfteHung, fein 
bloßer (Sebanfe, fonbern lebenbigjie Slnfdjauung unb <£mpfinbung. 
Darum n>ar i^m aud] getoiß, ba% biefes Heidj pernidjtct merben 
unb untergeben muffe. Dies aber fann nidjt anbers gefdjefyen als 
burdj einen Kampf. Kampf unb Sieg ftefyen in bramatifdjer 
Sdfärfe unb in großen, jtdjeren Sügen por feiner Seele, in jenen 
gügen, in benen fte bie Propheten gefdjaut Ratten. Um Sdjluffe 
bes Dramas ftefyt er ftdj felbft 3U Hechten feines Daters unb feine 
3n?ölf 3ünger auf fronen ftfcen unb richten bie 3u>ölf Stämme 
3sraels; fo anfdjaulidj, fo gan3 in ben Dorftellungen feiner Seit 
ftanb bas alles por iljm. ZTCan fann nun fo per fahren — unb md}t 
ipenige unter uns perfaljrcn fo — ba% fte biefe bramatifdjen Silber 
mit i^ren garten Farben unb Kontraften für bie fjauptfadje er* 
flären unb für bie (Srunbform ber DerFünbigung 3efu, ber alle 
übrigen 2lusfagen einfadj unter3uorbnen feien; biefe feien mefyr ofcer 



— 35 — 

weniger unerhebliche Dartanten — rneüeidjt and} erft burdj bie 
fpäicren Bericrjterflatter herbeigeführt; maßgebenb fei allein bie 
bramatifdje Sfafunftserroartung. 3d? oermag midi biefer Betrachtung 
nidjt a^ufdjließen. <£s gilt bodj audf in är/nüd^en fällen für per- 
fefyrt, f|ert>orragenbe, roarjrljaft epodjemadjenbe perfönlidtfeiten in 
erfter £inie banadj 3U beurteilen, voas fte mit ifyren 5>eÜ9enoffen 
geteilt fyaben, bagegen bas in ben ^intergrunb 3U rüden, roas 
eigentümlich unb groß an ir>ncn roar. Die Steigung, möglidjft 3U 
niüellieren unb bas 23cfonbcre 3U t>erroifdien, mag bei einigen einem 
anerfennensroerten XDarjrrjcitsftnn entfpringen, aber er ift mißleitet 
ZTodj häufiger aber waltet tn'er, beroußt ober unbewußt, bas Se- 
ftreben, bas <5roße überhaupt nidjt gelten 3U laffen unb bas (Er- 
habene 3U fluten. Darüber fann fein &wetfe\ fein, jene Dor- 
ßeHung oon ben $wei Heiden, bem (ßottesreicrj unb bem (Teufels- 
reidt, pon iljren Kämpfen unb von bem 3ufünftigen lefeten Kampf, 
in roeldtem ber (Eeufel, nadibem er längfi aus bem Ejimmel aus- 
geroiefen, nun a\xd\ auf ber <£rbe beftegt roirb — biefe Dorjtellung 
teilte 3efus einfacrj mit feinen <§eitgenof[em <£r fyat fte nidjt 
ijeraufgefüfyrt, fonbern er ift in tEjr groß geroorben unb fyat fte bei- 
behalten. Die anberc Slnfdjauung aber, ba% bas Hcidj (ßottes nidjt 
„mit äußerlichen ©ebärben" fommt, ba% es fdjon ba ifi, fte roar 
fein roirflidjes (Eigentum. 

5ür uus, meine Ejerren, ftnb bas fjeute fdfioer 3U oereinigenbe, 
ja faft unüberbrücfbare (ßcgcnfäfee, bas Heidi <5ottes einerfeits fo 
bramatifdj unb 3uFünftig 3U faffen unb bann boerj roieber 3U oer- 
fünbigen: „es ift mitten unter cudi", es ijl eine fHHe, mächtige 
(ßottesfraft in ben X^e^en. 2lber roir foHen barüber nadjbenfen 
unb uns in bie <5efdjicrjte perfenfen, um 3U erFennen, roarum unter 
anberen gefdjidftlidjen Überlieferungen unb in anberen Silbungs- 
formen ljier feine <5egenfäfee empfunben rourben, beibes rnelmerjr 
nebeneinanber beßerjen fonnte. ^}d\ meine, nad} einigen rjunbert 
3ctl|ren roirb man aucrj in ben (5ebanfcngebilben, bie roir 3urücF- 
gclaffen rjafon, rncl IDibcrfprucrjsoolles entbeefen unb roirb ftdj 
tounbern, ba% roir uns babei beruhigt $aben. TXlan roirb an bem, 
roas urir für ben Kern ber Dhtge hielten, noerj mandje rjarte unb 
f probe Sdjale ftnben, man roirb es nidjt begreifen, baß roir fo 
fur3ftct|tig fein fonnten unb bas XDefentlidje nierjt rein 3U erfaffen 
unb aus3ufcrjciben oermod^ten. 2tudj bort, roo roir fjeutc nodj nierjt 
ben geringften antrieb 3ur Sonberung oerfpürcn, roirb man einft 

3» 



— 36 — 

bas ZHeffer anfeftcu xxnb f Reiben, hoffen u>ir, bann billige Kidjtcr 
3U ftnben, bie unfere (Spanten nidjt nad] bem beurteilen, was wir 
unioiffentlidi aus ber Überlieferung übernommen unb 3U Fontroüicren 
niety bie Kraft ober ben 23cruf befeffen fjaben, fonbern nad? bem, 
was unferem €igenften entflammt ift, wo wxv bas Überlieferte ixxxb 
gemeinhin f}errfdjenbe umgebilbet ober oerbeffert Ijaben. 

<ßea>i§, bie Aufgabe bes JEjifroriFcrs ift fdjtoer unb üerant» 
tPortungsooD, 3t»if djen Überliefertem unb (Eigenem, Kern unb 
Sdjale in ber prebigt 3*fu. *>om Heidje (5ottcs 3U fdfeiben. JPie 
u>cit bürfen unr gefycn? Wxv u>oHen biefer prebigt bod? nid?t 
iE^re eingeborene 2lrt unb $arbe nehmen, wxt rooHcn fte bodj nidjt 
in ein blaffes moralifdjes Schema pcrroanbeln! 21ber anberfeits — 
roir motten ifyre (Eigenart unb Kraft audj nidjt verlieren, inbem 
n>ir benen beitreten, bie fte in bie allgemeinen Seitoorftettungcn 
auflöfen! Sdjon bie 2trt, uue 3efus unter ifyncn unterfdfieben 
fyxt — er fyat feine beifeite gelaffen, in ber nidjt ein 5unfc 
pttlid^er Kraft lag, unb er fyat feine aufgenommen, roeldje bie 
eigenfüdjtigcn (Erwartungen feines Polfes oerftärfte, — fdjon biefe 
Unterfdjeibung lefyrt, bajj er aus einer tieferen (Erfcnntnis heraus 
gefprod?en unb geprebigt fyat. Tibet wir beftfeen oiel fdjlagenbcre 
geugniffc 10er toiffen tx>itt, was bas Hcidj (ßottes unb bas 
Kommen biefes Heidjes in ber Perfünbigung 3*fu bebeuten, ber 
muß feine (Sleidjniffe lefen unb überbenfen. Da wxxb xfyn auf- 
geben, um tx>as es fid] Ijanbelt. Das Heid] (ßottes fommt, inbem 
es 3U ben ein3 einen fommt, <£hi3ug in ir^rc Seele fyält, unb fie 
es ergreifen. Das Hcidj (Sottes ift (Sottes Ejerrfdjaft, getoijj — 
aber es ift bie fjerrfdjaft bes ^eiligen (Sottes in ben ei^clitcn 
Xje^en, es ift (Sott felbft mit feiner Kraft. 2(Hes Dramatifdje 
im äußeren, rDeltgcfdjiditltdjcn Sinn ift fyer Derfdjrounben, 
perfunfen ift audj bie gan3e äuj^rlidje Sufunfts^offnung. 
Zle^nten Sie rceldjes (Sleidjnis Sic tx>ollcn, oom Säemann, t>on 
ber föftlidjen perle, oom Schafe im 2tcFer — bas ZDort (Sottes, 
£r felbft ift bas Zfeidi, unb nid^t um (Engel unb (Lcufcl, nid?t um 
Ojrone unb ^ürftentümer l>anbelt es fidj, fonbern um (Sott xxnb 
bie Seele, um bie Seele nnb ifyren (Sott. 



WxtxU ©orlBfmtg* 



Wxv fyahen 3ulefet von ber prebigt 3efu gefproctjen, fofcrn 
jte Derfünbigung bes Heises (ßottes unb feines Kommens getr>efen 
ijt. Xüir fyabcn geferjen, ba§ biefe Derfünbigung alle 2lusfagen 
unb 5ormen burdfläuft von ber alttejtomentlidj gefärbten, pro- 
prietifdjen 2lnfünbigung bes ©eridjlstagcs bis 3U bem (5eban!cn 
eines jefet beginnenden innerlichen Kommens bes Heidjs. IDir 
rjaben enblidf 311 3eigcn perfuerjt, roarum bie festere DorjleHung 
für bie übergeorbnete 311 galten ijt Seoor idj auf jte etroas 
närjer* eingebe, möchte icfy aber noefy auf 3toei befonbers uncrjtige 
2lusfagcn rjinroeifen, bie 3t»ifcrjcn ben polen „(Berichts tag" unb 
ff 3nnerlict|es Kommen" liegen. 

firftlicrj, bas Kommen bes Heidjcs (5ottes bebeutet bie <3cr- 
jlörung bes Heid}s bes Teufels unb bie Übcrroinbung ber Dämonen» 
Sie fyerrferjen bisher; jte rjaben oon ben ZTCenfdien, ja oon ben 
Dölfcm 23eftfc genommen unb 3tr>ingen fte, itjncn 5U lOillen 3U fein* 
3cfus erflärt aber nicfyt nur, ba% er gefommen fei, bie Z£)erfe bes 
(Eeufels 3U 3erjtören, fonbern er treibt and\ ttjatfädilidf bie Dämonen 
aus unb befreit bie ZTCenfcrjen pon irrten. 

<5ejtatten Sie mir rn'er einen flcinen <£r.furs. nichts berührt 
uns in ben (Evangelien frember als bie Dämonengefcrjidjten, bie 
ftcrj fo häufig in tfyncn ftnben unb auf roeldje bie (Epangclipen ein 
fo rjorjes dJeroidjt gelegt fyabcn. UTancr/cr unter uns lefynt jene 
Schriften fdjon bcsfyalb ab, roeil fte folerje unoerftänbige Dinge 
berichten, fjier ijl es nun roidjtig 3U roiffen, bajj jtdj gan3 ärjn- 
licfje <£r3ärjlungen in vielen Schriften jener &eit finben, in gric- 
dnfdfjcn, römiferjen unb jübifdjen. Die DorfteHung ber „Befeffen- 



— 38 — 

fjcit" war überall eine geläufige, ja fogar bie bamalige IDiffeu- 
fcfyaft faßte einen großen Kreis franffyafter <£rfdjeinungen fo auf. 
<£ben besfyalb aber, weil bie £rf Meinungen fo gebeutet wurden, 
baß eine böfe geifttge TXladit von bem HTcnfcf^cn ^3cfiö ergriffen 
\\abe, nahmen bie (ßemütsfranffyeiten 5ormen an, rote wenn wirf* 
lid? ein frembes VOe\en in bie Seele eingebrnngen fei. Das ift 
nidjt paraboj. <5efefet ben $<&, unferc heutige IDiffenfdjaft mürbe 
erklären, ba% ein großer Seil ber ZTcrvenfranffyeiten aus Sefeffen« 
Ijeit ftamme, unb biefe Crflärung verbreitete fidj burdj bie Lei- 
tungen im Dolfe, fo würben wir balb wieber safylreidje 5äHe er« 
leben, in benen (ßemütsfranfe wie von einem böfen (Seift ergriffen 3U 
fein f feinen unb glauben. Die djeorie unb bcr(ßlaube würben fuggeftiv 
wirfen unb „Dämonifdje" genau ebenfo unter ben (Seijtcsfranfen 
erzeugen, wie fie ftc 3a^rl|unberte, ja 3afyrtaufenbc fyinburd) e^eugt 
f?aben. <£s ift alfo ungefdndjtlidf unb tfyöridjt, bem (Evangelium 
unb ben (Evangelien eine ifynen eigentümliche Dorftellung ober gar 
„Cefyre" von ben Dämonen unb ben Dämonif djen 3U3uf treiben. 
5ie nehmen nur an ben allgemeinen ^eitvorftellungen Ceil. fjeute 
begegnen wir biefen 5ormcn ber (5eiftesfranf Reiten nur nodj feiten; 
ausgeftorben ftnb fte jebodf nod? n\d\t Wo fie aber auftreten, ift 
Ijeute nodj wie bamals bas befte mittel, i^nen 3U begegnen, bas 
IDort einer fräftigen perfönlidjfeit. 5ie vermag ben „Ceufel" 3U 
bebrofyen, 3U beswingen nnb fo ben Kranfen 3U feilen. 3n 
paläftina muffen bie „ Dämonif dien" befonbers 3aEjlrcidf gewefen 
fein. 3ef us erfannte in ifynen bie DTac^t bes Übels unb bes 23öfcn, 
unb burdj bie wunberbare (Sewalt über bie Seelen berer, bie ifyn 
vertrauten, bannte er bie Kranffyeit. Dies fü^rt uns auf bas 
gweite. 

2lls 3ofyannes ber Käufer im (ßefängnis von Zweifeln bewegt 
würbe, ob 3efus ber fei, „ber ba fommen foH", fanbte er sroci 
feiner 3ünger 3U ifym, um itjn felbft 3U fragen. Zlidjts ergreifender 
als biefe 5r<*ge bes Oufers, nichts erfyebenber als bie Antwort 
bes fjerrn! Dodj wir wollen bie Szene felbft nidjt überbenfen. 
IDie lautet bie Antwort? „(Sefyet fyn unb faget bem 3of}amtes 
wieber, was it^r fefyet unb fyöret; bie 23linben fefyen unb bie Carmen 
geEien, bie Stusfäfeigen werben rein unb bie Caubcn fyören, bie 
(Eoten ftcEjen auf, unb ben Firmen wirb bas (Evangelium geprebtgt." 
Das ift bas „Kommen bes £eid>s", ober vielmehr in biefem 
J^eilanbswirfen ift es bereits ba. 2ln ber Überwinbung nnb IDeg* 



— 39 — 

räumung bes (Elenbs, ber Xlot, ber Kranffyeit, an biefem tfjatfädj- 
liefen IDirfen foll 3ofyannes fpüren, bajjj eine neue Seit ange- 
brochen ift. Die Teilung ber Sefeffenen ift nur ein Ceil biefer 
fjeilanbstljätigfeit; fie felbjt aber $at 3efus als Sinn unb 
Siegel feiner ZTCiffion be3eidjnet. 2ttfo an bie <£lenbeu, 
Kranfen unb Firmen £?at er fidj gerichtet; aber nidjt als ZHoralijt 
unb ofyte eine Spur tDeidjmütiger Sentimentalität <£r teilt bie 
Übel nid?t in $äd}er unb (Sruppen ein; er fragt nidjt lange, ob 
ber Kranfe bie Teilung „perbient"; er ift audj roeit entfernt, mit 
bem Sdjmersc ober mit bem CEobe 3U fvmpat^tftercn» <£r fagt 
nirgenbroo, ba§ bie Kranffyeit fycilfam unb bas Übel gefunb fei. 
ZTein — er nennt Kranffyeit Kranffyeit unb (ßefunbfyeit (Sefunbljcit. 
2Mcs Übel, alles Clenb ift ifym etoas 5ürd)terlicfyes; es gehört 3um 
großen Satansreid?; aber er füfylt bie Kraft bes ffeilanbcs in fid?. 
<£r roeijs, bajj ein 5ortfd?ritt nur möglich ift, u>cnn bie Sd)t»ädje 
überiüuitben, bie Kranffyeit geseilt trrirb. 

2lber nodj ift niety bas Cefete gefagt. Das (Sottesreidj fommt, 
tubem er fyeilt; es fommt por allem, inbem er Sixnbz üergiebt. 
J^icr erjl ift ber oolle Übergang 3um begriff bes Heidjes (ßottes 
als ber mnerlid? roirfenben Kraft gegeben. XDie er bie Kranfen 
unb Firmen 3U fiel} ruft, fo ruft er audj bie Sünber; biefer Huf 
ift ber entfcfyeibenbe. „Der ZtTenfdienfofyt ift gekommen 3U fudjen 
unb feiig 3U machen, roas perloren ift." Zinn erft erfdjeint alles 
SUifccrlidje unb blos <§ufünftige abgeftreift: bas 3nbir>ibuum toirb 
erlöft, nid}t bas Dolf ober ber Staat; neue XHenfdien follen 
ro erben, unb bas (Sottesreidj ift Kraft unb <giel 3ugleid). Sie 
fudjen ben verborgenen Schafe im 2lcfer unb finben iljn; fie per« 
faufen alles unb faufen bie föfllidie perle; fie feieren um unb 
toerben n?ie bie Kinbcr, aber eben baburd? ftnb fte erlöft unb u>erben 
(ßoitesfinber, (Sottesfyelben. __ ) v 

3« biefem gufammenljang fyat 3efus oon bem Heidje (Sottes 
gefprodjen, in roeldjes man mit (Seroalt einbringt, unb toieberum 
oon bem Beidje (5ottes, roeldics fo fidler unb fo ftill aufroädjft roie 
ein Samenforn nnb 5nidjt bringt. <£s fyat bie XIatur einer geiftigen 
(Bröße, einer Ztlad\t, bie in bas 3nnere eingefenft roirb unb nur 
oon bem 3nnern 3U erf äffen ift. So fann er oon biefem Heidje, 
obgleich es aixdi im ^immel \% obgleich es mit bem (Seridjts« 
tage <5ottcs fommen tx>irb, bodj fagen: „<£s ift nidjt fyer ober bort; 
es ift inroenbig in eudj." 



<t^<- 



— 40 — 

Die Betrachtung bes Heises, nadj ber es im fjeilanbsipirfen 
3efu bereits gefommen ift unb fommt, ifl ht ber 5ofge3eit von ben 
3üngcrn 3*f u "kM fcftgefjaltcn tporben: man fuljr pielmefyr fort, 
von bem Heidje als von etwas lebiglidj gufüuftigem 3U fpredjen. 
21ber bie Sadje blieb in Kraft; man (teilte fte nur unter einen 
anberen (Eitel. <£s ift ffier äfyilidf gegangen u>ie mit bem Segriff 
bes „ZTCcfftas". Kaum (Einer fyxt ftdj, wie roir fpdter nodj fefyen 
roerben, in ber Ejeibcnfirdje bie Sebeutung 3^fu baburdj flar ge- 
malt, bafc er ifyn als „ZHeffias" faßte. 2lber bie Sadje ifl ntdjt 
\ ( untergegangen. 

Das, n>as ben Kern in ber prebigt Pöm Heidje gebilbet b % at, 
blieb beftefyen. <£s fyanbelt ftdj um ein Dreifaches. <£rftlidf, ba% 
biefes Bcidj etwas Übertpeltltd^es ift, eine (Sabc pon (Oben, nidjt 
ein probuft bes natürlichen Ccbcns; 3tpeitcns, ba% es ein rein 
religiöfcs (ßut ift — ber innere <5ufammenfdilu& mit bem leben- 
bigen <5ott; brtttens, ba% es bas lDtd]tigfte, ja bas <£ntfd]eibenbe 
ift, roas ber ZTCenfdj erleben fann, bajj es bie ganse Sphäre feines 
Dafeins burdjbringt unb beEjecrfdjt, roeil bie 5ünbe pergeben unb 
bas <£lenb gebrochen ift. 

Diefes 8eidj, tpeldjes 3U ben Demütigen fommt nnb fte 3U 
neuen, freubigen ZTCenfdjcn madjt, erfdjließt erfi ben Sinn unb* ben 
&wed bes £ebens: fo fyat es 3cfas felbft, fo l^aben es feine 3&nger 
empfunben. Der Sinn bes £ebcns gefyt immer nur an einem 
Ubertpcltlidjen auf; benn bas <2nbe bes natürlid^en Dafeins ift ber 
Cob. <£in bem tLobe perfyaftetcs £cben aber ift finnlos; nur burdj 
Sophismen permag man ftdj über biefe (Efyatfadje fyimpeg3utäufdfen. 
fjier aber ift bas Hetdj (ßottes, bas <£tPtge, in bie Seit eingetreten. 
„Das etp'ge Ctdjt gefyt ba herein, giebt ber IDelt einen neuen 
Sdjein". ^«s ift 3efa prebigt pom Heidje (ßottes. ZtTan fann 
alles mit ifyr in Derbinbung fefecn, tpas er fonft perfünbigt I^at; 
man permag feine gan3e „Cefyrc" als Beidjsprebigt 3U f äffen. 2lber 
nodj fteberer erf ennen tptr fte unb bas <5ut, tpeldjes er meint, 
toenn tpir uns bem 3tpeiten Kreife 3utpenben, ben wiv in ber porigen 
Dorlefung be3eid?net fyahen, um an iljm bie <Srunb3Üge ber prebigt 
3cfu fortfdjreitenb fennen 3U lernen. 

2. (ßott ber Pater unb ber unenblidje Wevt ber 
ZTüenfdienfecle. 

Unmittelbar unb beutlidj läßt ftdj für unfer heutiges Dor- 
fteHen unb (Empftnben bie prebigt CEjrifli in bem Kreife ber (Sc- 



— 41 — 

kaufen erf äffen, ber burdj <5ott ben Dater unb burefy bie Der* 
fünbigung oom unenblidjen £Dert ber 2ftcnfd}cnfeele be3eid;net ijt, 
£jier fommen bie (Elemente 311m ^lusbrucf, bie tdj als bie ruljenben 
unb bte Hülfe gebenben in ber Derfünbigung 3cfu Beseidjnen 
mochte, unb bie 3ufammengeJ|alten ftnb burdj ben (Scbanfcn ber 
(gottesfmbfdjafk 3dj nenne pe bie rufjenben im Unterfdjieb von 
ben impuljtoen unb 3Ünbenben dementen, obgleich gerabe itjnen eine 
befonbers mächtige Kraft tnnetoo^nt 3^bcm man aber bie gan3e 
Derfünbigung 3ef u ö «f biefe betben Stücfe 3urücffül|ren fann — 
(Sott als ber Dater, unb bie menfdjlidie Seele fo geabelt, ba% fie 
pdf mit ifym 3ufammen3ufd)lie§en oermag unb sufammeufdjltefjt — , 
3cigt es pdf, ba% bas (Evangelium überhaupt feine poptioe Heligion 
ip urie bie anberen, ba% es nichts Statutarifdjes unb partifu- 
taripifdjes ijat, baß es alfö bie Heiig ion felbp ijt (Es ip er- 
gaben über allen (ßegenfäfcen unb Spannungen von Diesfeits unb 
3enfeits, Dernunft unb (Efftafe, Arbeit unb XDeltfhidjt, 3ftbifd}em 
nnb <5riedjifdiem, 3" <*Hcn tcaxn es regieren, unb in feinem 
irbifdjen Clement ip es eingcfd)loffen ober notoenbig mit iljm 
behaftet IDir wollen uns aber bas ZDefen ber (ßottcsfinbfdjaft 
im Sinne 3efu beutlidjer madjen, inbem tx>ir oier Sprudjgruppen 
be3to. Sprüdjc von xfyn fur3 betrachten, nämlidj \. bas Dater«Unfer, 
2. jenes IDort: „freuet eudj nidit, ba% cudj bie (Seijter unterbau 
ftnb, freuet eudj aber, ba% eure ZTamen im ^immel angef djrieben 
pnb", 3. ben Sprudj: „Kauft man nidjt 3t»ei Sperlinge nm einen 
Pfennig, xxnb bodj fällt berjelben feiner auf bie (Erbe oljne euren 
Pater; alfo pnb audj eure fjaare auf bem Eianpte ge3äfflt", ^. bas 
IDort: „ZDas fyülfe es bem 2ftenf djen, fo er bie gan3e XDelt ge- 
wönne xxnb näljme bod) SAiaben an feiner Seele". 

<3ucrft bas Dater-Unfcr. (Es ip in einer befonbers feierlichen 
Stnnbc von 3cfus feinen 3üngern mitgeteilt toorben. Sie Ratten 
ifyi aufgeforbert, er möge pe beten lehren, wie 3°^önnes feine 
3ünger beten gelehrt fyabe. hierauf fyat er bas Dater-Unfer 
gefprodjen. 5ür bie Ijö^crcn Heligioncn fxnb bie (Scbete bas <£nt- 
fdjcibenbe. Dicfes aber — bas cmppnbet 3*bcr, ber es nidtf 
gebanfenlos an feiner Seele üorübersiefyen läßt — ijt gefprodjen 
t>on €inem, ber alle innere Unruhe überwunben fyat ober pe in 
bem 2lugenblicfe überwinbet, ba er oor (ßott tritt. Sdjon bie 
2Inrebc „Datcr" 3eigt bie Sidjerl>eit bes ZHannes, ber pdf in (ßott 
geborgen roctg, unb fpridjt bie (ßeroi^eit ber (ErBjörung aus. <£r 






— 42 — 

betet nidjt, um jiürmifdje ZDünfdie gen ijtmmel 311 fenben ober 
um biefes ober jenes irbifdje (ßut 3U erlangen, fonbern er betet 
um ftd7 bie Kraft 3U erhalten, bie er fdjon beftfet, unb bie (Einlach 
mit (Sott 3U ftdjcrn, in ber er lebt. Dtefes (Bebet fann bal^er nur 
gefprodjen roerben in tieffter Sammlung bes (ßemütes unfc bei 
©oHfommenfter Konsentrierung bes (ßeiftes auf bas innere Der* 
Ijältnis, auf bas PerEjältnts 3U (Sott 2Hle anberen (ßebete fmb 
„leichter"; benn fte enthalten particulares ober ftnb fo 3ufammen« 
gefeftt, bafa fte bte ftnnlidje pfiantaftc irgenbroie mitberoegen — 
biefes (gebet füfyrt aus 2IUem fyeraus unb auf jene ^o\\e, auf ber 
bie Seele mit ifyrem (Sott allein ift. Unb bodf t>erfdm>inbet bas 
3*bifdje nid>t, bte ganse 3tx>eite fjälfte bes (Sebctes besiegt jtdj auf 
irbifdjc Dcrfyältniffe. 21ber fte ftcfyen im £idtfe bes <£a>igen. Stiles 
Sitten um befonberc (ßnabengaben, um befonbere (5üter, aud? 
geijiltdje, fudjt man vergebens. „Solches roirb eud) 2llles 3uf allen." 
Der ZTame, ber IDille, bas Heidj (ßottes — biefe ruEjcnbcn unb 
ftetigen (Elemente fmb ausgebreitet audj über bie irbifdjen Per« 
Ijältniffe. Sie fdimcl3en alles <2igcnfüdjtige unb Kleine fynrocg unb 
laffen nur oier StücFe beßefyen, berentmegen es jtdf lofynt 3U bitten: 
Das tägliche Srot, bie tägliche Sdjulb, bie täglichen Verfügungen 
unb bas 23öfe bes Cebens. <£s giebt nidjts in ben (Evangelien, 
roas uns ftdjcrer fagt/ voas (Evangelium ift, unb roeldje (ßeftnnung 
unb Stimmung es er3cugt, als bas ;/ Pater -Unf er". 2ludj foH man 
allen, bie bas (Evangelium fyerunterfefeen, inbem fte es für ettvas 
21sfetifd]cs ober (Efftatifdjes ober Sociologtfdjes ausgeben, bas 
Pater «Unf er vorhalten. Xladi biefem (Bebet ift bas (Evangelium 
(ßottcsfinbfdjaft, ausgebest über bas gan3C Ccben, ein innerer 
gufammenfdjlujj mit (ßottes IDillcn unb (ßottes TZc'xdi unb eine 
freubige (ßetvißBjeit im 23cfife etviger (ßüter unb in 23esug auf ben 
Schüfe vor bem Übel. 

Unb ber 3tvette Sprudj — wenn ^}e\rxs fagt: „5reuet eixdi 
nidjt, ba% eudj bie (ßeifter unterbau fmb, freuet eud) aber, bajj 
eure ^Tanten im f}immel angef djrieben jtnb," fo ift audf ffier mit 
befonberer Kräftigfeit ber (ßebanfe hervorgehoben, ba% bas 
Betvufjtfein, in (ßott geborgen 3U fein, in biefer Heligton bas <£nt« 
fdjcibenbe ijt. Selbjt bie größten (Traten, fogar bie XPerfc, bie in 
Kraft biefer Religion getfyan rverben, reidjen nidjt Ijeran an bie 
bemütige unb ftol3e «guverftdjt, für Seit unb (Eivigfeit unter bem 
väterlichen Sdjufee (ßottes 3U jlefyen. ZTodj me^r — bie (Edjtfyeit, 



— 43 — 

ja bie ZDirflidjfeit bes religiöfen (Erlebniffes ift toeber an ber Über- 
fd?t»englid}feit bes (Sefüfyls nodj an fidjtbaren <5roßtfyaten 3U meffen, 
fonbern an ber 5reube unb an bem 5rieben, bie über bie Seele 
ausgegeben jtnb, meldte 3U fpredjen vermag: , f ZTCein Dater." 

IDeldjen Umfang fyat 3 c f u * biefem (ßebanfen oon ber pätcr- 
liefen Dorfefyung (ßottes gegeben? fjter tritt ber brüte Sprudf 
ein: „Kauft man nidft 3roei Sperlinge um einen Pfennig? X)od? 
fallt betreiben feiner auf bie <2rbe o^ne euren Dater. Zinn aber 
finb aud? eure fjaare auf bem Raupte alle gesäblet." Sotoeit 
ftd? bie 5urd]t, ja fotoeit ftd? bas £eben erjfrecft — bas teben bis 
in feine legten Keinen Äußerungen im XIaturlauf — foroeit foll 
ftdj bie Suoerjtdjt erftreefen.: (5ott frfct im Hegimente. Die Sprudle 
von ben Sperlingen nnb oon ben Slumen bes 5*lbes fjat (Er feinen 
3üngern 3ugerufen, um iimen bie 5urd)t por bem Übel nnb bas 

■ 

5urdjtbare bes (Eobcs 3U benehmen; fte toerben es lernen, bie ^anb 
fces lebenbigen (ßottes überall im Heben unb aud] im tEobe 3U 
erfennen. 

(Enblidj — unb bies IDort roirb uns nun nidjt mefyr über« 
rafdjen — er fyat bas £jöd}fte in Se3ug auf ben Wert bes ZHcnfdjen 
gefagt, inbem er gefprocfyen: „IDas fyülfe es bem ZTCenfdjen, fo er 
bte gan3e ZDelt gewönne unb näfyme bodf Sd\aben an feiner Seele?" 
ZDcr 3U bem IDefen, bas fjimmel unb (Erbe regiert, mein Dater 
fagen barf, ber ift bamit über fjimmel unb (Erbe erhoben unb fyat 
felbft einen tDert, ber fyöfyer ift als bas <5efüge ber IDelt. 2lber 
fctefe fyerrlidje <§ufage ift in ben <2mft einer (Ermahnung ein» 
gefleibet. <Sabe nnb Aufgabe in (Einem. Wie anbers lehrten 
barüber bie <ßried?en. (Seroiß, bas fyofye Cieb bes (Seiffcs fyat 
fd?ou plato gefungen, Um oon ber gefamten IDelt ber (Erfdjemung 1 
untcrfdjieben unb feinen etr>igett Urfprung behauptet. 21ber er 
meinte ben erfenneuben (Seift, ftellte ilm ber ftumpfen unb blinben 
ZTCaterie gegenüber, unb feine 23otfd?aft galt ben IDiffenben. ^e\ns 
(Ojriftus ruft jeber armen Seele, (Er ruft 2Hlen, bie ZtTenfdjcnantlife 
tragen, 3U: 3fa W& Xhtber bes lebenbigen (Sottes unb nidjt nur 
beffer als siele Sperlinge, fonbern toertDoHer als bie gan3e JDelt, 
3dj fyabe jüngft bas Wort gelefen, ber IDert bes tDaEjrfyaft großen 
ZTTannes befiele bariu, bafo er ben Wevt ber gan3en ZHenfd^ett 
feigere. 3 n & cr Cf^at, bas ift bie fyödtfte Bebeutung großer 
ZHänncr, fie l^aben ben Wert ber ZHenfd^eit — jener ZtTenfdjfyeit, 
bie aus bem bumpf en (ßrunbe ber Zlatur auf geftiegen ijl — gefteigert, 



— 44 — 

b. fy. fortfdjreitcnb in Kraft gefegt 2lber erft burdj 3efas <£B>rifhis 
ift ber £)ert jeber eht3elnen ZHenfdjenfecle in bie (Erfdjeinung ge- 
treten, unb bas fann ZTiemanb mefjr ungefcfycfjen machen. TXlan 
mag 3U irjm felbft fteben, rote man will, bie 2lnerfennung, bajj er 
in ber <5efdjicf?te bie ZTCenfd$eit auf biefe Ejöfye geftellt fyat, fann 
ifym Xliemanb oerfagen. 

(Eine Umwertung ber IDerte liegt biefer fyödjften ZDcrtfdjäfeung 
3U <5runbe. Dem, ber fidj feiner (ßüter rüfymt, ruft er 3U: „Du 
ZTarr." 2Wen aber ijält er r>or: „Zlut wer fein Ceben verliert, 
wirb es gewinnen." (Er fann fogar fagen: „Hur wer feine Seele 
fjafjt, rotrb fte bewahren." Das ift bie Umwertung ber IDerte, bie 
oor ifyn mandje geahnt, beren IDaljrfjeit fte wie burdj einen 
Schleier gefcfyaut, beren erlöfenbe Kraft — ein befeligenbes <5e» 
rjeimnis — fte üorempfunben fyaben. (Er 3uerfl fyat es rufyg, ein» 
fad? unb ftdjer ausgefprodjen, wie toenn bas eine tDatjrfyeit märe, 
bie man von bzn Sträudjern pflücfen fann. Das ift ja bas Siegel 
feiner (Eigenart, bajj er bas (Eieffte unb (Entfdjeibenbc in pollfommener 
<£infad$eit ausgefprocfyen fyat, als fönne es nidjt anbers fein, als 
fage er etwas Selbftoerftänblidjes, als rufe er nur 3urücf, was alle 
wiffen, weil es im (ßrunbe i^rer Seele lebt 

3n bem (Sefügc: (5ott ber Datcr, bie Porfefyung, bie Kinb» 
fdjaft, ber uncnblidje IDert ber Zncnfdjenfeele, fpridjt ftdj bas 
gan3e (Evangelium aus. ZDir muffen uns aber flar madjen, n>te 
parabof bies alles ift, ja, bajj bie paraborje ber Religion erft fyer 
3U ifyrem vollen 2lusbrucf fommt. Dilles Heligiöfe — nidjt nur 
Vie Religionen — ift, gemeffen an ber fmnlicr/en (Erfahrung unb 
bem eraften IDiffen, paraboj; es wirb fyier ein (Element eingeführt 
unb für bas wtdtfigfte erflärt, meines ^n Sinnen gar nidjt er» 
fdjcint unb bem tLfyathefiatibe ber Dinge ins (Seftdjt fdjlägt. 2lber 
alle anbern Religionen ftnb irgenbwie mit bem IDcltlidjen fo ver- 
flochten, ba% fte ein irbifd) einleudjtenbes ZTüoment in ftdj tragen, 
be3tx>. bem geiftigen <§uftanb einer beftimmten (Epodje ftofflidj ver- 
wanbt ftnb. IDas aber fann weniger einleudjtenb fein als bie 
Rebe: (Eure £}aare auf bem Ejaupte finb ge3äfylct; ifyr fyabt einen 
überweltlicfyen IDert, t£^r fönnt eudj in bie Eiäribe eines IDefens 
befehlen, bas Riemanb gefdjaut Ejat. (Entweber ift bas eine ftnn- 
lofe Äcbe, ober bie Religion ift fyier 3U <£ribe geführt; fte ift nun 
nid]t me^r blos eine Segleiterf Meinung bes fmnlicfyen Cebens, ein 
£oefftcient, eine Derflärung beftimmter Ceile besfelben, fonbern 



— 45 — 

fie tritt fyer auf mit bem fouperänen 21nfprudj, bafa erjt fte unb 
fte allein ben Urgrunb unb Sinn bes Cebens enthüllt; fte unter« 
teirft ftdj bie gefamte bunte UMt ber (Erfdjeinung unb iroftt ifyr, 
wenn fte ftdj als bie allein tpirfltdje behaupten rein. Sie bringt 
nur eine (Erfahrung, aber läßt in ifn? ein neues HMtbüb ent- 
fielen: bas <£tx>ige tritt ein, bas geitlidie roirb ZTlittel 3um g>vo*d, 
ber ZHenfdi gehört auf bie Seite bes <£tx>igen. Dies ift jebenfafls 
3efu ZTTeinung getpefen; ifjr irgenb etoas absieben, fyetfct fie bereits 
3erftören. 3nbem er ben Dorfeljungs»<Sebanfen ludenlos über 
2Tlenfd$eit xxnb Welt ausbreitet, inbem er bie Wuv$eln jener in 
bie <£a>igfett 3urücFfüi}rt, inbem er bie (Sottesfinbfdjaft als (Sabe 
unb Aufgabe perfünbigt, fyat er bie taftenben unb ftammelnben 
Perfudje ber Heligion in Kraft gefaßt unb 3um 2Ibfd}lu§ gebraut. 
Xlodi einmal fei es gefagt: ZTLan mag ftdj 3U ifym, man mag ftdj 
3u feiner 23otfdjaft gellen tpie man roill, getpiß ift, bafa ftdj von 
nun an ber IDert unferes <5efd]ledjts gefteigert fyat; 2T?enfdien- 
leben, tptr felbji ftnb einer bem anbern teurer getporben, &>irflid?e 
(Efyrfurdjt por bem 2T?enfdtlidten ift, ob jte's tpeiß ober nid}t, bie 
prafttfdje 21nerfeunung (ßottes als bes Paters. 

3. Die beffere (ßeredjtigfeit unb bas <5ebot ber 
Ciebe — bies ijt ber britte Kreis unb bas gan3e (Eoangclium fann 
in biefen Hing gefaßt roerben; man tann es als eine etfyifdje 23ot« 
fcfyaft barfteüen, ofyte es 3U enttperten. 3n feinem Polfe fanb 
3efus eine reiche unb tiefe (Etfyif por. <£s ift nidjt richtig, bie 
pfyarifäifdje ZHoral lebigüdj nad\ fafuiftifdjen unb läppifd]en <£r* 
fdjeinungen 3U beurteilen, bie fte auftpeijt. Durd} bie Perfledjtung 
mit bem Kultus unb bie Derftcinerung im Hitual roar bie IHoral 
ber fjeiligfeit gewiß gerabe3U in tfyr (Segenteil pertpanbelt, aber 
nodj wax uidjt alles fyart unb tot geroorben, nodj tpar in ber 
(Liefe bes Syftems ettpas Cebenbiges porfyanben. Den 5*agenben 
fonntc 3^f u ^ antworten: „3fc k<d>t bas (Befefc, galtet es; ifyr rotßt 
felbft am beften, xvas Ujr 3U ttjun fyabt, bie fjauptfumme bes 
(ßefefees ift, roie ifyr felbft fagt, bie (Bottes* unb bie XTädiftenliebe." 
Dennodj tann man bas (Epangelium 3*f u in einem ifym eigen- 
tümlichen Kreife etfyifcfycr (5ebanfen 3um 2lusbru<£ bringen. IDir 
wollen uns bas an pier punften flar machen. 

(Erftlidj, 3*f u s löflc mit fdjarfem Schnitte bie Derbinbung ber 
(Etfyif mit bem äußeren Kultus unb ben tedtnifd^religiöfen Übungen. 
£r trollte pon bem tenben3iöfen unb eigenfüdjtigen Setriebe „guter 



— 46 — 

ZPerfe" in üerfledjtung mit bcm gottesbienjHicfyen Ritual fdjledtfer- 
bings nichts meljr unffen. (Entrüfteten Spott fyat er für biejentgen, 
bie ben ZTädjften, ja ifyre (Eltern barben laffen, aber bafür an ben 
tEempel (Sefdjenfe fdjiden. Qier fennt er feinen Kompromiß Die 
£icbe, bie 23armfyer3igfeit fyat ifyren gtoedf in fidj; jte toirb ent- 
wertet unb gefcfyänbet, roenn jte etwas anbeves als Dienjt am 
Häuften fein foll. 

groeitens, er gefyt überall in ben jtttlidjen 5^agen auf bie tOuv$el, 
b. fy. auf bie (ßcfinnuug 3urü<£. Das, was er „bcffcreCSercdjtigfeit" 
nennt, ift lebiglid? von fyier aus 311 t>erfteljcn. Die „beffere" <5eredj- 
tigfeit ijt bie (ßercdjtigfctt, toeldje befleißen bleibt, audj wenn man ben 
2Tfaßftab in bie (Liefe bes ^jc^ens fenft. tDieber fdjeinbar ctreas 
fefyr (Einfaches, Selbftoerßänblidjes. Dcnnodj fyat er biefe Wal}& 
hiext in bie fd]arfe5orm gefleibet: ,,gu ben Otiten ift gefagt roorben 
. . . . 3d} aber jage eudj." 2Hfo toar es bodj ein Heues; alfo 
umßte er, ba$ es mit foldjer Kon[equcn3 unb Souüeränctät nodi 
nidjt ausgefprodjen u>orbcn u>ar. (Einen großen tEcil ber foge- 
nannten 23ergprebigt nimmt jene Derfünbigung ein, in roeldjer er 
bie ein3elnen großen (5ebiete mcnfdjlid}er 23e3iefyungen unb menfdj- 
lieber Verfehlungen burcfygefyt, um überall bie (Sefinnung auf 311- 
beden, bie tDerfe nad\ tfyr 3U beurteilen unb fjimmel unb l^ölle 
an fte 3U fnüpfen. 

Drittens, er füfyrt etiles, toas er aus ber Verflechtung mit 
bem (Eigenfudjtigen unb Rituellen befreit unb als bas Sittliche 
erfamtt fyat, auf eine tDm^el unb auf ein 2TCotit> 3urüd, — bie 
£tebe* (Ein anberes fennt er nidjt, unb bie Ciebc ift felbft nur 
eine, mag fte als Zlädtften*, Samariter- ober 5einbesliebe er« 
f deinen, Sie foll bie Seele gan3 erfüllen; fte ij! bas, roas bleibt, 
roenn bie Seele ftdj felbcr ftirbt. 3n biefem Sinne ift bie Ctebe 
bereits bas neue Cebcn. 3mmer aber ift es bie Ciebc, bie ba 
bient; nur in biefer 5unfiion ift jte oorfyanben unb lebeubig. 

Viertens, tt>ir fyaben gefefyen, 3efus fyat bas Sittliche heraus* 
geführt aus allen ifym fremben Pcrbinbungen, felbft aus ber Per- 
fnüpfung mit ber öffentlichen Heligion. Die fyaben xfyx alfo nidjt 
mijjJDerftonben, bie ba erflärten, es Ijanble ftdj im (Eoangelium um 
bie gemeine ZTCoraL Vinb bodj — einen entfdjeibenben punft 
giebt es, an roeldjem er bie Heligion unb bie ZTToral 3ufammen« 
binbet Diefer punft roill empfunben fein; er läßt jtdj nidjt leidjt 
faffen* 3m f}inblid auf bie Seligpreifungen barf man ifyn x>iel« 



— 47 — 

leidjt am bejten als bie Demut. be3eicfynen: Demut unb £iebe fyat 
3c[us in ein (Eins gefefet. Demut ift feine ein3elne tEugenb, fonbem 
fte ift reine Cmpfänglidjfeit, 2Iusbrucf innerer Sebürftigfeit, Sitte 
um (5ottes (5nabe unb Pergebung, alfo SlufgefdjIoffenEjeit gegen- 
über (ßott. Von biefer Demut, meiere bie (Sottesliebe ift, bie toir 
5U leiften permögen, meint 3efus — benfen Sie an bas (ßleicfynis 
vom pfyarifäer unb §oünet — , ba% fte bie ftetige Stimmung bes 
(5uten ift, unb ba% aus tB^r alles (Sute quillt unb tx>äd#. „Pergieb 
uns unfere Sdjulb, u>ie mir ©ergeben unfern Sdjulbigern", bas ijt 
bas (Sebet ber Demut unb ber £iebe 3ugteidj. 2Hfo fyat aud} bie 
£iebe 3um Zläd\fen fyer üjren Queüpunft; bk (Seijtlidj-Strmen 
unb bie fjungernben unb Dürftcnben fmb auch bie 5nebfertigen 
unb 23armfyer3igen. 

3n biefem Sinne ift ZHoral unb Heligion burdj 3efus ©er- 
fnüpft toorben; in biefem Sinne fann man bie Heligion bie Seele 
ber ZTCoral unb bie ZTToral ben Körper ber Heligion nennen. Von 
fyer aus ©erfiefyt man, toie 3*fas (5ottes- unb XTäcfyftenliebe bis 
3ur 3bentip3ierung aneinanberrücfen fonnte: bie XTädjftenliebe ift 
auf (Erben bie eitrige 33etfjätigung ber in ber Demut lebenbigen 
(Sottesliebe. 

3nbem 3^f us fä n * prebigt von ber befferen (Seredjtigfeit 
unb bem neuen (Schot ber £iebe in biefen ©ier fjauptgebanfen 
3um 2hisbru<£ gebracht Bjat, t|at er ben Kreis bes (Etfyfdien in 
einer IPeife umfcfyrieben, roie it|n nod] ZItemanb cor ifym um- 
fcfyrieben fyatte. Wenn pdf uns aber 3U ©erbunfein brofjt, t»as er 
gemeint Bjat, fo roollen toir uns immer roieber in bie Seligprei- 
fungen ber 23crgprebigt oerfenfen. Sie enthalten feine <£tfyf unb 
feine Heligion, in ber XDur3el oerbunben unb ©on allem äußer- 
lichen unb partifularen befreit. 



Jünfh EarlBfuttg. 



2lm Sdtfuffe bcr lefetcn Porlefung fjabe idj auf bie Selig« 
preifungen pertpiefen unb in Kür3c angebeutet, ba$ ftc in befonbers 
einbrucfspoller IPeife bic Hetigion 3*f u barftcllen. 3d? möchte Sic 
an eine anbere Stelle erinnern, tpelcrje 3cigt, ba% 3e[us in bcr 
Übung ber XTädjftenliebc unb SarmljersigFcit bie eigentliche 33c» 
iijätigung ber Heligion erfannt b^at 3" einer feiner lefeten Heben 
l>at er pom (Bericht gefprodjen wn^) in einem (Sleicfyniffe es anfdjau- 
lidj gemacht, nämlich, in bem <5lcid}ntjfe pom Wirten, ber bie Sdjafe 
unb bie 23öcFe fdjcibet. Den einigen Sdjcibungsgrunb aber bilbet 
bie 5*age bcr 23armBier3igfeit. Sie urirb in bcr 5orm aufgetporf en, 
ob bie ZHenfcrjen 3fyn felbft gefpeift, getränft unb bcfudjt traben, 
b. fy fxe roirb als religio fe 5ragc geftcllt; bie paraborie tpirb 
t>ann aufgehoben in bem Safec: „Was ifyr bem <5eringften unter 
meinen Brübcrn getfjan fyabt, bas fyabt it^r mir gctfyan." Deut- 
licher fann man es nidjt por bie klugen malen, bafa im Sinne 
3cfu 23armijer3igfcit bas <£ntfdjeibenbc ift, unb ba% bie (ßcfmnung, 
in ber fte geübt roirb, audj bie richtige religiöfe Haltung per- 
bürgt, inwiefern? Weil bie CTlcnfdjcn in ber Übung biefer 
(Eugenb (Sottcs nadjafymer ftnb: „Seib barmfycr3tg tpie euer Pater 
im £)immcl barmfyersig iji" T>as 2Tfajcftätsrcdjt (5ottes übt, toer 
33arml}cr3igfeit ixbt; benn (Sottcs <5erecb,tigFeit poltycrjt ftdj nidjt 
nad\ bcr Hegel: „2luge um 2Iuge, Sabin um §abin", fonbern ftefy 
unter bcr ZTTacrjt feiner Sarmrjcrjigfcit. 

£affcn Sie uns einen 2lugenblicF fyer penpeilen: es u>ar ein 
ungeheurer 5ortfdjritt in ber (Sefdn'djte ber Heligion, es tpar eine 



j 



— 49 — 

neue Heligionsftiftung, als einerfeits in (Sriedjcnlanb burdj Didier 
unb Senfer, anbererfeits in paläftina burd] bie Propheten bie 3bee 
ber <5eredjtigfeit unb bes geredeten (Sottes lebenbig mürbe unb bte 
überlieferte Heligion umbilbete. 2)ie <5ötter nmrben auf eine fjöJ>ere 
Stufe gehoben unb perftttlidjt; ber friegerifdje unb unberedjen* 
bare ^liovaii würbe 3U einem ^eiligen tt)efen, auf beffen (Bericht 
man ftcl^ perlajfen fonnte, roenn audj in 5urdjt unb Sittern. 2)ie 
beiben großen <5ebiete, bie Heligion unb bie ZHoral, bisher ge- 
trennt, rüdften nafye 3ufammen; benn „bie (Sottfyeit iji heilig unb 
geredet". Was [xdi bamals enttpicfclt fyat, ift unfre (Sefdjidjte; 
benn es gäbe überhaupt feine „Zirenfd^eit", feine „XDeltgefdjidjte" 
im ^öl^eren Sinn otjne jene entfdjeibenbe IDanblung, 3^e näd^jie 
5olge läßt ftdj in bie ZHa^ime 3ufammenf äffen: „Xüas itjr nidjt 
trollt, ba% eudj bie Ceute t^un, bas tfyut itjnen audf nidjt." 
Diefe Hegel, fo nüchtern unb bürftig fte erfdjeint, enthält bodj eine 
ungeheure ftttigenbe Kraft, roenn pe auf alle menfdjlidjen 23e3ie« 
fyingen ausgebest unb mit (Ernjl beobachtet ipirb. 

21ber jte enthält bodj nidjt bas Ccfete. Qev lefcte mögliche 
nnb nottpenbtge 5ortfd]ritt tpar erft ponogen — trieberum eine 
neue Heligionsftiftung! — , als ftd? bie <Sered}tigfeit ber 23arm* 
I}er3igfeit untertperfen mußte, als ber (Sebanfe ber Srüberlidjfcit 
nnb ber Aufopferung im Dienjte bes Hädjften fouperän mürbe* 
Die ZHajime fdjeint audj biesmal nüchtern — „Was ifyr roollt, 
bas eudf bie Ceute tfyun, bas tfyut ifjnen audj" — , unb bodj fufjrt 
fte, richtig perftanben, auf bie fjöljc unb fdjlicßt eine neue Sinnes* 
tpeife unb eine neue Beurteilung bes eigenen £ebens ein* Der 
<5ebanfe: „Wet fein Heben perltert, urirb es gewinnen", ijt un« 
mittelbar mit ifjr gefeftt unb bamit eine Umwertung ber IDerte 
in ber (Setrnßfyeit, ba$ bas voatyce Heben nidjt an biefe Spanne 
&e\t gefnüpft ift unb nidjt am fmnlidjen Dafein fyaftet. 

3dj fjoffe bamit, wenn and) in Kür3e, ge3eigt 3U fyabcn, ba% 
<xud\ in bem Kreife ber <5ebanfen 3efu, ber burdj bie „beffere <5e- 
redjtigfeit" unb bas „neue <5ebot ber £iebe" be3eidjnet ift, bas 
(5 a n 3 e feiner £efyrc enthalten ift 3 n ^ex CE^at, jene brei Kreife, 
roeldje tpir unterfcfyeben fyaben — bas Heidi <5ottes, (5ott als ber 
Pater unb ber unenblidjc XDert ber HTenfdjenfcele, bie in ber £iebe 
jtdj barfteüenbe „beffere" (Sercdjtigfeit — fallen 3ufammen; benn 
bas Heidi (Sottes ift lefctlidi nichts anberes als ber Sdjafc, ben bie 
Seele an bem ctoigen unb barmfye^igen (Sott bcftfct, unb pon ljicr 

§ a r n a cf , Das ZPefen bes Cfjriftentums. 4 



— 50 — 

aus lann in wenigen Strichen alles entwicFclt werben, was bie 
(E^riflcn^eit als Hoffnung, (51aubc unb £iebe auf (ßrunb 6er 
Sprüche 3efu erfannt ijat unb fcftfyalten will* 

Xütr ge^en weiter. Ztadjbem wir bie (ßrun&süge ber Per« 
fünbigung 3 e f u fcftgefleüt fjaben, verfudjen wir, in bem 3wetten 
2tbfd]nitte bte £jauptbe3iel}ungen bes (Evangeliums im 
ein 3 einen ju beljanbeln. Xüir lieben fedjs punfte bejt». 5^agcn 
Ijervor, bie, weil jte an frdj bie wicfyigjten ftnb, audj su allen 
geiten als foldje empfunben unb beurteilt würben. Unb mag audj 
im Caufe ber Kirdjengefdiidjte bie eine ober bte anbere 5rage einige 
3aBir3efytte Bjinburdj in ben fjintcrgrunb getreten fein, fo feierte fte 
bodj immer wieber, unb 3war mit verboppelter Kraft, 3urü<£: 

\. Das (Evangelium unb bie tDelt, ober bie 5^agc ber 2lsfefe, 

2. Vas (Evangelium unb bie 2lrmut, ober bie fo3iale 5*age, 

3. 7>as (Evangelium unb bas Hedjt, ober bie frage nadj ben 
irbifdjen ©rbnungen, 

%. Das (Evangelium unb bie Arbeit, ober bie 5*age ber Kultur, 

5. Vas (Evangelium unb ber (Sottesfofyn, ober bie 5^age ber 
(Qjriftologie, 

6. Das (Evangelium unb bie Cefyre, ober bte frage nadi bem 
Scfenntnis. 

2tn biefen fedjs 5^^gen — bie vier erflen gehören 3ufammen, 
bie beiben folgenben ftefyen für ftdf — fjoffe id], bie widjtigjku 
Se3iet|ungen ber Perfünbigung 3efu, freiließ nur in Umriffeu, 
barftellen 3u tonnen. 

\. Das (Evangelium unb bie XDelt, ober bte 5rage ber 

Slsfefe. 

(Es tji eine weitverbreitete ZHeinung — in ben fattjolifc^cn Kir- 
chen Bjerrfdjt fte, unb viele protejtonten teilen fte Bleute — , bas Evan- 
gelium fei im legten (ßrunbe unb in feinen widjttgjkn 2lnweifungen 
jhreng weltflüdjtig unb asfettfdj. 2)ie einen verfünbigen biefe „(Er- 
Fenntnis" mit (Teilnahme unb Sewunberung, ja fte fteigern fte bis 
3U ber Sefyauptung, eben in bem weltverneinenben <£fyarafter liege, 
wie im Subbfjismus, ber gan3e IDert unb bie 23ebeutung ber ge- 
nuinen djriftlidjen Heligion befdjloffen. Die anbeten betonen bie 
weltflüdjtigen £efyren bes (Evangeliums, um baburdj feine Hnver- 



— 51 — 

einbarfeit mit ben mobernen ftttlidjen (ßrunbfäfcen bar3utf}iut unb 
bte Unbraudjbarfeit biefer Heligion 311 erroeifen. (Einen eigentüm- 
lichen 2lust»eg, eigentlich ein probuft ber Per3u>eiflung, Ijabcn bie 
fatfjolifdjen Kirdjen gefunben. Sic erfennen, t»ie bemerft, ben 
ireltperneinenben Gjarafter bes (Epangeliums an unb lehren bem 
cutfpredterib, ba% bas eigentliche dtrifHidje Heben nur in ber 5orm 
bes ZlTönditums — bas ijt bie „vita religiosa" — 3um 2Iusbrucf 
fomme; aber fte laffen ein „nieberes" (Diriftentum ofyne 2lsfefeals 
„nodj ausreidjenb" 3U, Diefe merfnmrbtge Kon3effion mag fyer 
auf ftdj berufen bleiben: ba% bie polle XTadjfolge (Eijriftt nur ben 
Ztlöndien möglich ift, ift fatBjolifdje Cefjre. ZTIit iBjr t|at ein großer 
pfylofopfy unb nodj größerer Sdtriftfteller unferes 3afyrfyunberts 
gemeinfame Sadje gemacht: Schopenhauer feiert bas (Diriftentum, 
n?eil unb fofem es große 2Isfeten wie ben ^eiligen Antonius ober 
ben ^eiligen Sranciscus enoeeft fjat; was barüber Bjinausltegt in 
ber djrifüicfyen Perfünbigung, erfdjeint ifyn unbrauchbar nnb an* 
ftößig. 3« Dtel tieferer Betrachtung als Schopenhauer nnb mit 
einer Bjinreißenben Kräftigfeit ber (Empftnbung unb TXlaitt ber 
Sprache t|at (Eoljtoi bie asfetifcfyen nnb roeltflüditigen £>üge bes 
(Eoangeliums ausgehoben unb 3ur Jttadjaditung 3ufammengefaßt, 
TXlan tonn audj nidjt ©erfennen, ba% bas asfetifdje 3beal, tpeldjes 
er bem (gpangelium entnimmt, »arm unb ftarf tfi unb ben 5)ienjt 
am XWdjjten einfdjließt; aber bie tDeltfludjt erfcfyeint andi bei xfyn 
als bas (Efyarafterißifdje. (Eaufenbe unferer „(Sebilbeten" laffen 
flcf^ burdj feine £r3äfylungen an* unb aufregen; aber im tiefften 
(ßrunbe ftnb fte beruhigt unb erfreut, ba% bas (Dfriftentum IDett* 
oerneinung bebeutet; benn nun tpiffen fte befHmmt, ba% es fte nichts 
angebt ZITit Hedjt ftnb fte nämlidf geu>iß, ba% ifynen biefe Xüelt 
gegeben ift, um ftcfy innerhalb ifyrer (ßüter unb ©rbnungen 3U 
berpäfyren; ©erlangt bas (Efyriftentum ettpas anberes, fo ifi feine 
rDibernatürlicljfeit erliefen, IDeiß es biefem Heben feinen &ooed 
3u fefeen, perfdjiebt es alles auf ein 3*nfeits, erf lärt es bie irbifcfyen 
(ßuter für untpert nnb leitet es ausfdjlicßlidi 3ur XDcltfludjt unb 
3U einem befdjaulidjen Geben an, fo beleibigt es alle tOjatfräftigen, 
ja le^tüdi oUe tpaBjrljafiigen ZTaturen; benn biefe ftnb geunß, ba% 
uns unfre 5äfygfeiten gegeben ftnb, bamit roir fte gebrauchen, unb 
bie <£rbe uns 3ugetr>iefcu ijt, bamit urir fte bebauen unb beljerrfdjen* 
Tibet ifi bas (gpangelium nidjt rpirflidj tpeltperneinenb? <£s 
fin& fcfyr befaitnte Stellen, auf bie man ftd} beruft unb bie eine 

4* 



— 52 — 

önbere Deutung nidft 3U3ulajfen f feinen: „ärgert btdj bein 2luge, 
fo reiß es aus unb totrf es t>on btr; ärgert bidj bebte £}anb, fo 
fyane fte ab/' ober bie 2Intoort an ben reichen Jüngling: „<5elje 
i^in unb ©erfaufe alles, t»as bu fjaft, fo roirft bu einen Sdjaft 
im fjimmel ijaben," ober bas lüort ©on benen, bie jtdj um bcs 
Himmelreichs n>iHen felbfi ©erf dritten Ifaben, ober ber Sprudj: „So 
jemanb 3U mir fommt unb Raffet nidjt feinen Pater, ZTCutter, Xüexb, 
Kinber, Srüber, Sd|n>ejtern, audj ba3U fein eigenes Heben, ber fann 
nidft mein 3ünger fein." Xladt biefen IDorten unb anberen fdfetnt 
es ausgemacht, ba% bas <£t>angelium burdjaus n>eltflüd}tig unb 
asfctifdj ift 2tber idj jlelle biefer (Efyefe brei Betrachtungen 
gegenüber, bie in eine anbere Sichtung führen, Die erjle ift aus 
ber 2lrt bes Auftretens 3efu unb aus feiner Cebensfüfyrung unb *an> 
n>eifung gewonnen; bie 3»eite grünbet ftdj auf ben (Einbrucf, ben 
feine ^üngev von xfyn gehabt unb in ifyrem eigenen Heben roteber« 
gegeben l\aben; bie britte enbtidj a>ur3elt in bem, was mir über 
bie „<Brunb3Üge" bes (gpangeltums ausgeführt liaben. 

\. 3 n unferen <£pangelien ftnben mir ein merfanirbiges IDort 
3efu; es lautet: „3ofymnes tft gefommen, aß mdjt unb tranf nidjt; 
fo fagen fte: <£r liat ben (Eeufel. Des ZTCenfdjen Sofyn ift gefommen, 
iffet unb trinfet; fo fagen fte: Ste^e toie ift ber ZHenfdt ein 5*effer 
unb ein tDeinfäufer." 2Hfo einen 5reffer unb IDeinfäufer fyat man 
tfyt genannt neben ben anberen Sdtmäfytamen, bie man tljm gab. 
hieraus gel|t beutltdj Bjerpor, ba% er in feiner gan3en Haltung unb 
£ebenstx>etfe einen anberen ©nbrudf gemacht fyat als ber große 
Bußprebiger am 3orban. Unbefangen muß er ben (Bebteten, 
auf benen Ejerfömmltdj 2lsfefe getrieben tourbe, gegenüber geftanben 
fyaben. XOxt feigen i^rt in ben Rufern ber Heidjen unb ber Firmen, 
bei ZHali^eiten, bei 5*auen unb unter Kinbern, nadf ber aber« 
lieferung audj auf einer Hoheit. <£r lägt pdf bie 5üße roafdfcn 
unb bas Eiaupt falben. IDeiter, er fefyrt gern bei ZTfaria unb 
Znartfja ein unb ©erlangt ntdjt, ba% fte ifyr H aus vedaflen. 2Lud\ 
btejenigen, bei benen er freubig einen ftarfen (Slauben ftnbet, läßt 
er in ib^rem Beruf unb Stanb. Wit fyören nidjt, bafa er iEjnen 
3uruft: (Bebt alles preis unb folgt mir nad). Stugenfdfeintidj i}äli 
er es für möglich, ja für angemeffen, ba% fte ifyres (Blaubens an 
ber Stelle leben, an bie jte (Sott gebellt ijat. Sein 3üngerfreis 
erfdjöpft ftdj nidjt in ben menigen, bie er 3U btrefter Jtfadifolge 
aufgerufen fjat. (ßottesfinber ftnbet er überall; fte in ber Vex> 



— 53 — 

borgenfyeit 311 entbecfen mxb xfyxen ein Wovt ber Kraft fagen $u 
bürfen, ifi üjm bie fyödjjte 5*eube, 2lber audj feine 3ünger E^at 
er nidjt ab einen ZTCöndjsorben organiftert: n>as fte 3U tfyun unb 
3U laffen Ijaben im £eben bes Cages, barüber ijat er ifynen feine 
Dorfdjnften gegeben. Xüer bie £t>angelien unbefangen lieft unb 
uidjt Silben jtfdjt, ber muß erfennen, ba% man biefen freien unb 
lebenbigen (Seift nidjt unter bas 3 0C *t &** 2lsfefe gebeugt ftnbet, 
unb ba$ bafyer bie tDorte, bie in biefe Hidjtung roeifen, nidjt 
oerfteift unb verallgemeinert toerben bürfen, fonbern in einem 
roetteren Sufammenfyange mxb von einer fjöfjeren XDarte 3U beur- 
teilen ftnb. 

2. <£s tft gen>i§, ba% bie ^üngex 3efu iijren ZTCetfter nidjt 
als toeltflüdttigen 2lsfeten perftanben Bjaben. Ä?ir »erben fpätcr 
feigen, u>eldje ©pfer jte für bas <£pangelium gebraut nnb in 
tt>eldjem Sinne fte auf bie Xüelt pe^idjtet fyaben — aber offenbar 
ift, fte $aben nidjt asfetifdje Übungen in ben Porbergrunb gefteUt; 
fte Ejaben bie Hegel aufrecht erhalten, ba% ein Arbeiter feines 
£ofynes roert fei; fte fyabm ifyre grauen nidft fortgefdjicft. Von 
petrus u>irb uns 3ufäHig er3äfylt, ba% ifyn fein XDetb auf feinen 
HTifftonsreifen begleitet fjat Wenn wxx von bem Seridfte über 
fcen Perfudj in ber (Semeinbe 3U 3erufalem abfegen, eine 2lrt t>on 
Kommunismus fyer3uftetlen — nnb wxx bürfen ifyx bei Seite laffeu, 
fca er unsuperläfftg ift unb ber Perfud} aufcerbem nidjt asfetifdjen 
<£fyarafter getragen fyat — , fo ftnben urir im apoftoltfdjen Zeitalter 
nichts, was auf eine (ßemeinfdjaft prin3tpietter 2lsfcten fynbeutet, ba» 
gegen überall bie Überseugung als bie fyerrfdjenbe, ba% man in feinem 
33eruf unb Stanb, innerhalb ber gegebenen Perijältnifje, ein (Efyrift 
fein folL XDie anbexs ift bem gegenüber pon Anfang an im 
3ubbt|ismus bie <£nt tr>i<£lung ©erlaufen! 

3. — bas ift bas (Entfdjeibenbe — : xd\ erinnere Sie an bas, 
was wxx in 23e3ug auf bie leitenben (ßebanfen 3*fu ausgeführt 
liaben. 3 n ben Hing, ber burdj <5ottpertrauen, Demut, Sunbtn» 
pergebung unb Xtädjftenliebe be3eidjnet ift, fann feine anbere 
ZTCajime, am tpenigftcn eine gefefclidje, eingefdjoben n>erben, unb 
er madjt es 3ugleidj offenbar, in tpeldjem Sinne bas (Bottesreidj 
bie „IDelt" 3U ifyrem (Begeufafee fyat. 10er ben IDorteu: „Sorget 
nidjt", „Seib barml?er3ig wie euer Pater im ^immel barmliersig 
ift", ic. etwas 2lsfetifd]es mit bem 2Infprud} auf gleiche IDert- 
fdjäfeung 3uorbnet, ber perjleljt ben Sinn unb bie ^oljeit biefer 



— 54 — 

Sprüdfc nidjt, bcr ijat bas (ßefüfyl bafür perlorcn ober nod? ntcf?t 
gewonnen, ba% es einen Sufammenfdflu§ mit (Sott giebt, bcr alle 
fragen bcr ZDelifhidtf unb 2lsfefe hinter ftdj läßt 

2Ius biefen <5rünbcn muffen txrir es ablehnen, bas fipangelium 
als eine 23otfdjaft bcr IDeltpemcinung 3U perfteljen. 

2Iber 3efas fpridjt pon brei 5etnbcn, unb iljnen gegenüber 
giebt er nidjt bie £ofung aus, fie 3U fliegen, fonbern er befiehlt, 
fte 3U permdjten. Diefe brei 5*tnbe finb ber ZHammon, bie 
Sorge unb bie Selbflfudjt, Seact^ten Sie tpofyl, pon 5ludjt ober 
Verneinung tj! fyer nietet bie Hebe, fonbern pon einem Kampfe, 
ber bis 3ur Vernichtung geführt toerben fofl; jene fingern HTädjte 
f ollen niebergerungen werben. Unter HTammon perftetjt er irbifdjes 
(Selb unb (5ut im roeiteften Sinn bes tDorts, irbifdjes (Selb unb 
<ßut, welches pdf 3um £}errn über uns unb uns 3U {Tyrannen über 
anbere machen u>iH; benn (Selb ift „geronnene (Betpalt". Wie 
pon einer perfon rebet bafyer 3efus pon biefem 5einbe, tpie u>enn 
es ftdj um einen gewappneten Hüter ober um einen König, ja 
wie wenn es ftdj um ben tEeufel felbji fianbette. ^}fyn gegenüber 
gilt bas Wovt: „3^* Mnnct nid?t 3tpeien ^erm bienen." Wo nur 
immer irgenb etwas ans bem (Bebiete biefes ZTCammons einem 
HTenfdjen fo toertpoll tsirb, ba% er fein ^er3 bavan Bjängt, baß 
er por bem Verlüde 3ittert, ba% er ntdjt mefyr bereit tjl, es miflig 
preis3ugeben, ba ift er fdjon in 23anben gefdjtagen. Deshalb foH 
ber (Ojrift, wenn er biefe (Befafyr für ftdj füfylt, nidjt paftieren, 
fonbern fämpfen, unb nidjt nur fämpfen, fonbern ben OTammon 
abtfyun. <&ewi%, wenn (E^rifhis Bleute unter uns prebigte, er 
toürbe ba nidjt allgemein reben unb allen 3urufen: „(Seht 
alles tpeg," aber 3U (Eaufenben unter uns tPÜrbe er fo fpredjen, 
unb ba% taum (Einer ftdj pnbet, ber jene Sprüche bes <£pange« 
liums auf ftdj be3ietjen 3U muffen meint, foll uns rpofy bebenfltdj 
machen. 

Unb bas 5n>eite iji. bie Sorge. <£s mag uns auf ben erften 
23licf befremblid} erfdjeinen, ba% fte pon 3efus als ein fo furcht* 
barer $exnb be3eidjnet roirb. £r rechnet fte 3um „fjeibentum". 
gnxtr Bjat audj er im Vaterunfer beten gelehrt: „Unfer 23rot für 
ben morgenben (Eag gieb uns (Tag um Cag"; aber foldje 3M>er« 
ftdftlidje Bitte nennt er nidjt Sorge. <£r meint jene Sorge, bie 
uns 3U furdjtfamen Sflapen bes tEages unb ber Singe madjt, jene 
Sorge, burdj rpeldje «>ir ftüdroeife .an bie Welt perfallen. Sie iß 



— 55 — 

ifyn ein Tittentat (Sott gegenüber, ber bie Sperlinge auf bem Dadje 
erhält; fte serjtört bie (Srunbbe3iefyung 3um fyimmlif djen Pater, bas 
finbltdje Pertrauen, unb pernidjtet fo unfer inneres IPefen. 2Iudj 
in biefem punfte, roie in 23e3ug auf ben 2Tüammon, muffen roir 
befennen, nidjt ernft unb tief genug 3U empfmben, um ber prebigt 
3efu in pollem Umfang Hedjt 3U geben, 2Iber es fragt pdf, roer 
redjt Bjat — <£r mit bem unerbittlichen „Sorget nidtt" ober u>ir 
mit unferen 21bfd?roäd}ungen — , unb eiroas baoon füllen roir 
tpofyl, ba% ein UTenfdj bann erfl roirfftcf^ frei, fräftig unb unüber- 
roinblidj ift, wenn er alle feine Sorge abgeftreift unb auf (Sott 
geroorfen Ijat. XPas tonnten tx>\v ausrichten unb roeldje ZTTad^t 
tpürben roir bepfeen, roenn roir nidjt forgten! 

Unb enblidj brittens: bie Selbftfudjt. Selbftoerleugnung, 
nidjt Slsfefe tft es, was 3efus B^ier perlangt, Selbfroerleugnung 
bis 3ur Selbftentäufcerung. „ärgert bidj bein 21uge, fo reiß es 
aus; ärgert bidj beine Eianb, fo fyaue pe ab." Wo nur immer 
ein pnnlidjcr Crieb in bir übermächtig roirb, fo ba% bu gemein 
roirft ober bir ein neuer Xjerr in beiner ©genlup entfielt, ba foHfl 
bu tfyn pcmidjten — nidjt, tpeil bie Perftümmelten gottroofylgefälltg 
finb, fonbern roeil bu bein befferes Ceil anbevs nidjt 3U beroafyren 
permagji Das if! ein partes IPort. <£s roirb audj nidjt erfüllt 
fcurdj eine generelle Per3iditleifiung, roie bie 2Ttöndje fte üben — 
nadj tfjr tann alles beim alten bleiben — , fonbern nur burdj 
einen Kampf unb bie entfdjfoffene (Entäußerung am entfdjeibenben 
punfte. 

2IHen biefen 5«inben, bem ZTCammon, ber Sorge unb ber 
fSelbftfudjt, gegenüber gilt es, Selbftperleugnung 3U üben, unb 
bamit ift bas Perfyäftnis 3ur Slsfefe beftimmt* Diefe behauptet 
fcen Unroert aller irbifdjen (5üter an fidj. Dürfte man aus bem 
<£pangelium eine ©jeorie entroicfeln, fo roürbe man nidjt auf biefe 
Cefjre geführt; benn „bie (Erbe ijl bes £}errn, unb was barinnen 
tp". 21ber nadi bem cgpangelium foll man fragen: Können unb 
bürfen mir Sepfe unb (Efyre, 5*cunbe unb Vexwanbte (ßüter fein, 
ober fyabe idj fte ab3uifyun? IPenn einige Sprüche 3*fu uns fyier 
in genereller 5öffung überliefert unb roofy aud\ fo gefprodjen 
ftnb, fo pnb fte nadi bem (Sefamtinfyalt ber IReben 3U begre^en* 
fjeiltge Selbjtprüfung, ernpe XPadjfamfeit unb Pernidjtung bes 
(ßegners perlangt bas fipangelium. Darüber aber fann fein 
Sroeifel fein, bafa 3efus in piel größerem Umfange, als roir es 



— 56 — 

gern voa&iv haben tpoflen, Selbftoerfeugnung unb fintäugerung 
perlangt fyat 

5öffen tpir 3ufammen: 2lsfetifdf im prin3ipieflen Sinn bes 
tOovts ift bös (Epangelium nidjt; beim es ifi eine Sotfdjaft von 
bem (Sottpertrauen, ber Demut, ber Sünbenpergebung unb ber 
23armfyer3igfeit: an biefe ^öfye reicht nidjts anberes fyeran, unb 
in biefen Hing fann fidj nichts anberes einbrängen. IDeiter, bie 
irbif dien (Süter fmb nidjt bes (Teufels, fonbern (Softes — „£uer 
fyimmlifdjer Pater tpeifc, ba$ tfyr bies alles bebürft; er f leibet bie 
Cilien unb ernährt bie Dögel unter bem Fimmel." 2lsfefe fyat 

f überhaupt feine Stelle im <£pangelium; es ©erlangt aber einen 
Kampf, ben Kampf gegen ben ZHammon, bie Sorge unb bie 

I Sclbftfudjt, unb es ©erlangt nnb entbinbet bie £iebe, bie ba 
bient unb fidf opfert 3ener Kampf unb biefe £iebe ftnb bie 
„2lsfefe" im epangelifdjen Sinn, unb tper bem (Epangelium 3efu 
eine anbere aufbürbet, ber perfennt es* <£r perfennt feine Xjofjeit 
unb feinen <£rnft; bznn es giebt nodj etoas <£rnfteres als „feinen 
Ceib brennen laffen unb feine fyabe ben Firmen geben", nämlidj 
Selbftperleugnung nnb £iebe, 

2. Das <£pangelium unb bie 2lrmut, ober bie fosiale 

5rage. 

Dies ift bie 3u>eite 23e3iefyung bes (Epangeliums, tpelcfye toir 
ins 2Iuge faffen ipollten, unb jte ift mit ber erjten nal\z pertpanbt. 
2ludj B^ier lieber begegnen uns in ber (Segentpart perfdjiebene 
2lnfdjauungen, be3tp. 3tpei 2lnfdjauungen, bie ftdf gegenüber jtefyen, 
Die einen fagen uns, bas <£pangeltum fei in ber £}auptfadje eine 
große fo3ta(e 23otfd]aft für bie Firmen getpefen, alles anbere an 
ifyn fei cttpas Sefunbäres — 3eitgefd]id)tlidje füllen, alte Über- 
lieferungen ober Umbtlbungen burdj bie erften Generationen. 3efus 
fei ein groger fataler Heformer getpefen, ber bie in tiefem <£lenb 
fdjmadjtenben unteren Stänbe fyabe befreien tpollen; er fyabz ein 
fo3iales Programm aufgeftellt, tpeldjes bie (ßletdjfyeit aller ZHenfdfen, 
bie Befreiung aus tpirtfcfyaftlidjer Xlot unb bie (Erlöfung pon Drucf 
unb Übel enthalten \\abe. So allein, fügen fte fyn3U, fönne mau 
il?n perjkfyen, unb fo fei er getpefen, ober ptelleidjt — tpeil tpir 
ifyn nur fo perftefyen fönnen, ip er fo getpefen. Seit 3afyren 
roerben Srofcfyüren unb 23üdjer in biefem Sinne über bas <£pan* 



— 57 — 

gelium gefdjrieben, gutgemeinte Darstellungen, bie 3*f U5 <ö|rij!us 
auf biefe IDeife perteibigen unb empfehlen toollen« 2tber unter 
benen, toeldje bas fipangelium für eine rpefentlidj fo3iale ^3olfrf?aft 
galten, finben jtdj audj foldje, bie ben umgefefyrten Schlug 3ieBjen, 
3nbem jte naefoutpeifen fudjen, t>a% in ber üerfünbigung 3efu 
alles auf eine tpirtfdjaftlidje Umgeflaltung hinauslaufe, erflären 
jte bas <£t>angelium für ein gan3 utopifdjes, unbrauchbares Pro- 
gramm: 3efus fdjaute mit einem fanften, aber blöben SlicF in 
biefe XDelt Bjinein; aus bm unteren unb gebrüdften Stäuben auf- 
tauditnb, teilte er ben Strgtpofyt ber Meinen £eute gegen bie (Srofjen 
unb Heidjen, perabfdjeute allen geroinnbringenben ^anbel unb tDanbel, 
perfannte bie Ztotoenbigfeit bes (Suterenperbs unb fpielte bemge- 
mag fein Programm barauf hinaus, eine allgemeine 2trmut in ber 
„IDelt" — bafür fyielt er paläftina — 3U perbreiten unb bann im 
(Segenfafee 3U bem irbifdjen (Elenb fein „fjimmelreidj" 3U erbauen, 
ein Programm, an jtdj unburdjfüljrbar unb fräftige Naturen ab* 
jiofcerib. So ungefähr urteilt ein anberer (Teil unter benen, bie 
bas (Epangelium mit einer fo3ialen öotfdjaft ibentifeieren. 

2Iber biefer (Sruppe, bie, in ber Betrachtung einig, in ber 
Beurteilung auseinanber geljt, jtefycn anbere gegenüber, bie einen 
gan3 entgegengefefeten (EinbrucF pom (Epangelium aufgenommen 
liaben. Sie erflären, jebe birefte Ceilname 3^f u an ben tPtrt- 
fdjaftlidjen unb fo3ialen 3\x$änbtn feiner Seit, unb nodj mefyr, 
jebe prin3ipielle {Teilnahme an öfonomifdjen 5*agen überhaupt 
toerbe in bas (Epangelium lebiglidf Bjineingelefen; biefes liabe mit 
tpirtfdjaftlidjen 5n*gen fdjledjterbings gar nichts 3U tfyun. 3efas, 
fo fagen jte, Bjat rpofjl Silber unb parabigmen jenen (gebieten 
entlehnt unb fyat jtdj audj perfönlidf ber (Elenben, Firmen unb 
Kranfen Bjerslidi angenommen; aber feine rein religiöfe prebigt 
unb feine J^eilanbsmirffamfeit fjabe bie Perbefferung ber irbifdjen 
Cage jener Ceute fdjledjterbings nidjt ins 2tuge gefaßt; man per- 
tpeltlidje baljer feine gtpedfc unb Slbftdjten, roenn man jte auf 
fo3iale üerfyältniffe be3ie^e. 3 a ** giebt nidjt roenige unter uns, 
bie ifyt für einen „Konferpatipen", tpic jte felbft ftnb, galten: er 
b\ab* als „gottgefefct" alles refpeftiert, roas an Fialen Unterf djieben 
unb ©rbnungen bamals porfyanben tpar. 

Sie erfennen, Bjter ftnb fefyr perfdjiebene Stimmen laut ge- 
tporben, unb mit J^artnäcfigfeit unb (Eifer toerben bie perfdjiebenen 
Stanbpunlte pertreten» Wenn n>ir nun perfudjen toollen, bie bm 



— 58 — 

djatfadjen entfpredjenbe Stellung 311 finben, fo tidberx toir eine 
tmse scitgefdiidjtlidje Dorbemcrfung 311 machen* 

Die Fialen guftänbe, tpic fie im Seitalter 3efu unb fefton 
geraume Seit porfyer in paläjliua fjerrfdjten, finb uns nidjt Inn« 
rcidjenb befannt. 2tber getpiffe £}aupt5Üge permögen tpir fefou« 
ftellen unb fönnen namentlich ein Doppeltes fonftatieren : 

\. Die fjcrrfdjenbcn Klaffen, 3U meieren por allem bie pfja« 
rifäer unb aud\ bie priejter gehörten — biefe 3, <L perbunben mit 
ben irbifdjen ZTCadiifyabern — , befaßen roenig I}er3 für bie Xlot 
bes armen Polfes. <£s mag nidjt piel fdjlimmcr getpefen fein, als 
es bei \enen Klaffen 3U allen Reiten unb bei allen Dölfem 3ugefyt, 
aber es roar fdjlimm. Unb es fam fn'er nodj liin$u, ba§ bas 3n« 
tereffe für ben Kultus unb für bie fultifdje „<5eredjtigfeit" bie Ccil* 
nafyme für ben Firmen unb bie 23armfyer3igfeit 3urücfbrängte. Die 
Sebrücfung unb Cyrannei feitens ber 23eidjen roar längjt ein ftefycn« 
bes unb unerfdjöpfüdjes ©jema ber pfalmiftcn unb aller tpärmer 
fimpfmbenben getporben. 21udj 3^fus fyätte nidjt fo pon ben Heiden 
fprecfyen fönnen, tpic er gefprodjen fyat, toenn pe nidjt bamals in 
gröblicher IDcifc ifyre pfltdjtcn pernadjläfjigt Ratten. 

2. 3n ben Kreifcn bes gebrücften unb armen Dolfes, in biefer 
großen ZTCaffe pon Hot unb Übel, unter jenen 3afyf reichen Ccutcn, 
für bie bas IDort „€lcnb" oft nur ein anbercr 2Iusbru<£ für bas 
IDort „£eben", ja bas £ebcn felbft ift — in biefem Doffc fyat es, 
tpic tpir ftdjcr erfennen fönnen, bamals Kreifc gegeben, bie mit 
3nbrunji unb unerfdjütterlicfycr Hoffnung an ben <§ufagen unb 
(Eröftungen ifyres (ßottes Eu'ngen, in Demut unb (5ebulb ipartenb 
auf ben Cag, ba ifyre <£rlöfung fommen tperbe. ©ft 3U arm, um 
audj nur bie bürfttgftcn fultifdjen 5cgnungen unb Dorteile ertperben 
3U fönnen, gebrücft unb geftofcen, in Ungcrcdjtigfcit mijjföanbelt, 
fonnten fie nicfyt 3um Cempcl auf flauen; aber fie blief ten auf ben 
(Sott 3sraels, unb fye\%e (ßcbete ftiegen 3U ifym empor: „X}üter, 
ift bie Zladit fester ljtn?" 5o tparen fie aufgefdjloffen unb cm« 
pfänglid] für (Sott, unb in manchen pfalmen unb ber ifynen per« 
tpanbten fpätcren jübifdjen Citteratur ift bas IDort „bie Firmen" 
gcrabesu eine 23e3eidnmng für bie (Empfänglichen, bie auf ben Crofl 
3sraels iparteten. Diefen Spradjgebraudj fanb 3cfas por unb Ijat 
ftdj ifyn angefdjlojfcn. IDir fönnen bafyer, tpenn mir in ben (Spange* 
Ken auf bas IDort „bie Sinnen" ftojgen, nidjt ofync tpeiteres nur 
<an bie tpirtfdjaftlidj Firmen benfen. Cfyatfädjlidi fiel bamals bie 



— 59 — 

nrirtfdjaftlidje 2lrmut unb bie religiöfe Demut unb 2lufgefdjlof|en« 
fyett (im (Segenfafe 3ur fublimcn „tEugenbübung" ber pfyarifäer unb 
ifyrer Houtine in ber „Cßeredjtigfeit") in tx>dtem Umfange 3ufammen. 
War bies aber ber fjerrfdjenbe guftanb, ^arxrx iji beutiidj, ba% wxv 
unfere heutigen Kategorien „arm unb reidj" nidjt ofyne ttmftäube 
auf jene <§eit übertragen bürfen. Dod) follen wxv nidft t>ergeffen, 
ba§ in bem IDort „2Irme" in ber Hegel audj bamals bie txrirt- 
fdjaftüdje Hot miteingefdjloffen roar. Wxv toerben bafyer in ber 
näd\$en Porlefung 3U unterfudjen \\abtn, in welcher Hidjtung toir 
EUiterfdjcibungen 3U machen vermögen, be3io. ob es möglich x% ^m 
Sinn ber IDorte 3*fu 3** treffen trofe ber eigentümlichen Sdjioierig* 
feit, bie in bem Segriff ber „Sirmut" liegt 2)odj fönnen toir im 
poraus bie Hoffnung fyegen, fyer nidjt im 2)unflen bleiben 3U muffen; 
kenn bas (Evangelium in feinen <Srunb3Ügen roirft audj einen gellen 
Sdjein auf bas (Sebiet biefer 5^ge. 



&tä$t ©orlBlung* 



3d? Ijabe am Schlug ber legten üorlefung auf bas Problem 
Ijingeuriefen, toclc^cs bie „Themen" im (Epangelium bieten« Sie 
Firmen, bie 3efus in ber Hegel im 2Iuge Ejat, finb audj bie empfäng- 
lichen, unb ba^er ift bas, xoas von ifyxen gefagt nrirb, nidjt oljne 
weiteres auf TLtme überhaupt an3Utoenben. Wir muffen ba^er aus 
bem Sufammenfyang, ber uns l}ier befdjäftigt, alle bie Sprüdje 
3efu ausfefteiben, bie offenfunbig auf bie „geifllidje" 21rmut ftcfy 
be3iel|en. I}ierf}er gehört 3. 23. bie erjle Seligpreifung, mag man 
fte nun in ber 5öffung bes tvlas ober b^s UTattfyäus gelten laffen; 
benn bie iljr 3ugeorbneten Seligpreifungen gellen es ftdjer, ba% 
3^fus an bie innerlich empfänglichen Firmen gebacfyt fyat. TXbet 
urir traben ntdjt bie dfcit/ alle ein3elnen Sprüche burdföugeBjen; es 
mug genügen, burdj einige ^auptbetradjtungcn bie n>id}tigjlen 
punfte fefauftellen. 

\* 3«fus {jat ben Seftfe irbifdjer <5fiter als eine fdjrsere <5e- 
fa^r für bie Seele betrachtet, n>eil er Ijartlje^ig madjt, in irbifcfye 
Sorgen ©erflricFt unb 3U gemeinem tDofylleben ©erführt (Ein 
Heiner wirb fd]tDerlidj ins fjimmelreidj fommen. 

2. Die Behauptung, 3*fas Ejabe eine allgemeine Verarmung 
ixnb Derelenbung fo 3U fagen gen>ünfdjt, um bann über biefen 
miferablen dfaftanb fein Himmelreich ljerauf3ufüliren — eine Behaup- 
tung, ber man in oerfdjiebenen IDenbungen begegnet — , ifi falfdf. 
Das (ßegenteil ifl richtig. <£r $at Ztot Ztot unb Übel Übel genannt 
lüeit entfernt, fxe 3U begünßigen, l)at er bas lebenbtgfte unb fräf- 
tigjte Sefkeben gehabt, fte 3U befämpfen unb 3U befeitigen. Sein 
gan3es lüirfen ift audj in biefem Sinne l}eUanbsrx>irfen geioefen, 



— 61 — 

&♦ f\. eht Kampf gegen bas Übel unb gegen bie 2tot. 3a man 
fönnte faß meinen, ba§ er bas niebersioingenbe (ßetpidjt bes 
€lenbs unb ber 2lrmut 3U fyodf tariert, baß er ftdj 3upiel bamit 
abgegeben Ijabe, unb ba% er ben Kräften, bie biefem gufianbe 
gegenüber nrirffam fem follen — bem ZHitleib unb ber 3armtier3tg- 
feit — eine ju große Bebeutung im <5an3en ber ftttlidjen Cebens* 
betpegung 3ugefprod)en fyabe. 5reilidj audj bies tpäre nidjt richtig; 
denn er fennt eine ZlTadjt, bie er nodf für fdjlimmer fyält als Ztot 
unb (Elenb, bas ift bie Sünbe, unb er n>eiß von einer Kraft, bie 
nodj befreienber iß als bie Barmije^igfeit, bas ifl bie Vergebung, 
Darüber lägt fein Heben unb fein fjanbeln feinen grpetfel. 5cjl 
fteC^t alfo: 3efus fyat bie 2lrmut unb bas (Elenb nie unb nirgenbs 
fonfen>ieren wollen, fonbern er fyat ftebefämpft unb 3U befämpfen 
geheißen. Diejenigen (Efyriften, bie im £aufe ber Kirdfengefdjicfyte 
aufgetreten ftnb, um bie Bettelei 3U protegieren unb eine allgemeine 
Verarmung an3uraten, ober bie in fentimentaler IDeife mit ber Ztot 
unb bem €lenb fofettieren, fönnen ftdj nidjt mit 5ug auf ifyt be* 
rufen. Wolfi aber ijat er bencn, bie ifyr gan3es £eben ber Der« 
fünbigung bes €pangeliums unb bem Dicnße am lüort weisen 
»ollen — er perlangte bas nidjt pon allen, fonbern er fafy barin 
einen befonberen <5ottesruf unb eine befonbere <5abe — ifnten fyat 
er befohlen, fte follen ftdf alles Beftfees, alfo aller irbifdjen <5ütcr 
entäußern. Dod} fyat er fte besijalb nidjt auf bas Betteln per« 
roiefen. Sie follen pielmeijr geroiß fein, ba% fte iljr Brot unb ifyre 
ITaljrung pnben »erben. Wie er bas gemeint fyat, bas erfahren 
tpir aus einem IDort pon iljm, tpeldjes 3ufällig in ben fipangelien 
nidjt enthalten tft, tpeldjes uns aber ber 2lpojtel paulus überliefert 
ijat. (Er f djreibt \. Kor. 9 : „Der J£}err fyat befohlen, ba§, bie bas 
fipangelium perfünbigen, ftdt audj pom fipangclium nähren follen." 
Beftfelofigfeit fyat er pon ben Dienern am J£>ort, b. ij. pon ben 
ZHifftonaren, perlangt, bamit fte gait3 ifyrem Berufe leben fönnen. 
£r fyat aber nidft gemeint, ba% fte betteln follen. Das ift ein 
francisfanifdjes ZlTifperfiänbnis, tpeldjes pielleid)t naije liegt, aber 
bodj pom Sinne 3*fu abführt. 

(ßeflatten Sie mir ljier eine fur3e 2lbfd}tpeifung. Diejenigen, 
bie in ben djrifMidfen Kirchen profefftonsmäßige €pangeliften ober 
Diener am J£>ort innerhalb ber (ßemeinben getporben ftnb, fyaben 
es in ber Hegel nidjt für nötig gehalten, jene 2lnrpeifung bes ^errn, 
ftd] ber irbifdjen (ßüter 3U entäußern, 3U befolgen. Sofern es ftdj 



— 62 — 

um pricjkr be$. pajtorcn unb nid)t um XTIiffionare Ijanbelt, tonn 
man audi mit einigem Hedjte emwenben, ba% jidf ber 53cfc£jl auf 
jte nidjt besiege; benn er fefet bas Amt ber Ausbreitung bes 
fipangeliums Poraus. ZITan tann ferner fagen, ba% man aus ben 
Anweifungen bes £}erm über bas <5ebot ber £icbe hinaus Feine 
unpcrbrücfylidjen (ßefefce machen bürfc, fonfl fdjäbige man bic djrift* 
lidje 5reifyeit unb perfdjränfe ber djrifllidten Beligion bas E?otjc Hedjt, 
in iijrer Ausgeftaltung bem (Sänge ber (Sefdjidjte unbefangen folgen 
3U bürfen. Aber es lägt ftdj bodt fragen, ob bas (D?riflentum nidjt 
Außerorbentlidjes gewonnen blatte, wenn [eine berufsmäßigen Diener, 
bie ZHifjtonare unb bie paftoren, jene Hegel bes J^errn befolgt 
l\ätten. ZlTinbejtens aber foHfrc es bei ifynen jhrenger (Srunbfafe fein, 
ftdj um Sejtfe unb irbifdje (Süter nur fo weit 3U Fümmern, ba% fte 
felbft nidjt anberen 3ur Caft fallen, barüber hinaus aber ftdi iijrer 
3U entäußern« Aber idi 3weifle audi nidjt, es wirb bie <3cit Fommen, 
in ber man wofyllebenbe 5eelf orger ebenf owenig mcljr pertragen 
ipirb, wie man fyerrfdfenbe priefter perträgt; benn wir werben 
in biefer 23e3iefyung feinfühliger, unb bas tft gut. 2Tfan wirb es 
uidjt mefyr für fdjicflidj, im fyöfyeren 5inn bes JPortes galten, ba% 
jemanb ben Armen (Ergebung unb gufriebenfjeit prebigt, ber felbft 
wofylfyabenb ift unb um bie Dermefyrung feines Seftfecs eifrig forgt. 
(Ein <5efunbcr mag vooiil einen Kranfen tröften; aber wie foll ber 
öefifecnbe ben 23eftfelofen pon bem Unwert ber (ßüter übcr3eugen? 
Die Anweifung bes ^errn, ba% ber Diener am J£>ort ftdj bes 
irbifdjen Seftftes 3U entäußern fjat, wirb in ber (Sefdjidjte feiner 
(Semeinbe nodj 3U fifyren fommen. 

5. <£in fosiales Programm in Se3ug auf Überwinbung unb 
23efeitigung pon Armut unb Xlot — wenn man barunter gan3 
beftimmte Anorbnungen unb Porfdjriften perftefyt — fyat 3efus nid)t 
aufgehellt. <£r biat ftdj nidjt in wirtfdjaftlidie unb 3eitgefdjid)tlidje 
Perf^ältniffc perftrieft. Stätte er es getfyan, fjätte er (Befefee gegeben, 
bie für paläjttna nodj fo fyeilfam getrefen wären — was wäre 
bamit erreicht worben? 5ie wären fyeute nüfelidj gewefen unb 
morgen peraltet, unb fte Ratten bas <£pangelium beladet unb per- 
wirrt. Klan muß ftdj audi biüten, foldjen Anweifungen, wie bie: 
„(Sieb jcbem, ber bid} bittet" unb äfynlidjen, ttjr ZTCaß 3U nehmen. 
Sie wollen boefy aus ber geit unb ber Situation per ffanben fein. 
Sie bc3iefyen fidj auf bie augenblicflidje Ztot bes Sittenben, bie mit 
einem StücF Srot, einem Crunf IDaffer, einem Kleibungsftüd, um bie 



— 63 — 

23löj$e 3U becfen, geeint ift. Wix bürfen nidjt pergeffen, wir be- 
ftnben uns mit bem <£pangelium im ©ricnt 1 unb in wirtfdjaftlicfy 
3icmlidj unentwicfelten Derf>äftniffen. 3^f u ^ ift fein fataler Heformcr 
gewefen. <£r fonnte audj einmal ben Safe aussprechen: „2lrmc fyabt 
ify: al^ett bei endi", unb bamit, tote es fdjeint, andeuten, bajj pdf 
bie Derfyältniffe nidjt wefentlidi änbern würben, firbfdjliditer wollte 
er nidjt fein, unb taufenb 5r<*gen bes wirtfdjaftlidjen unb fo3talen 
Gebens würbe er ebenfo 3U entfdjeiben abgelehnt fyaben rote bie 
Zumutung, eine Crbfdjaftsangelegenfyeit in (Bang 3U bringen. Unb 
bod? fyat man je unb je gewagt, aus bem fipangelium ein fonfretes 
fatales Programm ab3itfeiten. Thxdi epangelifdje Cfyeologen Bjabcn 
es perfudjt unb perfudjen es nodj. £in Unternehmen, an jidj fyoff* 
nungslos unb gefäfyrlidj, aber pollenbs perwirrenb unb unerträglich, 
rpenn man bie 3aijlreidien „Cücfen", bie man im fipangelium ftnbet, 
burdj altteftamentlidje <5efefee unb Programme „ergäbt". 

4. Ztiemals, felbft im Subbfjtsmus nidjt, ift eine Heligion mit 
einer fo tfyatfräftigen fo3ialen Sotfcfyaft aufgetreten unb fyat fidj fo 
ftarf mit iEjr ibentifoiert rx>ie im fipangelium. ^nwx^etn? U?eil 
mit bem JPorte: „Ciebe beinen ZTädjften wie bid? felbft" Ijier , 
wirHidj <£rnft gemacht ift, weil 3efus mit biefem lüorte hinein» 
geleuchtet §at in alle fonfreten Perfyältniffe bes Cebens, in bie 
ZDelt bes Jüngers, ber 2trmut unb bes ©enbes, enblidf weil er 
jene 2Tüa£xme als eine rcligiöfe, ja als bie religiöfe ausgefprodjen 
fyat. 3df erinnere Sie nochmals an bas (ßlcidjnis pom jüngften 
<5eridjt, in welchem bie gan3e 5rage nad\ bem IDerte unb ber 
<3>ufunft ber ZHenfdjen pon ber Übung ber ZXädjftenliebe abhängig 
gemacht ift; id\ erinnere Sie an bas anbere (ßleidjnis pon bem 
reichen 2Tüann unb bem armen £a3arus. Unb nodj eine <5efdjidjte 
möchte idj anführen, bie wenig befannt ift, weil fxe in biefer 5affung 
nidjt in unfern pier €pangelien, fonbern im J^ebräerepangclium 
ftefyt. 2)ort ift bie <£r3äfylung pom reichen 3üngling a *fo überliefert: 
„<£in Hetzer fpradf 3um fjerrn: ZHeifter, was muß idj <5utes 
tfyun, bamit id) bas Heben fyabe. <£r antwortete tfjm: ZlTenfd], 
fyalte bas <5cfefe unb bie Propheten. 3*ne* erwiberte ifym: 
Das fyabe xd\ getfyan. (£r fpradj 3U ifym: <5efye fyn, per- 
faufe alles, was b\x befifeeft, unb teile es ben Firmen aus unb 
fomm unb folge mir. 7>a fing ber Heidje an, ftdj ben Kopf 3U 
frafeen, unb bie Hebe gefiel ifym nidjt. VLnb ber ^err fpradi 3U 
ifym: IDie fannft Du fagen, „3dj fyabe bas <5efefe unb bie pro» 



— 64 — 

Poeten gehalten", ba bodj im <5efefe gefdfrieben jtefy: Ciebe bebten 
Hädifkn u>ie bidf felbjl? Siefye, ©tele betner 33rüber, Söljne 
2tbra^am5 f liegen in fcfymufeigen Cutnpen unb jterben Jüngers, 
unb bein £}aus ift poII von vielen (ßütern, unb nichts fommt aus 
tl|m 3U teilen Baratts." — Sie fe^en, roie 3*fus bie materielle Xlot 
ber Firmen empfunben unb nrie er bie 2lbljülfe foldjer Hot aus 
bem <5ebot: „Ciebe beinen ZTädiftcn tpie bidj felbft", abgeleitet Ijai 
Die follen nidjt von ZTädißenliebe fpredjen, bie es ertragen fönnen, 
ba% neben ify\en IHenfdjen im filenb oerfümmern unb Perben! 
Das €oangelium prebigt nidjt nur Solibarität unb fjülfeleijhing 
— es l)at an biefer prebigt feinen tpefentlidjen 3nljalt. 3n biefem 
Sinne ijl es im Ciefften foialijWfdj, toie es im Ciefjkn inbipibua- 
lifttfdj ijl, »eil es ben unenblidjen unb felbftänbigen IDert jeber 
ein3elnen ZTCenfdienfeele fcftftellt. Seine Cenbcnj auf dfafammen« 
fcr>lug unb Brüberlidjfeit ift nidjt fotoofyl eine 3ufäflige firfdjeinung 
in [einer <5efdjid}te als pielmefyr bas öffentliche Clement feiner 
(Eigenart, Das fioangelium cotIX eine (5emeinfdjaft unter ben 
ZTIcnfdjen ftiften, fo umfaffenb tpie bas menfcfylidje Ceben unb fo 
tief tote bie menfdjlidje Hot <£s »tu, tpie man richtig gefagt 
fyat, ben So3ialismus, ber ba auf ber Dorausfefeung tpiberftrettcn« 
ber 3ntereffen ruljt, umtpanbeln in ben So3ialismus / ber jid? auf 
bem Betpufctfein einer geiftigeu (Einheit grünbet. 3" biefem Sinne 
tann feine feciale Sotfdjaft überhaupt nidft überboten »erben. 
U?as ein „menfdjentpürbiges ©afein" ift, barüber traben pdf im 
£aufe ber Seiten, (ßott fei Danfl bie Urteile feljr oeränbert unb 
perfeinert 21ber audj 3^fus fannte biefen ZlTajjjtob, Etat er bodj 
einmal, faft mit 23itterfeit, über feine eigene £age geäußert: „Sie 
5üdtfe ijaben (ßruben unb bie Dögel unter bem £jimmel traben 
ZTefter; aber ber ZlTenfdjenfolin fyat nicfyt, rx>o er fein ^aupt fyn* 
legt" Die tDofjnung, bas 3ureidjenbe tägliche Brot, bie Hetnlicfi* 
feit — alle biefe Sebürfniffe tperben pon iljm gejlreift, unb er fjat 
tfjre 3efriebigung für nottpenbig erachtet für bie Sebhtgung bes 
irbifdjen Dafeins. Uann einer fte ftcfy nidjt fdjaffen, fo follen bie 
anbern für \fy\ eintreten. Deshalb fann barüber fein ^rocifcl 
fein, ba% 3*f us tyute auf Seiten berer jtefjen tpürbe, bie ftdj fräftig 
bemühen, bie fdjipere Zlotlage bes armen Polfes 3U linbern unö 
ifym beffere Sebingungen bes Dafeins 3U fdjaffen. Der täufdicn&e 
Safe pon bem freien Spielraum ber Kräfte, bem tl £eben unb leben 
laffen" — „teben unb flerben laffen", i^e es bejfer — läuft bem 



— 65 — 

<EDcmgelmm fhracFs entgegen, Unb nidjt als unferen Knedften fotlen 
mir ben Ernten Reifen, fonbern als unfcrcn trübem, finblid), 
unfer Heidjtum gehört nidjt uns allein. l>as <£pangelium fyat Feine 
gefefelidjen Porfdniften barüber gegeben, wie rx>ir ifyt gebrauchen 
f ollen; aber es lägt darüber feinen Zweifel, ba§ wir uns nidjt als 
Seftfeer, fonbern als fjausfyalter im Dienfl bes ZTädjften 3U be» 
trachten I^aben. 3^, faft fdjeint es, als Ijabe 3cfus eine Perbinbung 
unter ben 2TCenfd}en für möglich gehalten, in ber ber Beidttum als 
pripatbeftfe im ffrengen 5inn nidjt ejifiiert. Dodj bamit ijaben wir 
eine 5^age berührt, bie nidtf leidet 3U entfdjeiben V/t unb bh piel* 
leidet gar nidjt aufgeworfen werben barf, weil bie €sdjatologie 
3efu unb fein befonberer J£jori3ont fyer Bjineinfpielen. Wix brauchen 
fte audj nid)t auf$un>erfen; bas fintfdjeibenbe iji bie (ßeftnnung, 
bie 3efus &er 2lrmut unb Xlot gegenüber in feinen 3üngern ent- 
3Ünbet fyxt 

Vas <£pangelium tft eine fo3ialc Sotfdjaft von ^eiligem <£rnft 
unb crfdjütternber Kraft; es ift bie PerFünbigung ber Solibarität 
unb 33rüberlidjFeit 3U (ßunften ber Ernten. 21ber biefe Sotfdjaft 
ift perbunben mit ber 2InerFennung bes unenblidjen IDertes ber 
ZTCenfdjcnfeele, unb fte ift eingebettet in bie prebigt pom Beidjc 
<5ottcs. TXian Fann audj fagen — fte ifl ein wefentlidjer (Teil bes 
3n£)alts biefer prebigt. 21ber (ßefefce unb Perorbnungen ober 
21nweifungcn, bie jeweiligen I>crtjä(tntffe gewaltfam 3U änbem, 
finben ftdj m bem fipangclium ntdjt. 

3. 7>as <£pangelium unb bas l&edit, ober bie 5*<xge nadi 

ben irbifdjen (Drbnungen. 

Das problem, in welchem Derijältnis bas <£pangelium 3U bem 
Bed]te fic^t, umfaßt 3wei Hauptfragen: \. bas Perfyältnis bes €pan« 
geliums 3ur (DbrigFeit, 2. bas Derfyältnis bes fipangeliums 3U ben 
Bedjtsorbnungen überhaupt, fofern biefe einen weiteren Spielraum 
fyabcn als ber begriff „©brigFeit". Die Antwort auf bie erfte 
5rage tft mdjt leicht 3U perfekten; bie 3tpcite 5*ctge ifl perwicfelter 
unb fdjwcrer; audj geEjcn bie Urteile über fte weit auseinanber. 

\. 3efu Perfyältnis 3ur ©brigFeit — foH idj nodj ausbrücFlidj 
bavan erinnern, ba% er Fein politifdjer Beoolutionär gewefen tjl, 
unb ba% er aud\ Fein politifcfyes Programm aufgeteilt fytt? <£r 
weift gewift, ba% fein Pater iBjm 3wölf £egioncn (Engel 3ufdn'cFcn 

Qarnacf, Das Wefen bes Cfjrfjlentmns. 5 



— 66 — 

roürbe, toenn er itjn Bäte; aber er bat xf\n nidjt. 2Hs jle ilm 311m 
Könige machen toollten, entioid) er. Suleftt freilid?, als er es für 
gut fyelt, fidi bem gan3en Polfe als bcn 2Tücfftas 3U offenbaren — 
ber fintfdjluß unb feine Ausführung jtnb uns bunfel — , ba 30g 
er als König in 3*nifalem ein; aber er nxirjlte aus ber propbetie 
bie firfdjeinungsform, bie von einer politifcfjen ZTTanifeftation am 
tpeitejlen ablag, unb t»ie er fein mcfftanifd?cs Bedjt cerftanb, bas 
3eigt bie Austreibung ber Krämer aus bem (Eempel. 3^ biefer 
tCempelrcinigung roanbte er fidj nidjt gegen bie politifdje (Dbrig- 
feit, fonbern gegen bie, toeldje fxdi obrigFeitlidje 23edjte über bk 
Seelen angemaßt Ratten. 3n jebem Polfe etabliert fidf neben ber 
befugten (Dbrigfeit eine unberufene, ober oielmer^r 3tx>ei unberufene. 
Das ifl bie polttifdje Kirche, unb bas flnb bie politifdjen Parteien. 
Die politifdje Kirdje, im toeiteften 5inn bes IDorts unb unter fefyr 
üerf dn' ebenen ZHasfen, roifl rjerrfdjcn; fie roill bie Seelen unb bie 
Ceiber, bie (ßeroiffen unb bie (5üter. Dasfelbe roollen bie polt- 
tifdjen Parteien, unb inbem itjre 5üfyrer fidj 3U £eitern bes Dolfs 
aufrserfen, entoicfeln fie einen (Eerrorismus, ber oft fdilimmer ijl 
als ber SdjrecFen föniglidjer Defpoten. So tr>ar es audi in pa« 
läftina 3ur geit ^\u. Die priefter unb bie pfyarifäer hielten bas 
Volt in Sanben unb morbeten irmt bie Seele. (Segen biefe unbe- 
rufene (Dbrigfcit seigte 3*f U5 * xn * toa^rr^aft befreienbe unb erquief enbe 
pictätslofigfeit. <£r ifl nierjt mübe getoorben — ja er Weigerte fidj 
im Kampfe bis 3um fyeiligften gorn — , biefe „(Dbrigfeit" 3U be- 
fefyben, irjre IDolfsnatur unb irjre ^eucfyelei auf3ubecr"en unb ify: 
bas (ßeridjt an3ufünbigen. 2ln ber Stelle, an ber fie befugt tx>ar, 
ließ er fie gelten: „(ßerjet rjin unb 3eigct eudi ben prieftern." So- 
weit fie roirflidi bas (ßefefe <5ottes oerfünbigten, ernannte er fie an: 
„Was fie eudj fagen, bas tfyut." Aber zben biefeu Ccuten fyclt 
er bie furchtbare Straf prebigt ZTTattE^. 23: „tDefye eudi, Schrift- 
gelehrten unb prjarifäern, ifyr ^cudjler, bie irjr gleid? feib nric bie 
übertünchten (Sräber, roeldje ausroenbig rjübfcrj fdjeinen, aber in» 
toenbig ftnb fie ©oller tCotenbeine unb alles Unflats." Gegenüber 
biefer geiftlidjen „©brigfeit" rjat er alfo feine 3ünger mit einer 
^eiligen pietätsloftgfcit erfüllt, unb audj oon bem „Könige" fjerobes 
rjat er mit bitterer 3*onie gefproerjen: „(Berget i(in unb faget biefem 
5ucf|s." Dagegen ber roirFlicrjcn ©brigfeit gegenüber, bie bas 
Sdjroert führte, ift feine Haltung, foroeit tx>ir nadj ben fpärlidjcn 
Seugniffen 3U urteilen permögen, eine anbere. <£r ernannte iE^r 



— 67 — 

tfyatfädjlidies Becfjt an unb tjat ftdf bemfelben niemals entzogen. 
2lud? bas Perbot bes €ibes iji mdjt fo 311 oerftefyen, ba$ er ben 
<£ib oor ber ©brigfeit mitgemeint §at ZlTit Hedjt tjat IDellrjaufeu 
geurteilt, es gehöre nur ein Körndien 5a[$ ba$u, um ben Sinn bes 
Verbots nidjt 3U oerfcrjlen. 2Inbererfeits muß man ftdi fyüten, 3ef" 
Stellung 3ur ©brigfeit im pofttioen Sinne 3U überferjäfeen. 2Tüan 
beruft |tcf} geroörjnlidj auf bas oiel citierte IDort: „(Sehet bem Kaifer, 
roas bes Katfers ift, unb <ßott, roas <5ottes iji." 2lüein bies XDort 
roirb oft mifperftanben. Überall ba roirb es unrichtig gebeutet, roo 
man xfyn ben Sinn geben 3U bürfen meint, 3efus fyabe <5ott unb 
ben Kaifer als bie beiben irgenbroie nebeneinanber fterjenben ober 
gar innerlidj oerbunbenen (Sewalten anerfannt. Daran fyat er nidjt 
Qeba&it, oielmerjr umgeferjrt bie (Trennung unb Sdjeibung ber beiben 
ZHäcrjte ausgefprodjen. <5ott unb ber Kaifer jtnb bie fjerren 3U>eier 
gan3 oerfcrjiebener <5ebiete. Die Streitfrage, um bie es ftdj rjan- 
bclte, löfte er eben baburdj, ba% er auf biefe Perfdjiebenfyeit rjhv 
roies, bie fo groß ift, ba% ein Konflift gar nid|t entjteEien fann. 
Das SilberftücF iß etroas 3rbifdjes unb trägt bas 23ilb bes Kaifers; 
alfo gebe man es bem Kaifer; aber — bas ift bod? roorjl bie €r- 
gän3ung — bie Seele unb alle ifyre Kräfte h(aben bamit gar nichts 
3u tlpxn; jte gehören <5ott. Die Dermengung ber (Bebiete tjat 
3efus abroefyren roollen: bas iji 3unäcrfji bas <£ntfd}eibenbe. §at 
man bies allem 3m>or betont, bann mag man audj rjinsufügen, 
roie bebeutfam es fei, bajj 3efus 3um <5erjörfam gegen bie Steuer« 
forberungen bes Kaifers aufgeforbert rjat. (ßeroiß, bas ijl roidjtig: 
er felbjl refpeftierte bie ©brigfeit unb roollte, ba% jte refpeftiert 
werbe; aber in 33e3ug auf üfre XDertfcrjäfcung ift bas Woxt 
minbeftens neutraL 

Dagegen bejtfeen roir nodj ein anberes XDort 3*fu in 33e3ug 
auf bie ©brigfeit, roeldjes^fefy: oiel feltener citiert roirb unb boerj 
tiefer in bie (ßebanfen bes fjerrn einführt als bas eben befprodjene. 
Wxv ipoden es !ur3 betrachten; es roirb uns audj besrjalb roidjtig 
fein, ireil es über3uleiten vermag 3ur Betrachtung ber Stellung, 
bie 3*f us 3 U &* n Hed|tsorbnungen überhaupt eingenommen rjat. 
Bei 2IIarfus a \0, \2 lefen roir: „3efus rief feine junget unb 
fpradf 3U irjnen: 3fc roiffet, ba% bie, roelcrje als ^errferjer 
gelten unter ben Poltern, (ßeroalt gegen ftc brauchen unb bie 
2TCacr|tigen unter irjnen 2Tfacrjt gegen jte üben. So aber iffs nidjt 
bei eudi; fonbern roer unter eucrj groß roerben roill, ber roirb euer 

5* 



— 68 — 

Diener fein, unb n>er unter eudj 6er erfte fein n>ifl, ber mixt* 
(foü) ber Knedjt aller fein." J^ier mögen Sie vov allem bie 
„Umwertung ber IDerte" bemerfen. 3efus feBjrt ofyxe Porberjalt 
bas üblidje Schema um: <5ro§ fein unb an ber Spifee flehen, bas 
bebeutet ifym bienen; feine 3ünger foüen nidjt fyerrfdjen n>ollen, 
fonbern fxdj iebermann gegenüber in Knedjten machen. Sobann 
aber bead\ten Sie, urie er bie ZtTadjtfyaber, b. Bj. bie ©brigfeit, rote 
fte bamals toar, beurteilt. 3^ re 5unftionen berufen auf <5eroalt, 
unb eben besbiab faDen fie für 3efus außerhalb einer fittlidjen 
Beurteilung, ja jtefyen berfelbcn prin3ipiell gegenüber: „fo geBjt es 
bei ben ZTCaditfjabem 3U." 3efus fdjreibt feinen 3üngern t>or, 
es anbers 3U machen. Hedft unb Hedjtsorbnung, bie nur auf 
<5etDalt, auf faftifdjer ZTCadjt unb ifyrer Ausübung berufen, ljaben 
feinen ftttlidjen Wett tCrofebem fyat 3cfus nid)t befohlen, ba§ 
man ftdj biefer ©brigfeit entstehen foll; aber man fott fie nad\ 
ifyrem IDerte, b. l}. nad\ ifyrem Umx>erte fdjäfeen, unb man foll fein 
eigenes £cben nad] anberen (ßrunbfäfeen, nämlidj nad\ ben enU 
gegengefefeten, einrichten: nidjt <5etoalt üben, fonbern bienen. Da- 
mit ftnb toir bereits auf bas allgemeine <5ebiet ber Beditsorbnungen 
überhaupt fyinübergetreten; benn allem Hechte fdjeint es tr>efentlid} 
3U fein, bajj es jtdi mit (ßetoalt burdifefet, wenn es in $rage 
gefiettt nrirb. 

2. fjier begegnen uns nun toieber 3tx>ei perfdtieben« 21n« 
fdjauungen. Die eine — fie ift in neuerer geit befonbers oon 
Sofym in £eip3ig in feinem „Kirdjenredit" behauptet roorben, unb 
er berührt fidj mit ber 21uffaffung tEolftoi's — letjrt, bie 2t>elt 
bes (SeijUidjen fletje iBjrem XDefen nadj 3U bem IDefen bes Hechts 
im (ßcgenfafe; im lEHberfprudi 3ur ZTatur bes (Evangeliums unb 
3U ber auf ifym jtdj grünbenben <5emcinfd]aft fei es 3ur Slusbilbung 
pon redjtlidjen (Drbnungen in ber Kirdje gefommen. SoEjm iß fo 
tr>eit gegangen, ba% er in feinem Überblicf über bie ältejte <£nt* 
roieflung ber Kirdje gerabc3u einen Sünbenfa 11 ber (Djriftenrjeit in 
bem ZHomente annimmt, t»o jte Bedjtsorbnungen in ifyrer ZHitte 
Haum gcroäfyrt h(at 3"beffen fyat er bodj bas Bedjt auf feinem 
(Sebiete nidtt antaten toollen. 3ebes Hedjt tjat iljm aber 
(Eolftoi im Hamen bes (Evangeliums abgef proben. <£r lefyrt, bafj 
ber oberfte <5runbfafe bes (Evangelium^ laute, utan folle fdiledjtfyin 
niemals auf feinem Hedjte befielen, unb ZTtemanb, aud) bie ©brig* 
feit nidjt, foü bem Söfen äußeren IDibcrftanb leiften. ©brigfeit 



— 69 — 

unb Bedjt Reiben etnfadj auf3uBjören. Demgegenüber finben n>ir 
anbere, u>cld?e mit größerer ober geringerer fintfdjiebcnlieit be* 
Raupten, bas fipangelium fdjüfee bas Sedjt unb alle Bedjtsperfyält* 
niffe, ja ^eilige fte unb fycbe fte bamit in bie göttliche Sphäre, 
Dies ftnb, fürs gefaßt, bie beiben fjauptanfdjauungen, bie ftdj ljier 
gegenüber ftefyen. 

Was nun bie lefetere betrifft, fo bebarf es nidjt pieler IDorte. 
<£s iji ein £}ofyn auf bas <£pangelium, 3U fagen, ba% es alles, toas 
ftdf als Bedjt unb Bedjtsperfyältniffe in einem gegebenen 2Tüomente 
barfteüt, fdjüfee unb ^eilige, (ßerpäfyren laffen unb bulben ifl 
etroas anberes als bekräftigen unb fonferpieren. 3<* man muß 
emjtfjaft fragen, ob aud? nur oon Dulbung bie Hebe fein fönne, 
unb ob nidjt (Eoljloi Ijier richtig geurteilt fyat. Um ber Sdjtpierig« 
feit ber Sad^e miüen muffen n?ir etoas ausholen: 

3aB|rB|unberte fyinburd} Ratten Bebrütte unb 2lrme im Dolfe 
3srael nadt ifyrem Hechte gefdjrieen. 3n ben IDorten ber propfyeten 
unb aus ben (Sebeten ber pfalmtftcn perneijmcn toir fjeute noefy 
in ergreifenber XDeife biefen Sdjrei, ber bodj immer nrieber über- 
hört rourbe* <£s gab feine Hedjtsorbnung, bie nidjt unter ber 
(ßetpalt tyrannifdier (ßetpaMjaber ftonb unb pon iEjnen nadj (ßut- 
bünfen perfefyrt unb ausgebeutet rourbe. Wxv bürfen baljer, raenn 
roir pon Bedjtsorbnungen unb »Übung F^ier fpredjen unb 3efu £«> 
fyältnis 3U iijnen unterfudjen, nidjt fofort an unfere Bedjtsper- 
fyältnifje benfen, bie 3um (Teil auf bem 23oben bes (Otriftentums er- 
toadjfen ftnb. 3*fus ftanb in einer Nation, beren größere Raffte 
(ßenerationen ijinburdj Pergebens ifyr Becfyt perlangt fyatte unb bie 
bas Hedjt nur als (ßeioalt fannte. 3n einem foldjen Polfe mußte 
mit ZTotoenbigfeit Per3tpeiflung an bem Hechte überhaupt plafe 
greifen; Per3u>ciflung fotpofyl in 23e3ug auf bie ZHöglidjfeit, auf 
<£rben Ziedit 3U befommen, als — in umgefefyrter Bidtfung — in 
23e3ug auf Oie ftttlidte guläfftgfeit bes Hechts. .<£ttpas pon biefer 
Stimmung fann man audi im €pangelium tpafyrnefymen. 2lber, 
unb bies ift bas <3tpeite unb forrigiert immer rpieber biefe Stimmung: 
3cfus iß mit allen tpafyrfyaft 5rommen fclfenfeft bapon über3eugt 
getpefen, ba% (ßott fdjlicßlid? Bedjt fdjafft. Schafft er es nidjt fyier, 
fo fdjafft er es bort, unb bas iji bie Ijauptfadje. 3" biefem gu- 
fammenfyange ift für 3*f U5 bie ^}bee bes Bedjts im Sinne ber 
geredeten Vergeltung nidjt eine pertperflidie, fonbern eine fy>fye, ja 
be^errfdjenbe getpefen. Sie ijl bie Znajejlätsfunftion (ßottes — 



— 70 — 

innnefcrn fte burdt feine 23armfyer3igfeit mobiföiert tpirb, bapon 
fann fyer abgefefyen »erben. 21lfo, ba% 3efus bas Hedjt als foldjes 
unb bie Bedjtsübung abfdjäftig beurteilt fyabe, bavon fann feine 
IRebe fein. 3*& cm faß Ptelmefyr fein Bedjt t»erben, ja nodj mefyr: 
feine 3ünger toerben einft an ber Bedjtfpredjung (ßottes teilnehmen 
unb fclbjt richten! Hur bas T&e&it, xvk es mit (ßetoalt unb bafycr 
als Unrecht geübt txmrbe, bas &cd)t, toeldjcs tpie ein tyrannifd;es 
unb blutiges Derfyängnis über bem Dolfe lag, bas fyat er beifeite 
gefdjoben. 2ln bas toafyre Bedjt glaubte er, unb er trat audi 
geioijs, baj$ es ftdj burdjfcfecn irerbe; er toar btflen fo getpiß, bafo 
er nidjt meinte, bas Hedjt muffe (ßetoalt brauchen, um Bed}t 3U 
bleiben. 

Das füfyrt uns auf bas £efete. Wir beftfcen eine Heifye von 
Sprüdjcn 3efu, w benen er feine 3ünger angetoiefen fyat, auf 
alle Hedjtsforberung 3U per^idjten unb ftd? fomit ifyres Hechtes 3U 
begeben. Sie alle Fennen biefe Sprüdje. 3$ erinnere nur an bas 
Woxt: „3fyr follt nidjt toiberfhreben bem Söfen, fonbern fo bir 
jemanb einen Streidj giebt auf beinen redeten 23acfen, bem biete 
ben anbevn and} bat, unb fo jemanb mit bir rechten rxüH unb 
beinen Hocf nehmen, bem la§ and) ben ZHantel." I}ier fdjeint 
eine 5orberung aufgeteilt 3U fein, bie bas Bed?t pcrurteilt unb bas 
Sedjtsleben auflöft. 3* unb je I^at man ftdj ba^er auf biefe IDorte 
berufen, um, fei es bie Unpcreinbarfeit bes <£oangeliums mit bem 
roirf liefen £cben, fei es ben Abfall ber (Ojrtfienfyeit pon ifyrem 
ZHeifter bar3utfyun. Dem gegenüber ifi folgenbes 3U bemerfen: 
\. 3efas mar, tpie tpir gefeEjen fyaben, von ber Über3eugung burdj* 
brungen, ba% (Sott bas Ziedit fdjafft; 3ulefet alfo roirb nidjt ber Der« 
getsaltigenbe jtegen, fonbern ber 23ebrücfte tpirb fein Hed)t erhalten, 
2. irbifdjc Hechte finb an fid} eine geringe Sadje; fte 3U perHeren 
bebeutet nidjt piel, 3. bie Derfyältniffe jtnb fo traurig, bie Un» 
gcredjtigFeit ijat auf €rben fo überfyanb genommen, bafa ber 33e» 
brücFte fein Ziedit nidjt burd^ufefcen permag, audj tpenn er es 
pcrfudjte, ^. — unb bas ift bie fjauptfadje, — tpie <ßott feine 
<5eredjtigfeit mit 23armtjer3igFeit burdjipaltet unb feine Sonne über 
<5ute unb 23öfe fdieinen lägt, fo fotl ber 3ünger 3efu feinen (Segnern 
£iebe betoeifen unb fte burdj Sanftmut enttoaffnen. Das finb bie 
(Sebanfen, tpeldje jenen fyofyen Sprüchen 3U (ßrunbe liegen unb bie 
Urnen 3ugleidj Ujr ZTtajj geben. Unb ifl bie 5orberung, bie fte ent» 
galten, ipirflidi eine fo überirbifdje, unmögliche? XDcifen u>ir nidjt 



— 71 — 

audj im Kreife ber 5<*milie unb ber frcunbfdjaft bie Unfrigen an, 
fo 3U ©erfahren unb uidtf 23öfes mit 23öfem unb Sdjclttoort mit 
Sd^eltroort 3U vergelten? IVeldje 5<*milic, tpeldjer 23unb fann 
befielen, toenn jeber in ifyr nur fein Hcdjt ©erfolgen t»ollte, tr>eun 
er nidjt lernte, auf baffelbe, felbft bei einem Angriff, 3U pe^idjtcn ? 
3efus fielet feine 3üuger als einen Kreis von 5reunben an, unb er 
blieft über ifyi hinaus auf einen 23ruberbunb, ber ftdj ausgemalten 
unb erweitern t»irb. 2lber foll man audj bem 5einbe gegenüber 
in aücn 5äüen auf bie Verfolgung feines Hechts per3id]ten, foll man 
ausfdjliejjlidi bie IVaffe ber 5anftmut brauchen? Soll, um mit 
(Eolftoi 3U reben, bie (Dbrigfeit nidjt [trafen (unb bamit überhaupt 
perfdiannben), follen bie Vöifer nidjt für ^aus unb fjof eintreten, 
wenn fie freoentlictj angegriffen roerben 2C? 3d? toage 3U behaupten, 
baß 3*fus bei jenen IVorten an foldje 5älle gar nidjt gebadet fyat, 
unb bafa bie Ausbeutung in biefer Hidjtung ein plumpes unb 
gefährliches 2Tftßoerftänbnis bebeutet: 3efus fyat immer nur ben 
ein3elnen im 2luge unb bie fietige (ßejtnnung bes fje^ens in ber 
£icbe. T>afc biefe bei Verfolgung bes eigenen Bedjts, bei geu>iffen« 
ijafter £ed}tfpredjung unb bei ernftem Strafvollzug überhaupt nidjt 
beftefyen fönne, ift ein Vorurteil, für u>eld>es man ftdj vergebens 
auf ben 23ud}ftaben jener Sprüdje beruft, bie bodj nidjt (ßefefee, 
alfo Hedjtsorbnungen, fein mollen. Das aber muß fyn3ugefügt 
roerben, um ber J£}ofyeit bcr eoangeftfdjen 5orberung nichts ab3U« 
3icfycn: ber 3ünger 3^f u faß imftanbe fein, auf bie Verfolgung 
feines Bcdjtes 3U perjid^ten, unb er foll mitarbeiten, bafc ein Volf 
oon trübem n?erbe, in roeldjcm bas &ed\t fiel) nidjt mefyr mit 
(ßetoalt burdtfefct, fonbern burdj ben freien (ßefyorfam bes (Suten, 
unb toeldjes nidjt burdj Hedjtsorbnungcn oerbunben ift, fonbern 
burdj Dienft in ber £iebe. 



JshbmU Etorlcjung. 



Das Perfjältnis bes (gpangeliums 3U bem Hedjte unb bcn 
Hedjtsorbnungcn fyat uns in ber lefeten Dorlefung befdjäftigt. BDir 
Ijaben gefe^en: 3*f U5 if* &c* Übe^eugung, ba§ (ßott bas Hedjt 
fcfyafft unb fdjaffen toirb. XDeitcr, w'xx crfanntcn, ba§ er pon feinen 
3üngern forbert, fxe follen auf iBjr Hedjt pe^idjten fönnen. 3nbcm 
er biefe 5orberung ausfpridjt, fyat er nidjt alle Pcrfyältniffe feiner 
Seit im 2Iuge, nodi piel weniger bie pertPicFeltercn einer fpätcren, 
fonbern itjm fteEjt nur ein einiges Pcrfyäitnis por ber Seele, bie 
Se3ieE|ung jebes 2Tüenfdjen 3um Heidje (Softes. Weil ber 2Tüenfdj 
aBes perfaufen fott, um bie föftlidje perle 3U faufen, fo fott er 
audi bie irbifdjen Hechte fahren laffen fönnen, fo foll alles jenem 
f|öd#en Perfyältnis untergeorbnet werben. 3m <3ufammenfyange 
aber mit biefer Derfünbigung eröffnet 3*f U5 bie 2lusftd?t auf eine 
Perbinbung ber 2TCenfdjen untereinanber, bie nidjt burdj eine Hcdjts« 
orbnung 3ufammengefyalten ijt, fonbern in rpefcfrer bie £iebe regiert 
unb in ber man ben 5*inb burdj Sanftmut übertpinbet <£s ijl 
ein fyöfyes, tjerrlidjes 3^«öI, welches tpir iu'er pon ber (Srunblegung 
unferer Heligiou fyer erhalten fyaben f ein 3beal, tpcldjcs unferer ge- 
fdn'ditlidjen €ntoicflung als <5icl unb Ceitßern porfdjtpeben foIL 
©b bie ZTIenfdiijeit es Je erreichen rpirb, rper fann es fagen? aber 
ipir tonnen unb follen uns iljm näfyern, unb Ijeute füllen urir 
bereits — anbevs als nodf vor ixoeu ober brciEjunbert ^afyen — 
eine ftttlidje E>erpflid}tung in biefer Hidjtung, unb bie 3arter unb 
barum propfyetifdj unter uns (Empfinbenben blicFcn auf bas Heidj 
ber Ciebe unb bes jriebens nidjt mefyr rpie auf eine bloße 
Utopie, 



— 73 — 

(Stabe besijalb abet ergreift fyeute manchen unter uns eine 
fdftpere <§tpeif elf rage mit perboppelter (ßetpalt: toir fefjen einen 
ganzen Stanb im Kampfe für fein Hedjt ober pielmefyr, tpir fefycn 
xfyx ringen, feine Hechte 311 erweitern unb 311 permeEjren. 3ft bas 
mit djriftlidjer (Sefmnung perein bar, per bietet bas €pangelium einen 
foldjen Kampf nidjt? Stäben toir nidjt gehört, man folle auf fein 
Äedjt persidjten, gefdfipeige mefyr IRedit 311 erlangen fudjen? ^Xlfo 
muffen tpir als Cljrijten bie Arbeiter pom Kampf für t^re Hechte 
abrufen unb muffen fte febiglidj 3ur (5ebulb unb (Ergebung er- 
mahnen? 

Das problem, um rpeldjcs es ftd) fyier fyanbelt, toirb audj in 
ber 5orm einer leifen 2lnflage gegen bas cQjriftcntum laut. Crnfte 
ZTTänner in ben Kreifen 3. 23. ber ZTational«So3ialen unb pertoanbter 
Hinhingen, bie jtd) gerne pon 3cfus CEjrifius toeifen laffen wollen, 
flagen, ba% bas fipangelium fte an biefem punfte im Stiche laffe; 
es fyalte ein Streben nteber, beffen Berechtigung, fte mit gutem (ße- 
ipiffen empftnben; mit feiner 5orberung ber unbedingten Sanftmut 
unb (Ergebung enttoaffne es jcben, ber fämpfen tpifl, unb narfoti« 
ftere gleidjfam alle lebenbige CEjatfraft. Sie fagen es mit 23ebauern 
unb Sdjmer3, anbere mit (ßenugt^uung. Diefe erflären: rpir fyaben 
es immer gerpujjjt, bas €pangelium ift nidjt für bie gefunben unb 
ftorfen ZTIenfdjen, es ift für bie 23lef|terten; es rpeifc nichts bapon 
unb «rill es nidjt roiffen, ba% bas £ebcn, 3umal bas moberne, ein 
Kampf ift, ein Kampf für bas eigene Hedjt. XDelcfyc ^nttoort follen 
rpir ifynen geben? 

3dl meine, bie fo fpredjen ober flagen, fyaberi ftd} nodt immer 
nidtt flar gemacht, um roas es ftctj im (Epangelium fyanbclt, unb 
besiegen es porfdjnell unb ungehörig auf irbifdje Dinge. Vas 
(gpangelium richtet ftdj an ben inneren ZHenfdjen, ber immer ber- 
fclbe bleibt, mag er gefunb ober pertpunbet, mag er in (ßlücfslage 
ober im Unglücf fein, mag er in bem irbifdjen Ceben fämpfen ober 
(ßerponnenes rufyig behaupten muffen. „ZTtein Heid} ijt nidjt pon 
fctefer J£>elt"; bas fipangelium richtet fein irbifdjes Beidj auf. 
Diefe lüorte fdjliejjen nidjt nur bie politifdje Cfyeofratie aus, rpeldje 
ber papft aufrichten will, unb jebe rpcltlidjc J^errfdjaft; fte reichen 
rxodi piel tpeiter; fte per bieten jebes birefte unb gefefelidje (Eingreifen 
&er Heligion in irbifdje Pcrfyältniffe. poptip aber fagt uns bas 
<£pangelium: IDer bu audj fein magfi unb in rpekfyer Cage nur 
immer bu bid? befinben magft, ob Knecht ober freier, ob fämpfcnb 



! 



— 74 — 

ober rufyenb — Seine eigentliche Aufgabe bleibt immer biefelbe; es 
giebt nur ein Pertjältnis unb eine (ßeftnnung für bidi, bie un« 
pcrbrüdjlidi bleiben follen, unb 6er gegenüber bie anderen nur 
tpcdtfelnbe füllen unb 21uf3Üge ftnb: ein Kinb (ßottes unb Bürger 
feines Heises 3U fein unb Ciebe 31t üben. Dir unb beiner 5rciBjeit 
ift es überlaffen, n>ie bu im irbifdjen Cebcn bidj 3U bct»äfyren ijaft 
unb in tpcfcfycr IDeife bu beinern ZTädjften bienen tpittft* So fyat 
ber 21pojtel paulus bas €pangelium perftonben, unb idj glaube 
nidit, ba§ er es mtfepcrftanben fyat. 2llfo fdmpfen toir, jhreben n>ir, 
fdjaffen «>ir bem Unterbrücftcn Hedjt, orbnen nnr bie irbifdjeu Per» 
fyältniffe, toie nrir es mit gutem <5etotffen fönnen unb nrie es uns 
für unferen ZTädtfeu am beften fdjeint; bodj ertparten mir babei 
von bem fipangelium feine birefte f}ülfe, ©erlangen u>ir nidjts in 
eigenfüdjtiger IDeife für uns felbfi unb pergeffen roir nidjt, ba% bie 
Welt pergefyt, nidtf nur mit ifyrer £uft, fonbern auch, mit ifyren 
(Drbnungen unb (ßütern! Xlodi einmal fei es gefagt: bas <£pan- 
gelium fennt nur - ein giel unb eine (Seftnnung, unb es per- 
langt, bafj ber ZHenfd} jte niemals bei Seite fefee. tErttt in ben 
IDorten 3*fu bie «Ermahnung 3um Vcv$\dit in fyerber ©nfeitigfeit in 
ben Dorbergrunb, fo foll uns bamit bie Souperänetät unb ^tusfdjließ- 
lidjfeit bes Perljältniffcs 3U <5ott unb bie £iebesgcftnnung einbring* 
lieb, por 2lugen gebellt roerben. Das <£pangelium liegt über ben 
5ragen ber irbifdjen (Enttpicf hingen; es fümmert ftdj nidft um bie 
Dinge, fonbern um bie Seelen ber ZTCenfdjen, 

Damit ftnb nrir bereits 3U ber nädjften Swae, bie uns befdjäf- 
tigen foll, übergegangen unb fjaben fie fdfon 3ur Hälfte beantwortet: 

4. 7>as fipangelium unb bie Arbeit, ober bie 5*age ber 

Kultur. 

<£s fommen bjer u>efentlid? biefelben <5ejtd}tspunfte in Betracht, 
bie toir in ber eben betrachteten 5tage geltenb gemacht fyaben; bafyer 
permögen tpir uns Fürser 3U faffen. 

3e unb je, por allem aber in unferen (Tagen, fyat man an 
ber prebigt 3efa & a $ 3ntereffe für 3*petfpolle Berufsarbeit unb 
ben Sinn für alle bte ibealen (Süter permigt, bie burefy bie Hamen 
Kunft unb XDtffenfdjaft be3eid?net ftnb. ZtirgenbtPO, fo fagt man, 
forbere 3*fus $nv Arbeit unb 3U fortfdjreitenber Betätigung auf; 
pergeblidj fudje man in feinen IDorten nad? bem 2lusbrucf ber 



_ 75 — 

5reube an frifdjer (Erjätigfcit, unb jene ibealen <5üter lägen gani 
außerhalb feines (Seftdjtsfreifes. 3" feinem legten, üerfyängnispoHen 
Budje: „Der alte unb ber neue <51aube" fyat Dat>ib 5^iebrid? 
Strauß biefem Dermiffen einen befonbcrs gerben Slusbrucf per- 
liefen. <£r fpridjt von einem funbamentalen ZTTangcl im <£van» 
gclium unb fyält es fdjon bcsfyalb für üeraltct unb unbrauchbar, 
toeil es feine 5ut>lung mit ber Kultur unb irjrem 5ortfdjritt Bjabe, 
£ange oor Strauß Bjat rjicr aber bereits ber pietismus ettoas 2tfyn* 
lidjes empfunben unb einen eigcntümlidien 2Iusu>eg gcfudjt. Die 
pictiften gingen bat>on aus, 3ef u $ muffe bireftes Dorbilb fein fönnen 
für alle ZTCenf djen, tt>eld?em Berufe audj immer fie bienen mögen; 
er muffe fiefj in allen mcnfcblidjen Perfyältniffen betoärjrt Reiben. 
Sie gaben nun 311, ba§ bei flüchtiger Betrachtung biefe 5orberung 
in bem £eben 3^fu nidtf erfüllt fei; aber fte meinten, toenn man 
genauer 3ufärje, fänbe man, ba$ er roirflid} ber befte ZTTaurer, ber 
befte Sdnteiber, ber befte Hicrjter, ber befte (Selefyrte u. f. vo. gett>efen 
fei unb afles am t>or3Üglid]jtcn geuntßt unb üerftanben rjabe. 
Sprüche unb tE^aten 3^fu breiten unb tx>enbeten fie fo lange, bis 
ftc bas <ßeir>ünfcf|te ausfagten unb betätigten. Das mar ein finb- 
Kdies Unternehmen, aber bas Problem, tr>elcr?es fte empfanben, toar 
ein ernftfyaftes: fte felbft füllten ftd} burd? (5etr>iffen unb Beruf an 
eine beftimmte (Efyätigfeit unb Aufgabe gebunben; ftc toaren ftcr) 
darüber flar, ba% fte Feine Vflönd\e roerben foHten; aber ftc tooHtcn 
fcodj bte Zlacrjfolge (Ojrifti in pollcm Sinne üben; alfo muß er in 
fcenfelben Derrjältniffen gejtanben rjaben tt>ie fte felbft, unb fein fjori- 
30ttt muß berfelbc gctoefeit fein toie ber irrige. 

Wir fyabm In* er benfelben 5<*H, nur errocitert, ben wxv im 
vorigen 2Ibfdjnitt befyanbelt rjaben: immer roieber entfielt ber 3rrtum, 
als besöge ftcr) bas <£r>angelium auf irbifd^e Derrjältniffe unb muffe 
gefefelidje Porfd?riften für fte geben. Sugleicfj roaltet En'er bie alte 
vrib faft unausrottbare Neigung ber ZHcnfdjen, ftdj irjrer 5rcif}cit 
nrib Perantroortlicfyfeit in fyöfyeren Dingen 3U entäußern unb ftdj 
einem (ßefefee 3U unterwerfen. <£s ift in ber (Efyat oiel bequemer, 
unter irgenb einer Autorität, fei es audj ber rjärteften, 3U leben als 
in ber $*&§& & cs (Buten. Dod? baoon abgefefyen — es bleibt 
nodi immer bie 5rage übrig: 5d}lt bem <£r>angelium nidjt tDtrfltd) 
etwas, roeil es für bie Berufsarbeit fo roenig {Eetlnarjme »errät, 
unb toeil es feinen Kontaft fyat mit bem „Rumänen" im Sinne ber 
IDiffenfcfjaft, ber Kunft unb ber Kultur überhaupt? 



/ 



~ 76 — 

3d\ antworte erstens, was märe beim gewonnen roorben, roernt 
es biefen „Klänget" nicht gehabt hätte? angenommen, es wäre 
lebhaft auf jene Bejlrebungen eingegangen, fyätte es pdf nicht in 
ihnen oerjlrirf en muffen ober minbcflens ben gefährlichen Schein auf 
pch g^ogen, in ihnen oerflricft su fein? Arbeit, Kunß, XDiffcnfchaft, 
Kulturfortfdjritt eyiflieren nicht in abstracto, fonbern immer nur tu 
ber beftimmten pfyxfe einer Seit. ZTTtt ihnen hätte pch bas €i>a)v 
geiium alfo üerbinben muffen, 2Jbcr bic pfyafen änbern pdf. Xt>ir 
erleben fyeute an ber römifdvfatholifchen Kirche, su weldt einer 
fehleren £aft bie Derbinbung mit einer beftimmten Kulturepoche für 
bie Heligion toirb. 3m Mittelalter u>ar bj?fe Kirche voll {Teilnahme, 
formgebenb, gefefegebenb auf alle fragen bes 5ortfchritts unb ber 
Kultur eingegangen. Unocrmerft §at pe aber ihr ^eiliges (Erbe 
unb ifyre eigentliche Aufgabe mit ben <£rfenntniffen, Maximen unb 
3ntereffen, bie pe bamals gewonnen E^at, ibentifoiert. Hun ijl pe 

/ gleicfyfam feftgenagelt auf ber phüofopln'e, ber Nationalökonomie, 

/ !ur3 auf bem gan3cn Kultur3uftanb bes Mittelalters! Wie oiel Ijat 

im (Scgenfafe ba3U bas <£t>angelmm baburd} ber ZTTenfdjfyeit geleitet, 

ba% es bie Cöne ber Beligion in mächtigen 2Jfforben angefangen 

unb jebe anbere ZTCclobie perbannt hat! 

gjroeitens, Arbeit unb frrtfehritt ber Kultur pnb getoig mert* 
ooHe Singe, in benen roir uns ftrebenb bemühen foHen. 21ber bas 
höchfte3beal liegt nicht in ihnen befdjloffen; pe oermögen bie Seele 
nicht mit roirfltcher *3efriebigung 3U erfüllen. ZPohl fdjafft bie Arbeit 
£uft, aber bics ift boch nur bie eine Seite ber Sache; ich fyabt 
immer gefunben, ba% über bie £ujl, u>elche bie Arbeit gewährt, bie- 
gen igen lauter fpredjen, bie pch felbft nicht all3uoiel anftrengen, 
toährenb bie bei ihrem preife Umftänbe machen, bie in ununter» 

I brochener feiger Arbeit ftefyen. 3" oer (L^at, es läuft ba fehr 

oiel leeres (Serebe unb Heuchelei mit unter. Dreiviertel ber Arbeit 

unb mehr ift nichts als ftumpfmachenbe IHü^e, unb toer anrflich 

^art arbeitet, fühlt ben fehnfüchtigen 2Iusblicf bes Didiers auf ben 

2lbenb nach: 

Das fjaupt, bie 5üfc' unb fy&nbe 

Sinb froh, & a 6 nun 3 um <£nbe 
Die Arbeit Fommen fei. 

2(ber auch bie firgebniffe! IDenn man fertig ip, möchte man 
\ebe Arbeit nod\ einmal machen, unb bas StücFtx>erF fällt fchtoer 
auf btc Seele unb bas (Setoiffen. Hein, wir leben nicht fooiel als 



— 77 — 

n>ir arbeiten, fonbern fooiel als toir uns ber Siebe anderer erfreuen 
unb felbft liebe üben! Unb fo rjat 5<*uft redjt: 2lrbeit, bie nichts 
als Arbeit ift, roirb 3um <£fel: „ZTCan fefynt ftdt nadj bes £ebens 
Bächen, ad\, nacrj bes Cebens (Queue rjin." 

Arbeit ift ein f djäfeensioertes Pcntil, roeldjes roir brauchen gegen- 
über größeren Zlötcn; aber fte ift an ftdt fein abfolutes <5ut, unb rr>ir 
fönnen jte nxd\t mit unferen 3bealen 3ufammenftcHen. ärjnlidfes 
gilt von bem Kulturfortfdjritt. <5eroiß, er ijl 3U begrüßen. 2Iber 
n>as rjeute ein 5ortfd^rttt ift, beffen roir uns freuen, roirb morgen 
etroas Znedjanifdjes, bas uns f alt läßt. Der tiefer füfylenbe ZKcnfdj 
nimmt banfbar entgegen roas ibm bie fortfctjreitenbe fintroieflung 
ber Dinge bringt; aber er roeiß aud], baß feine innere Situation — 
bie 5*agen, bie ifyx beroegen, unb bie ©runboerrjältniffe, in benen 
er fieijt — nidjt toefentlidj, ja faum unroef entlief}, burd? bas 
alles geänbert roirb. €s fdjeint immer nur einen 2Jugenblicf fo, 
als fäme nun ein Ueues unb man fei roirflidj entlaftet. ZTCeine 
Ferren! IDenn man älter geroorben ift unb tiefer ins tzbzn fteljt, 
ftnbet man ftcrj, roenn man überhaupt eine innere K>clt bejtfct, 
burdj bzn äußeren (ßang ber Dinge, burdj ben „Kulturfortfdjritt", 
nicfjt geförbert. Klan ftnbet pct| oielmefyr an ber alten Stelle unb 
muß bie Kräfte auffudjeu, bie audj bie Dorfafyren aufgefuerjt 
rjaben. Klan muß pdf rjeimifcii machen in bem Beidje (Sottes, in 
bem Bcicrje bes €roigen unb ber Siebe, unb man oerjterjt es, ba^ 
3efus (Erjriftus nur oon biefem Heidje 3eugen unb fpredjen roollte, 
unb banft es itjm. 

21bcr brittens, 3*fus fyatte ein lebenbiges unb fidjeres Bewußt« 
fein oon bem 21ggreffh>en unb Porroärtstreibenben feiner prebigt. 
„3dj bin gefommen, ein 5euer an3U3Ünben auf <£rben, unb" — 
fügte er rjin3u — „idj roollte, es brennte fdjon." Das 5euer bes 
©eridtts unb bie Kräfte ber liebe roollte er fyerauf führen, um eine 
neue ZTCenfcrtrjeit 3U fer/affen. IDenn er oon biefen Ciebesfräften in 
ber einfachen IDeife gerebet rjat, roie fte ben nädifteu Perfyältniffen 
entfpradj — hungrige fpeifen, XTacfte f leiben, Kranfe unb (Be- 
fangene befuerjen — , fo ift bod} flar, ba% irjm eine ungeheure innere 
Umroälsung ber JTTenfcr/rjeit, bie er in bem Spiegel bes flehten 
paläjttnenftfdten Dolfes farj, oorfdjroebte: „<£iner ijt euer ZTCeifter, 
irjr aber feib alle Srüber." <£s ift bte lefete Stunbe, aber in biefer 
legten Stunbe foll nodj ein 33aum aus fleinem Samenforn auf» 
roadjfen, ber feine Steige roeitfn'n ausbreitet. Unb nodj ein anberes: 



i 



— 78 — 

(Erfenntnis (ßottes offenbarte er unb war gewig, baß jte bic 
Unmünbigen reifen unb bie Sdjwadjen ftäl?lcn unb 311 gelben (ßottes 
machen werbe. (ßotteserfenntnis ift ber Born, ber bas unfrucht- 
bare 5*lb beleben unb Ströme lebenbigen XDaffers fliegen (äffen wirb. 
3n biefem Sinn fjat er von Ujr gefprodfen als bem fyödtften unb 
bem einigen notwenbigen (ßut, als ber Sebingung aller (Erhebung 
unb noir bürfen audj fagen, alles wirf lidjen IDerbens unb 5ort* 
fdjreitens. (Enblidj an feinem fjorisonte lag nidjt nur bas (Beriefet, 
fonbern audj ein Heidf ber (ßeredjtigfcit, ber Siebe unb bes 5nebens, 
gewiß vom Ijimmel jtammenb, aber bodj für biefe (Erbe. ZDann 
es fommt, weiß er felbf! nidjt — bie Stunbe ift nur bem Dater 
bef annt — ; aber rr>ie es fid? verbreitet unb woburdj, bas weiß er, 
unb neben ben bramatifdjen unb farbenreichen Silbern, bie burdj 
feine Seele 3ierjen, ftcfyen audj unverrücfbar unb ftdjer ruhige 2In« 
fdjauungen: Der IDeinbcrg (ßottes auf biefer (Erbe, (Sott ruft feine 
Arbeiter hinein — feiig, wer einen Huf empfängt! — ; fte arbeiten 
in bem lDeinberg, fielen nun nidjt mefer müßig am ZTTarfte, unb 
empfangen sulefet ifyren £olm. ©ber jenes (ßleidmis von ben 
pfunben, bie ausgeteilt werben, bamit man mit ilmen arbeite, bie 
man alfo nidjt im Sdjweißtud? beroa^ren foß. (Ein (Eagetoerf, 
arbeiten, Dermefyrcn, 5ortfd}reiten, aber alles in ben Dienft (ßottes 
unb bes ZTädjften geftellt, »om Cidjte bes (Ewigen umjloffen unb 
bem Dienft bes vergänglichen IDefens entrücft! 

Zlefymen u>ir bas alles 3ufammen, was wir Ijier nur anbeuten 
fonnten — ift bie Klage berechtigt, von ber wir am anfange biefes 
2lbfd}nitts ausgegangen finb? Sollen wir wirflidj wünfdjen, bas 
(Evangelium tjätte ftdj bem „Kulturpro3eß" angefdmtiegt? 3dj 
benfe, ba% wir es aud) an biefem punfte nidjt 3U meiftern, fonbern 
von ifem 3U lernen l\aben. Von ber wirflidjen 2lrbeit, weldje bie 
ZTTenfdjfjeit 3U Ieiften feat, fünbigt es uns, unb wir follen uns biefer 
Botfdjaft gegenüber nidjt hinter unfre fümmerlidje „Kulturarbeit" 
perfd?an3en, „Die <Erf Meinung cnjrifti", fagt ein neuerer ^iftorifer 
mttHedjt, „bleibt bie alleinige (ßrunblage aller ftttlidjen Kultur, unb 
in bem 2Tl!aße, in weldjem biefe (Erfdjeinung mefyr ober weniger 
bcutlidj fyinburcfoubringen vermag, ift audj bie jittlidie Kultur 
unferer Nationen eine größere ober geringere". 



— 79 — 

5, Das (goangefium unb ber (Sottesfofyn, ober bie 5**ag* 

ber Cljriftologie. 

XDir treten jefet aus bem Kreife ber $ragen, bie roir bisher 
bejubelt \\aben, heraus. 3ene r>ter fingen alle aufs engjte unter- 
einander 5u(ammen. Überall, roo man bte richtige Antwort ©er- 
ferjlt fyat, lag 6er (Srunb barin, ba$ man bas Coangelium nidjt 
rjod? genug genommen, baß man es boefj irgenbune auf bas Hbeau 
trbifcfjer 5^gen r^erabgesogen unb mit ifynen üerflocrjten fyat. ©ber 
anbers ausgebrücft: Die Kräfte bes (Evangeliums bc3ierjen per? auf 
bie tiefften (ßrunblagen menfcrjlidjen IDefens unb nur auf fte; 
lebiglidj rjier fefeen fie ben £}ebel an. Wer bar/er nidjt auf bie 
TOnt$eln ber ZHenfdjljeit 3urücF3ugerjen oermag, roer fte nierjt 
empfinbet unb erfennt, ber roirb bas (goangelium nierjt oerfterjen, 
roirb es 3U profanieren »erfudjen ober pdf über feine Unbrauchbar- 
fett beflagen. 

Zinn aber treten roir an ein gan3 neues Problem tjeran: 

roeldfe Stellung fyat ficfj 3efus felbjt, inbem er bas (Eoangeltum 

r>erfünbete, 3U biefer feiner Botfdjafi gegeben, unb roie roollte er 

felbft aufgenommen fein? IDir fpredjen nodj nierjt bat>on, roie ifyn 

feine 3ü"ge* erfaßt, ins fjer3 gefcfjloffen unb beurteilt rjaben, fonbern 

lebiglid? oon feinem Selbfoeugnis. Tibet aud? fdjon mit biefer 

Unterfucfjung treten roir in ben großen unb tnel umftrittenen Kreis 

pon 5*agen, bie bie Kird)engefdjid)te feit bem erfkn 3ar|rrjunbert 

bis 3ur (Begenroart bebeefen. Um einer XTuance roiHen fünbtgte man 

ftdj fyer bie brüberlicfje <5emeinfcrjaft unb finb Caufenbe gefd]märjt, 

perroorfen, in Ketten gelegt unb rjingemorbet roorben. <£s ijt eine 

fdjaurige <8efd?icr/te. 21uf bem 23oben ber „<£rjriftologie" rjaben bte 

2T*enfdien itjre religiöfen lehren 3U furchtbaren Züaffen gefcfjmiebct 

unb 5urd?t unb Sdjrecfen verbreitet. Diefe Haltung bauert nodj immer 

fort, bie (Ojrijtologie roirb berjanbelt, als böte bas €oangeltum feine 

anbere $vaqe f unb ber 5<*natismus, ber fte begleitet, ift audj rjeute 

nodj lebenbig. Daß bas Problem oon einer foldjen £aft ber 

(ßcfdjicrjte bebrücft unb ben Parteien ausgeliefert, oerbunfelt ifl — 

xver fottte ftdj baruber rounbern? Unb boerj, roer mit unbefangenem 

33Hcf in unfere €oangelien fdjaut, für ben ift bie 5rage bes Selbj!- 

3cugniffes 3*fu feine unlösbare. ZDas aber in ifyr bem Derfkmb 

ounfel unb gerjeimnisoott bleibt, bas follte im Sinne 3^fu unb nad\ 

oer ZTatur bes Problems fo bleiben unb fann nur in Silbern oon 



— 80 — 

uns 3ur 21usfage gebracht tr>erbcn. „fe giebt (Erlernungen, fcic 
in ben Dorftellungsfomplcr bes Derftonbes gar nidjt oljne Symbol 
eingereiht roer ben fönnen." 

3tx>ei fjauptpunfte finb 3unädjft fefouftcllen, bcr>or nrir bas 
Sclbfocugnis 3efu unterfudjen: (ErjUidf, er tr>ollte feinen anberen 
(glauben an feine perfon unb feinen anberen Slnfdjlujj an pe als 
ben, ber in bem galten feiner (ßebote befdjloffen liegt Selbft im 
inerten fioangelium, in welchem bie perfon ^e\\x oftmals über ben 
3nfyalt bes fioangeliums hinausgehoben crfdjeint, ijl bodf ber <ße- 
banfe nod] fd)arf formuliert: „Ciebet iljr midi, fo galtet meine 
<5ebote." <£r fyatte fdjon fclbft tod^renb feines IDirfens erfahren 
muffen, ba% €tlidje ifyt oereljrten, ja ifyn ©ertrauten, aber pdf um 
ben 3nfyalt feiner prebigt nidjt fümmerten. 3^nen Ijat er bas 
prafenbe ZDort 3ugerufen: „<£s toerben nidjt äße, bie 3U mir „X^err, 
£}err" fagen, in bas Üjimmelreidj fommen, fonbem nur bie, tseldje 
ben ZDiHen meines Daters tfyxn. u 2Xlfo lag es gan3 außer feinem 
(ßepdjtsfrcife, unabhängig oon feinem €oangelium eine „£efyre" 
über feine perfon unb feine IDürbe 3U geben. 3 rocitens, ben 
I}errn Fimmels unb ber (Erbe Ijat er als feinen <ßott unb Pater, 
als ben (Sröfceren, als ben allein (Buten beseidptet« (£r ijt geu>if$, 
alles, rr>as er fyat unb xoas er ausrichten fofl,. oon biefem Dater 
311 fyaben. §u ifyn betet er, feinem IDtllcn orbnet er pdf unter: 
in Reifem Hingen fudjt er ir^n 3U erforfdjen unb 3U erfüllen, giel, 
Kraft, fiinpdjt, (Erfolg unb bas fyarte IHüffen — alles fommt ifym 
00m Dater. So fte^t es in ben <£t>angelien; ba iji nichts 3U breiten 
unb 3U beuteln. Dies cmppnbenbe, betenbe, fyanbelnbe, ringenbc 
xxnb leibenbe 3^? *P «n ZTCenfdj, ber [\d\ audj feinem <$5ott gegen- 
über mit anberen JTTcnfdien 3ufammenfd?lie§t. 

Diefe beiben firfenntniffe 3iefyen gleidjfam bie <5ren3linien, um 
bas (ßebict richtig 3U umfdjreiben, auf toeldjem bas Selbfoeugnis 
3efu liegt, poptto ift für basfelbe freilidj nod) nidjts gewonnen* 
IDir f äffen es aber alsbaib in feinem inncrjlen Kerne, n>enn toir 
bie beiben Sclbftbe3eid}nungen 3*fu näljer betrachten: iSofyn (5ottes 
unb XTCeffias (Datnbsfotjn, XTCenfdienfofyn). 

3enc Se3eicr|nung, mag pe auefy urfprünglid) mefpanifd} ge- 
badet fein, liegt Bleute unferem Derftänbnis fcfyr oiel näfycr als biefe; 
beim 3efas fclbp Ijat bem Segriff „(Sottcsfoljn" einen 3^alt ge- 
geben, burcrj ben er faft aus bem mefftaniferjen Sd?ema herausfällt 
ober bodj 3U feinem Dcrftänbnis biefes Sdiexnas nidjt notoenbig 



— 81 — 

bcbarf. Dagegen ift uns bie 23c3eidntung „ZHefftas", wenn mir uns 
nidjt mit einem toten IPort begnügen motten, 3unäd$ gan3 fremb. 
IPir perlen nid?t ohne weiteres, ja mir oerfteEjen als Hidjt- 
3uben überhaupt nidjt, mas biefe IDürbe befagen fott unb welchen 
Umfang unb meldje fjö^e jle Ejat. <£rft wenn mir iEjren Sinn burd] 
gcfdn'djtlidte Hnterfudfungen ermittelt traben, fönnen mir fragen, ob 
Sern IPort eine Bebeutung 3ufommt, bie trgenbmie befteEjcn bleibt, 
audj nad(bem bie jübifdt-politifdje 5orm unb Sdjale 3erbrodjen i% 
öetradjten rr>ir 3unädjft bie Se3eidjnung „SoEjn <5ottes". 3*fus 
fyat es uns in einer feiner Heben befonbers bcutlidj gemacht, marum 
unb in meldtem Sinne er ftdj ben „SoEjn (Bottes" genannt Ejat. 
23ei ZHattEjäus, nidft etma bei ^ofyannes, ftcEjt bas IPort: „Zliemanb 
f ennet ben SoEjn, benn nur "ber Pater, unb niemanb fennet ben 
Pater, benn nur ber SoEjn, unb wem es ber SoEjn mitt offenbaren." 
Die <5otteserfenntnis ijl bie Sphäre ber <5ottesfoE}nfdjaft. <£ben 
in btefer (Sotteserfenntnis Ejat er bas ^eilige tPefen, melcfycs £}immel 
unb €rbe regiert, als Pater, als feinen Pater Fennen gelernt. Sein 
23cmußtfctn, ber SoEjn (Sott es 3U fein, ift barum nidjts anberes 
eis bie praftifcfye 5olge ber (Erkenntnis (ßottes als bes Paters unb 
feines Paters. Zledit ©erftanben ift bie Sotteserfenntnis ber gan3e 
3nE|alt bes SoEjnesnamens* 2Jber ein Doppeltes ift E)in3U3ufügen: 
3efus ift über3eugt, <5ott fo 3U fennen, mie feinet vov iEjm, unb 
<>r mei§, ba% er ben Beruf Ejat, allen anbeten biefe <5otteserfennt« 
nis — unb bamit bie (Bottesfinbfdjaft — burdj IPort unb (EEjat 
mitsuteilen. 3" btefem Semußtfein mei§ et ftd? als ber berufene 
unb von (Sott eingefefcte SoEjn, als ber SoEjn (Sottes, unb barum 
fann et fpredjen: ITCein (Sott unb mein Pater, unb er legt in 
biefe Anrufung etmas hinein, mas nur iEjm 3ufteEjt. IPie er 3U 
biefem 33emußtfein ber €in3igartigfeit feines SoEjnesDerEjältniffes 
gefommen ift, mie er 3U bem Semußtfein feiner Kraft gelangt ift 
unb ber Perpfh'djtung unb Aufgabe, bie in biefer Kraft liegen, bas 
ift fein (BeEjeimnis unb feine pfydjologie mirb es erforfdjen. Die 
§uvetfid\t, in ber iEjn 3oE?annes 3um Pater fpredjen lagt: „Du 
Ejaft miefy geliebt, eEjc benn bie Welt gegrünbet- mar", ift fidjerlidj 
fcer eigenen (BemigEjeit 3*fa abgelaufdjt. £jier Ejat alle 5orfdjung 
fttHe 3U galten. 2Iudj bas permögen roir nidjt 3U fagen, feit mann 
et fkft als ber SoEjn gemußt unb ob er fxcfy bann gan3 unb gar 
mit biefem Segriff ibentiföiert fyat, ob fein 3<^ mit bemjelben oer» 
fdimofeen mar ober ob Ejier nodj eine Spannung unb innere 2luf- 

Qarnacf, Das ZDefen bes Ctjriflentums. ß 



— 82 — 

gäbe für iijn bcjtanben fyed. (Ergründen formte fyer nur einer 
etwas, ber eine annafyernbc (Erfahrung gemacht Bjat €in propfyct 
mag vev\i\d\en f ben Sdjleier 3U lieben; wit aber muffen uns be- 
gnügen, fcföufteßcn, ba% biefer 3 c f U5 / ber Sclbfterfenntnis unb 
Demut gelehrt, bodj fidi unb ftdj allein ben Soljn (ßottes ge- 
nannt fyat. (Er n>et§, ba% er ben Datcr fennt, ba§ er biefe £r« 
fenntnts allen bringen foll, unb ba% er bamtt bas XDcrf (Sottes 
felbcr treibt. <£s ift bas größte unter allen XDcrFen (ßottes, §iel 
unb <£nbc feiner Sdjöpfung. 3tjm ift cs übertragen, unb er toirb 
es in (Sottes Kraft burdtfüfyren. 2lus biefem Kraftgefüfyl heraus 
unb im Slusblicf auf ben Sieg ijat er bas XDort gefprodjen: „2llle 
Dinge pnb mir übergeben x>ou meinem Datcr." 3c unb je 
ftub in ber ZTCcnfd^eit 2T(änncr (ßottes aufgetreten mit bem fieberen 
23crr>ußtfein, eine göttliche 23otfdjaft 3U befifcen unb fte, tsollcnb ober 
nidjt roollcnb, serfünbigen 3U muffen. 2lber immer tpar bie 23ot* 
fdjaft um>oüfommcn, an biefer ober jener Stelle brüdjig, mit poli- 
tifdjem unb mit partifulaiem oerflodjtcn, auf einen augenblicf liefen 
Suftanb berechnet, unb ber prop^et beftanb fcfyr oft bie probe 
nidjt, felbft bas (E^cmpcl feiner 23otfdjaft 3U fein. £}ier aber toirb 
bie tieffte unb % umfaffenbfte Sotfdjaft gebracht, bie ben 2ttenfd7en 
an feinen fflüx$eln faßt unb, im Batjmcn bes jübifdjen Dolfs, fidi 
an bie gan3e ZTIenfdjlicit richtet — bie 23otfdjaft oon (Sott bem 
Dater. Sie ift nidjt brüchig, unb itjr eigentlicher 3nlialt löft ftdj 
leidet aus ben notoenbigen füllen 3citgefdjid}tlidjer formen. Sic 
ift nidtf oeraltet, fonbem triumphiert nod? ^eute ftarf unb Iebeubig 
über alles (ßefdjetien. Unb ber fte oerfünbigt fyat, tjat nodj feinem 
feine Stelle abgetreten unb giebt nodj tjeute bem leben ber ZlTcnfdjen 
einen Sinn unb bas Siel — er, ber Sofjn (ßottes. 

Damit finb u?ir bereits 3U ber anberen Sclbftbe3eid}nung 3cfu 
übergegangen: ZTTcffias. 3ct>or idj fte fur3 3U erläutern t>erfud7e, 
ift es mir Pflicht 3U ertoä^nen, ba% bebeutenbe (Belehrte — unter 
ifyten IPell^aufcn — es besroeifclt ijaben, ba$ 3efus ftdj felbft 
als 2Tüefjias bc3eid?net fyat. 3dj oermag bem aber nidjt bci3u- 
fttmmen, ja idj finbc, bafa man unfere eüangelifdjcn Sendete aus 
ben Engeln beben muß, um bas (ßeisünfdjte 3U erreichen, bereits 
ber 2lusbrucf „^enfdjenfofyn" fdjcint mir nur mcffianifdj oerftanben 
toerben 3U fönnen — ba$ ifyn aber 3*fus felbft gebraucht fyat, ift 
nidjt 3U be3u>cifeln — , unb, um oon anberem 3U fdjtDcigcn, eine 
(ßcfdjidjte wie bie bes <£ht3ugs <E£^rifti in 3erufalem müßte man 



— 83 — 

einfadj jhreidjen, um bie CEtjcfe burdftufüFjren, er fyahe pdf nidft 
für ben ©erfycißenen 2Tücfftas gehalten unb audf nidjt bafür gelten 
wollen. Da3U fommt, &a§ bie formen, in benen 3*fas fein Selbjt« 
bewußtfein unb feinen 23eruf 3um 2lusbrucf gebracht fjat, gan3 
unt>erfiänblidj werben, wenn jte nidjt burdj bie mefjtanifcfye 3bee 
benimmt gewefen jtnb. €nblidf, ba bie pojttioen (ßrünbe, bie man 
für jene 2lnjtd)t beibringt, fefy: fdjroac^e be3w. fyödtjt fragwürbige 
fhtb, fo bürfen wir 3Uoerjtdjtlidj bei ber 2tnnafyme bleiben, ba% 
3cfu5 ftd? felbjt ben ZTCefjtas genannt fyat 

2>as ZTCefftasbilb unb bie mefftanifdien PorjleHungen, rr>ie jte 
im Seitalter 3*fu lebenbig waren, fyatten jtdf auf 3wei fombinierten 
£inien entwicfelt, auf ber £inie bes Königs unb auf ber bes Pro- 
pheten; ba3U fyatte nod\ manches 5rembartige eingewirkt, unb »er- 
Märt würbe alles burdj bie uralte (Erwartung, ba% (Sott fclbjt 
jtcfybar bie ^errfdjaft über fein Volt antreten werbe. 3)ie £}aupt» 
3Üge bes ZTTefjtasbilbes waren bem israelitifdjen Königtum ent- 
nommen, wie es in ibealem <Slan3e prallte, nadjbem es unter- 
gegangen war. 2lber bie (Erinnerungen an ZTCofes unb bie großen 
Propheten fpielten hinein. ZDie ftctj bie mefftanifdjen (Erwartungen 
bis 3um Seitalter 3efu ausgeprägt Ratten, unb wie er jte aufge- 
nommen unb umgebilbet fjat, werben wir in ber folgenben Dor- 
lefung in Kür3e barjteHen. 



Jtrijfs Börfefung* 



Sie mefftanifdjen £cfyren im jübifdjen Volte im ^Walter 3«fa 
toaren feine „Sogmatif", audf toaren fie nidjt mit ben ftreng aus* 
gebilbeten gefefclidjen Dorfdjriften oerfnüpft, fonbem fte bilbeten 
einen toefentlidjen Seftanbteil ber religiöfen unb politifdjen gufunfts« 
Hoffnungen bes Polfes, ZZwc in allgemeinen (5runblinicn ftanbeit 
fte feft; barüber hinaus fyerrfdften große Perfdjiebenfyeiten. "Die 
alten Propheten Ratten in eine fyerrlidje «gufunft ausgeblicFt, in 
tseldjer (ßott felbft crfdjeinen, bie 5*inbe 3sraek sernidjten unb 
(ßeredjtigfeit, triebe unb 5reube fcfyaffen t»erbe. (ßleidfteitig Ratten 
fte aber audf bas auftreten eines rr>eifcn mit mächtigen Königs 
aus Saoib's Qaufe perfyetfcen, ber ben fyerrltdjen guftanb herauf- 
füijren roerbe. <£nblidj Ratten fte bas Dolf 3srael felbft als ben 
aus ber Pölferroelt erroä^lten Sofyt (5ottes beseicfynet. Diefe brei 
XTComente [xnb für bie 21usbilbung ber mefftanifdjen 3&cen in ber 
5olge3eit maßgebenb getoorben. Die Hoffnung auf eine fyerrlidjc 
gufunft bes Dolfes 3^racl blieb ber Halmen für aQe (Entartungen, 
aber folgenbes trat in ^>cn beiben 3ä^ r fyunberten oor (EB^riftus noeff 
Jjin3u: \. ZTTit ber (Erweiterung bes gefdjtdjtlidjen Ejori3ontcs tourbe 
bas 3ntercffe bev 3uben für bie Pölferu?elt immer lebenbiger, bie 
3bee ber gefamten „ZHcufd^eit" fteHt ftcfy ein, unb bas <Znbe, alfo 
'auefy bas IDirfcn bes ZlTcf ftas roirb auf fte bc3ogen; bas <5erid?t 
u?irb XDeltgeridjt unb ber ZTTefftas UMtfjcrrfdjer unb «ridjtcr. 2. 2In 
eine ftttlicfye Cäutcrung bes Dolfes fyatte man fdjon früher im £}in« 
blief auf bie fyerrlidje ^ufunft gebadet; aber bie Vernichtung ber 
5einbe 3^raels erf djien bodt als bie ^auptfadje; nun aber rourbe 
in Dielen bas (ßefübl ber ftttlidjen Derantoortlidjfeit unb bie (Er- 



— 85 — 

Fcnntnis <5ottes als bes ^eiligen febenbiger; bie mefftanifdjc Seit 
Dcrlangt ein ^eiliges Dolf, unb bas (Bericht n>irb ba^er notoenbig 
audj ein <5eridjt über einen Ceti oon 3^rael fclbft fein muffen» 
3. 1>er 3 n ^i ü ^ ua ^ 5mus **>urbe Fräftiger, unb bemgemäß trat bie 
23e5ie^ung <5ottes auf ben ein3elnen in ben Dorbergrunb: ber einsclne 
3sraeltt empftnbet fidt inmitten feines Dolfes, unb er beginnt fein 
Dolf als eine Summe von ein3elnen 311 beurteilen; ber inbioibuelle 
DorfeEjungsglaube tritt neben ben politifdjen, üerbinbet ftd^ mit bem 
IDert« unb Deranttr>ortungsgcfüi}I, unb es bämmert bie Hoffnung 
auf ein eroiges £eben unb bie 5urdjt t>or eu>iger Strafe im gu« 
fammenfyang mit ben enbgefdn'djtlidjen €ru>artungcn auf — bas 
pcrfönlidje ^eilsintereffe unb ber Sluferftefjungsglaube ftnb bie 
(Ergebniffe biefer inneren €nhr>icFlung, unb bas gefdjärfte <Setr>iffen 
permag bei ber offenbaren ttnfyciligfeit bes Polfes unb ber 2Xiad\t 
ber Sixnbe auf eine Ejerrlicfye Sufunft für alle nidtf meijr 3U fyoffen; 
nur ein Heft roirb gerettet; %. bie <3ufunftscrtx>artungen tx>erben 
immer mcfyr transcenbent; fie rr>erben immer ftärfer ins Übernatür- 
liche unb Übertx>eltlidje umgefefet; 00m £}immel Fommt ctoas gau3 
ZTeues auf bie <£rbe, unb ein oöHig neuer IDeltlauf Iöjl ben alten 
ab; ja felbjl bie ocrflärte <£rbe ift nidjt meljr bas lefete Siel; bie 
3bce einer abfoluten Seligfeit, beren Stätte nur ber £}immcl felbß 
fein fann, taucht auf; bie perfönlidjfeit bes erwarteten ZHeffias 
gren3t pdf fcfyärfer txrie gegen bie ^}bee eines irbifdjen Königs, fo 
gegen bie bes Dolf es als gan3en unb gegen bie (ßottes ab: ber 
ZHefftas behalt faum nodj irbifdje Süge, obgleich er als ZTZenfdj 
unter ZHenfdjen erfdjeint: feit ben Cagen ber Ur3cit ift er bei <5ott, 
f ommt oom £}immel fyernieber unb richtet mit übcrmenfc^lid^en IHitteln 
fein Wert aus; bie ftttlidjen §üge in feinem 23ilbe treten Neroon 
er ijt ber oollfommene (Beredete, ber aQe (ßebote erfüllt, ja felbft 
bie Dorftcltung bringt ein, ba$ feine Derbienftc ben anbern 3U 
gute fommen; allein bie ^}bee eines leibenben ZUefjtas — burdj 
3efaias 53, n?ie man benfen follte, naiie gelegt — tmrb nidjt ge- 
wonnen, 

21lle biefc Spefulationen Dcrmocfyten aber bie älteren einfacheren 
2luffaffungen nidjt 3U Derbrängen unb ben urfprüngltdjen patrtottfdj- 
politifdjen 0rientierungspunft bei ber großen ZHcl^alil bes Dolfes 
nidjt 3U oerrücfcn. (5ott felbji nimmt bas Sceptev in bie Qanb, 
t>ernid}tet feine (5egner unb begrünbet bas israelitifdje IDeltreidj; 
er bebient fid? ba3U eines föniglidjen gelben; man ftfet nun unter 



— 86 — 

feinem Feigenbaum unb feinem IDeinftocf unb genießt fcen 5rtebcn, 
inbem man ben S*% <*uf ben Zlad en feiner 5einbe fyält — bas war 
bodj tt>oljl noefj immer bie populärste Porjtellung, unb pe rourbe 
audj von folgen fcjtgeEjalten, bie baneben fyöBjcren 2lnfd}auungeii 
nachgingen, 21ber in einem (Ecil bes Voltes roar u^roeifetfjaft ber 
Sinn bafür getoecFt, ba$ bas Heidj <5ottes eine entfpredjenbe fitt- 
lidjc Derfaffung »orausfefee, unb baß es nur 3U einem gerechten 
VolU Fommen Fönne. Die einen fucfyten biefe (SeredftigFeit auf bent 
IDege ber pünFtlidjften (ßefefcesbeobacrjtung 3U erroerben unb fonnten 
fldj in bem (Eifer um fte nidjt genug tfjun; anbere, von tieferer 
SclbfterFenntnis betoegt, begannen etroas baoon 3U afynen, ba% jene 
fyeiß erfetjnte (ßcredjtigFeit fclbft nur aus (ßottes tyanb Fommen 
Fönne, bajj man göttlicher fjülfc, göttlicher (5nabe unb Barmlje^ig- 
Feit bebürfe, um bie Cafl ber Sünbe — benn ein inneres Sürxben* 
gcfüfyl rourbe in iijnen quabott Iebenbig — los 3U »erben. 

So roogten im Zeitalter (Zfycifii foroofyl gan3 bisparate Stirn* 
mungen als Fonträre irjeoretifdje Porftellungen, auf einen punft 
be3ogen ; roilb burdjeinanbcr. XMelleidjt niemals in ber (Scfcfiidjte 
rrieber unb bei Feinem anberen DolFc lagen bie äußerten <$5egen« 
fäfee, oon ber Heligion 3ufammenger}a(ten, fo nalje bei ebtanber. 
33alb erfcfyeint ber £jori3ont fo eng rr>ie ber Kreis ber Serge, bie 
3erufalem umgeben, balb umfaßt er bie gan3e Znenfdffyeit. fjier 
iß alles auf bie fjötje einer geiftigen nnb fittlicrjen 2lnfdjauung er- 
hoben, unb bort, bidjt baneben, fdjeint bas gan3e Drama mit einem 
politifdjen Siege bes DolFcs fdjltcßen 3U foHen. fjier enthinben ftdj 
alle Kräfte bes (ßottoertrauens, ber dfaüerjtdjt, unb ber 5tomme 
ringt jtd? 3U einem ^eiligen „Dennoch" burd?, bort fyält ein ftttltdj 
jhimpfcr patriotifcfyer Fanatismus jebe religiöfe Hegung nieber. 

Das 33ilb, xveldies man pdf com XTCeffias machte, mußte fo 
t»iberfprud}SDoH fein tme bie Hoffnungen, bener\, es entfprccfyen 
foHte. ZTidjt nur bie formalen DorjteHungen oon iljm fdjtoanFten 
unficfjer tjin unb fjer — rote rr>irb feine Hatur befdjaffen fein? — , 
fonbern oor allem fem inneres IDcfen unb fein 23eruf erfdjiencn 
in gan3 t>erfdjiebenem £idfte. 2lber bei allen benen, in roeldjen 
bie ftttlidjen unb roafyrrjaft rcligiöfen demente bie ©berfymb 3U 
gereimten begannen, mußte bas 33ilb bes politifdjen unb bes Friege- 
rifdjen Königs 3urücFroeicf}en unb bas Silb bes Propheten, toeld]cs 
immer fdjon leife auf bie PorfteHungen eingeurirFt fyatte, an bie 
Stelle treten. Daß ber ZHefftas (ßott narje bringen, ba% er irgenbroie 



— 87 — 

(ßcredftigfeit fdjaffen, ba% er von ben quälenben inneren Caften 
befreien tserbe, tourbe erhofft. Daß es im jübifdjen Polfe bamals 
<5läubige gegeben fyat, bie einen folgen XTCefftas erwarteten ober bodj 
nidjt von Dornfyerein ablehnten, 3eigt uns bereits bie (ßefdjidjte 
3oI|annes' bes Oufers, toie roir fie in unferen <£t>angeüen lefen. 
Xüir erfahren aus i£}r, ba% einige geneigt getr>efen futb, biefen 
3o^annes für ben ZlTeffias 3U galten. Wie elajttfdf muffen bie 
mcfftanifdtcn PorfteQungen getoefen fein unb roie ftarf muffen fte 
ftdj in getr>iffen Kreifen von ifyren ttrfprüngen entfernt \\aben, wenn 
man biefen gan3 unföniglidjen Sußprebiger im ZITantel von Kamels- 
paaren, \fy\, ber bem entarteten Volte lebiglid? bas nafyc (Bericht 
anfünbigte, für ben ZUefjtas felbjl galten fonnte! Unb wenn roir 
weiter in ben <£oangclicn lefen, ba^ .nicfyt wenige im Polfe 3efus 
für ben ZTCefjtas gehalten fyaben f nur weil er gewaltig prebigte 
unb burdf ZDunbertfyaten feilte — wie grünblidf erfdjeint ba bas 
mefftanifdje 23ilb geänbert! jrcilidi, fte fafyen in biefem £}eilanbs- 
wirfen nur ben Anfang, fte erwarteten, ba$ biefer ZDunbertijäter 
nun balb bie lefcte fjülle abwerfen unb „bas Heidf aufrichten" 
werbe; aber fdjon bies genügt E^ter, ba% fte einen Zftann, beffen 
fjerfunft unb bisheriges Heben fte fannten unb ber nod? nid]ts 
getrau £jatte als Süße 3U prebigen, bie Hä^e bes Himmelreichs 
3U t>erfünbigen unb 3U feilen, als ben Perfyeißenen 3U begrüßen 
»ermodjten. Niemals werben roir ergrünben, burd? weldje innere 
fintwicflung 3efus r>on ber <5ewißfyeit, ber Sotyi (Sottes 3U fein, 
übergegangen ift 3U ber anberen, ber t>erf)eißene ZHefjtas 3U fein. 
Tibet bie <£inftdjt, bajj bamals aud) bei anbeten bie Porftellung 
pom ZTCefftas burd] eine langfame ttmwanblung gan3 neue d5üge 
erhalten fyatte unb ftdj aus einer politifdKeligiöfen 3bee in eine 
geifHg«religiöfe umfefete — biefe fiinftdjt befreit bodj bas Problem 
aus feiner völligen 3folieruug. Daß 3ofyannes ber (Läufer, baft 
bie 3wölf 3ünger 3efus als ben ZTCefftas anettannt l^aben, ba% fte 
nidit biefe 5orm für bie abfolute JDertfdjäfeung feiner perfon oer» 
toorfen, fonbern fte ftdj Dielmeijr in eben biefer 5orm fixiert ijaben, 
ifl ein Beweis bafür, wie beweglidj bie mefftanifdje 3bee bamals 
gewefen ift, unb erflärt es bafjer audj, ba% 3*fus felbft fte auf- 
nehmen Fonnte. Robur in infirmitate perficitur: bafc es eine gött- 
liche Kraft unb £}errlidtfeit giebt, bie feiner irbifdjen XÜad\t unb 
feines irbifd?en (Slan^es bebarf, ja fte ausfließt, ba% es eine 
ZTTajefiät bes ^eiligen unb ber £iebe giebt, bie biejenigen, weld^e fte 



— 88 — 

ergreift, rettet unb befcligt — bas fyat ber gewußt, ber pdf trofe feiner 
XTiebrigfeit ben ZTTeffias genannt fyat, unb bas muffen bic empfunben 
lieben, bie xfyx als ben von (Sott gefalbten König 3sraels aner- 
fannten. 

Wie 3efus 3U bem Bewußtfein, ber ZTüefftas 3U fein, gelangt 
i% bas »ermögen wir nidjt 3U ergrünben, aber einiges, was int 
Sufammcnljang mit biefer 5*age jtefy, tonnen wir bodj fejtjtettetu 
Die ältere Überlieferung faij in einem inneren (Erlebnis 3cfu bei 
ber (taufe bie (Srunblcgung feines mcf ftanifdten Bewußtfeins. DOxr 
fönnen bas nidft fontroßieren, aber wir jtnb nodf weniger imjkmbe 
3U wiberfpredjen; es ijl üielmcfyr burdjaus waEjrfdjeinltd), ba% et, 
als er öffentlich auftrat, bereits in fictj abgcfdjloffen war. Die 
(Evangelien gellen eine merfiqürbige Pcrfudjungsgefdiidjte 3cfu vov 
ben Beginn feines öffentlichen XDirfens. Sie fefct ooraus, ba% er 
ftdj bereits als ber Soijn (5ottes unb als ber mit bem entfdjetbenben 
IDerfe für bas Pol! (ßottes Betraute gewußt unb bic Perfudjungcn 
beftanben Ijat, bie an biefcs Bewußtfein gefnüpft waren. 2ils 
3oijannes aus bem (ßefängnis xfyx fragen läßt: „Bifi bu, ber ba 
fommen foH, ober follen wir eines anberen warten", ba antwortet 
er fo, baß ber 5ragenbc ©erflehen mußte: €r tft ber ZTTefftas, ba% 
er aber 3ugleidj erfuhr, wie ^}e\ns bas meffianifdje 2lmt auf« 
faßte. Dann tarn ber Cag oon £äfarea pbiltppi, an welchem 
ifjn Petrus als ben erwarteten <£tjrtftus anerkannte unb 3cfus es 
ifym freubig betätigte. Dann folgte bic 5rage an bic P^arifäcr: 
„IDie bünfet eudj um Cfjrifto, wes Sofyn iß er?" jene Scene, bic 
mit ber neuen $rage fd?loß: „So Daoib ben ZHefpas einen Qcrrn 
nennt, wie ift er benn fein Soijn?" (Es folgte enbltdj ber (£in3ug in 
3erufalem oor allem PolF famt ber tEempelreinigung; fte famen 
ber öffentlichen (Erflärung gleich, ba% er ber ZTCefftas fei. 2tbcr 
feine erjte un3weibeutige meffianifdje fjanblung war audj feine 
leftte — bie Dornenfrone unb bas Kreu3 folgten itjr. 

ZPir fyabcn gefagt, es fei wafyrfdjeinlidj, ba^ 3*fus, als er 
öffentlich auftrat, bereits in fidj abgefdjloffen unb barum audj über 
feine ZTCiffton flar gewefen ift. 2lber bamit ift nidjt behauptet, ba% 
tfjm felbft jene Zfiiffton nichts mcljr gebracht fyätte. Xlxd\t nur 3U 
leiben fyat er lernen muffen unb bem Krcu3e mit (Sottoertrauen 
entgegen3ufe^en — bas Bewußtfein feiner SoEjnfcfyaft fjattc ftdj nun 
3u bewähren, unb bie (Erfenntnis bes „IDerfcs", mit bem ilnt ber 
Dater erft betraut Blatte, fonnte jtd? crß in ber Arbeit unb in ber 



— 89 — 

Belegung jeglichen ZPiberftonbes entmicfeln. ZPeldf eine Stunde 
muß es gemefen fein, in ber er jtcfy als 6en erfannte, oon bem bie 
Propheten gerebet Ratten, als er bie gan3e <5efd?idjte feines Polfes 
oon 2lbraljam unb UTofes an im Cidjtc feiner eigenen Senbung 
fafy, als er ber €rfenntnis nidjt mcfyr aus3umeid?en ocrmodjte, er 
fei ber ©erfyeißene ZTCefftas! Ztidit meljr aus3umeidjen ©ermodjte — 
benn rote lägt es ftdj anbers oorftellen, als ba$ biefe (Erfcnntnis 
3unäd# als bie furdjtbarjte £aft von itjm empfunben werben mußte? 
Dodj, mir jtnb fdjon 3U meit gegangen: mir oermögen nidfts me^r 
3U fagen. Zl\xt bas oerjteijcn mir oon fyier aus, ba% 3o^annes 
red?t Ijat, wenn er 3*fus immer mieber be3cugen läßt: „3d? \\abe 
nidjt t>on mir felber gerebet, fonbern ber Pater, ber midi gefanbt 
Jjat, ijat mir ein (ßebot gegeben, mas idj ttjun unb reben foß," 
unb: „3d? bin nidjt allein; benn ber Pater ift bei mir." 

IPie mir immer über ben Begriff „ZlTcfjtas" benfen mögen — 
er mar boefy bie fd)led}tljin notmenbige Porausfefeung, bamit ber 
innerlich Berufene innerhalb ber jübifdjcn Seligions- 
gefdfidjte — ber tiefften unb reiften, bie ein Pol! erlebt ijat, ja 
mie bie gufunft 3eigen follte, ber eigentlichen Heligionsgefdjiditc ber 
ZHenf^eit — bie abfolute 2(nerfennung 3U geminnen 
»ermoc^te. 3)icfe ^bee *$ ^as ZHittel gemorben, um ben, ber 
ftdj als ben Soljn (Softes mußte unb bas IPerf (Sottes trieb, mirflidf 
auf ben (E^ron ber (ßefdjidjte, 3unädjjt für bie (ßläubigen feines 
Polfes, 3U fefcen. 21ber eben barin, ba^ fte bies leijletc, mar audj 
ifyre Aufgabe erfdföpft. Der „ZlTeffias" mar 3*fus unb mar es 
nidjt, unb 3toar besfyalb nidtf, meil er biefen Begriff meit fynter 
fid? ließ, meil er ifyn mit einem 3 n *!<*ft erfüllt liatte, ber itjn fprengte. 
IPoljl vermögen mir Ijeute nodj an biefem uns fo fremben Begriff 
ein3elnes nadftuempftnben — eine 3bec, bie ein gan3es Polf 3^r- 
ijunberte lang gefcffelt unb in ber es alle feine 3&dfc niebergelegt 
fyat, fann nidjt gan3 unoerftänblid) fein. IPtr erfennen in bem 
2tusblicf auf bie mcfftanifdje Seit bie alte Hoffnung auf ein golbenes 
Zeitalter mieber, jene fjoffnung, bie, oerjtttlidjt, bas &\e\ jeber 
fräftigen £cbensbemegung fein muß unb ein unveräußerliches Stücf 
jeber religiöfen <5efdfiditsbetradjiung btlbet; mir fetjen in ber €r- 
martung eines perfönlidjen ZTCefpas ben 2(usbrucf ber <£rfenntnis, 
ba% bas fjeil in ber <ßefd]id?te in ben perfonen liegt unb ba% f 
wenn eine (Einheit ber 2Tüenfd)^eit in ber Übereinjiimmung ifyrer 



\ 



— 90 — 

tiefjten Kräfte unb fjSdjften Siele 3ujtanbe fommen fotl, eben biefe 
XTTenfdjfyeit in ber 21nerFennung eines Xjerrn unb ZHcijters geeinigt 
fein mx\§. 21ber darüber hinaus vermögen tvir ber meffianifdjen 
3bee einen Sinn unb eine (Sellung nidjt mefyc 3U geben; 3efus 
felbft fyxt fte ifyr genommen. 

3n ber 2Inerfcnnung 3efu als bes ZHeffias rvar für jeben 
gläubigen 3 u & cn &** innigjte Pcrbinbung ber 3otfdjaft 3«fu tnit 
feiner perfon gegeben: in bem XDirfen bes ZHcfjtas fommt <5ott 
felbft 3U feinem Volh; bem ZlTefftas, ber (Softes IDerf treibt unb 
ber sur Hecfyten (Softes auf ben IDolFcn bes JEjimmels ftfet, gebührt 
Anbetung. 2lber vo'xe E^at ftd? 3 e f us \elbft su feinem (Evangelium 
gebellt; nimmt er eine Stellung in iljm ein? XOjx tiaben tyev eine 
negative unb eine pofitive 21nttvort 3U geben. 

\. Das (Evangelium ijt in ben TXletl malen, bie tvir in ben 
früheren Porlefungen angegeben ljaben, crfdjöpft, unb nichts 5^tnbes 
foll fidj einbrängen: (Sott unb bie Seele, bie Seele unb ifyr (Sott. 
3efus Ijat barüber feinen gtveifel gelaffen, ba% (Sott im (Sefefe unb 
ben Propheten gefunben tverben fann unb gefunben tvorben ijl 
„<£s ift bir gefagt, 7Xlen\d\, tvas bir gut ift unb tvas bein (Sott 
von bir forbert, nämlid] (Softes IDort galten unb £iebe ixben unb 
bemütig fein vor beinern (Sott." Der göHner im (Eempet, bas XDeib 
am (Sottesfaften, ber verlorene Sofyt ftnb feine parabigmen; fte 
alle tviffen nichts von einer „<£l}riffologie", unb bodj fyit ber Zöllner 
bie Demut getvonnen, ber bie (Seredjtfpredjung folgt. 2Per baran 
bre^t unb beutelt, ber vertvunbet bie SdjlidjtEjeit unb (Sröfje ber 
prebigt ^e\n an einer i^rer tvidjtigjten Stellen. <£s ift eine ver* 
3tveifeltc 2Innafyne, 3U behaupten, im Sinne 3*fa fei feine gan3e 
prebigt nur ettvas Porläufiges gervefen, alles in ifyr muffe nadj 
feinem (Eobe unb feiner 2lufcrfiefyung anbers verftonben, ja einiges 
gleidjfam als ungültig befeitigt tverben. Zieht — biefe Perfünbigung 
ifi einfacher, als bie Kirchen es tvafyr traben tvoUten, einfacher, aber 
barum auefy univerfafer unb emfier. Zflan tann ifyr nxd\t mit ber 
Stusjludjt entrinnen: 3^? vermag midi in bie „(Qjriftologie" nidjt 
3U finben; barum ifl biefe prebigt nidjt für midi. 3^fus fat ben 
XTTenfcfyen bie großen 5ragen ndt^e gebracht, (Softes (Snabe unb 23arm- 
B|er3igfeit verneigen unb eine (Entfdieibung verlangt: (Sott ober ber 
ZHammon, erviges ober irbtfdjes Heben, Seele ober Ceib, Demut ober 
Selbftgerectjtigfeit, £iebe ober Selbftfudjt, XPa^r^eit ober Cüge. 3" 



— 91 — 

bem &ing biefer fragen ift alles befdjloffen; ber ein3elne foll bie 
frofyc 23otfdjaft von ber 3armljcr3igfeit unb ber Kinbfdjaft fyören 
unb jidj entfdjeiben, ob er auf bic Seite (Softes unb ber (Etvtgfeit 
tritt ober auf bie Seite ber ZPelt unb ber ^cit. <£s ift feine para» 
bojic unb rvieberum aud] nidjt „Nationalismus", fonbern ber ein- 
fache Slusbrucf bes Qjatbeftonbcs, rote er in ben (Evangelien vor- 
liegt: Zlidit bcrSofyn, fonbern allein ber Pater gehört in 
bas (Evangelium, tvie es 3efus verfünbigt fyat, hinein» 

2. 2lber fo, tvie er ben Pater fennt, fyat iim nodj niemanb 
erf annt, unb er bringt ben anbern biefc (Erfenntnis; er leiftet bamit 
„ben vielen" einen unvergleichlichen Dienjl. <£r füfyrt pe 3U (Sott, 
n\d\t nur burd? fein IPort, fonbern nod? me^r burdj bas, tvas er 
iß unb tlmt, unb lefetlidj burdj bas, roas er leibet 3n biefem Sinn 
ijat er foroo^l bas ZPort gefprodjen: „Kommet fyer 3U mir alle, bie 
ify: muffelig unb bclabcn feib; idj tvill eudj erquiefen", als aud} bas 
anbere: „Des XHenfdicn SoEm ift nidjt gefommen, ba% er ftdj bienen 
laffe, fonbern ba% er biene unb gebe fein teben 3ur Cöfung für 
viele," €r tx>cife, ba% eine neue Seit jefet burd? ilm beginnt, in 
ber bic „Kleinftcn" burdj ifyre (ßotteserfenntnis größer fein roerben 
als bie (Brößten ber Pokert; er roeiß, baß Caufcnbe an ümt ben 
Pater finben unb bas Heben getvinnen roerben — eben bie TXUXfy 
f eligen nnb 23elabenen — ; er toci § fidj als ben Säcmann, ber ben 
guten Samen ftreut: fein ift bas Slcferfelb, fein ber Same, fein bie 
5rud)t. Das finb feine bogmatifdjen Cefyren, nodj tveniger Trans- 
formationen bes (Evangeliums felbß ober gar brücfenbe 5orbcrungen 
— es ift bie Slusfpradje eines (Eljatbcftanbcs, ben er fdjon tverben 
jicijt unb mit propfyetifdjer Sidjerfycit vorausfdjaut. Die Bliuben 
fcfycn, bie Carmen gcfycn, bie {Lauben fyören, ben 21rmen roirb bas 
(Evangelium geprebigt — burdj 3^n: an biefer (Erfahrung gefyt 
itjm unter ber furchtbaren Caft feines Berufs, mitten im Kampfe, 
bie JBjerrlidjfeit auf, bie ifyn ber Pater gegeben fyat Unb was er 
jefet perfönlidj leiftet, rvirb burdj fein mit bem Cobe gefröntes Ceben 
eine cntfdjcibenbe, forhvirfenbe ©jatfadjc bleiben audj für bic &u* 
fünft: (Er ift ber XPeg jum Pater, unb er iß, als ber 
vom Pater (Eingcfcfete, audj ber Nichte r. 

JBjat er fidj geirrt? ZPeber bic nädjjte 5olge3cit nodj bie (ße- 
fdjidtfe fyat ilmt unrecht gegeben, rtidjt tvie e i n 23eftanbteil gehört 
er in bas (Evangelium hinein, fonbern er ift bie perfönlidje Per- 
rvirflidjung unb bie Kraft bes (Evangeliums gervefen unb 



/ 



— 92 — 

töirb nod? immer als foldjc empfnnben. 5cucr entsünbet fterf 
nur an &uer, perfönltdjcs £ebcu nur an pcrfönlicrjen Kräften. ÜOxv 
laffen alles bogmatifdje Klügeln betfette unb überladen es anbern, 
erfluftoe Urteile 3U fällen; bas (gpangclium behauptet nidjt, fcafj 
<5ottes 3arm^cr5tgfett auf bie 5enbnng 3efu befdjränft fei; bas 
aber lerjrt bie (Sefdn'djte: bie ZTTür>fcligcn unb 23clabcncn fürjrt <£r 
311 (Sott, unb txrieberum — bie 2Tl!cnfdit>eit fyat <£r auf bie neue 
Stufe gehoben, unb feine prebigt ijl nodj immer bas fritifdje Setdien : 
fte bcfeligt unb richtet. 

Der Safe: „3dj bin ber Sofna (Sottcs", ift t>on 3efu felbjl nidtf 
in fein <£r»angclium eingcrücft roorben, unb roer irjn als einen Safy 
neben anberen bort einfteilt, fügt bem (Evangelium ctroas fyin3u. Tibet 
wer biefes aufnimmt unb ben 3U erfennen jhrebt, ber es gebracht 
tjat, toirb be3eugen, ba§ fyer bas (Söttlidjc fo rein erfdfienen ift, 
wie es auf firben nur crfdjeinen fann, unb roirb empfinben, ba% 
3efus felbjt für bie Seinen bie Kraft bes (Evangeliums getoefen tfL 
IDas fte aber an irjm erlebt unb erfannt fyaben, bas fyabcn fte 
oerfünbigt, unb biefe Dcrfünbigung ijl nodj lebenbig. 

6. Das fioangelium unb bie Cefyre, ober bie 5*age nadj 

bem 23cfcnntuis. 

ZDtr fönnen uns fyier fur3 faffen, ba bas tPefentlidjftc bereits 
in ben bisherigen 53etracrjtungen erfcfyöpft ijl. 

Das (Evangelium ijl feine tfyeoretifdje Celjre, feine ZDeltrocis* 
fyeit; CeEjre ift es nur infofern, als es bie IPirf liebfeit (Sottcs bes 
Paters lefyrt. <£s ift eine frofye 23otfdjaft, bie uns bes eroigen 
£ebcns verficr/ert unb uns fagt, roas bie Dinge unb bie Kräfte 
roert jinb, mit benen toir es 3U tfyun r?aben. 3nbem es com 
eisigen £ebcn ijanbelt, giebt es bie 2lm*>eifung für bie redete Ccbens- 
füfyrung. 2£)cld]cn Xüert bie mcnfdilidje Seele, bie Demut, bie 
3armfyer3igfeit, bie Hetnfycit, bas Krcu3 fyabcn, bas fagt es, unb 
roeid\en Unrocrt bie roeltlidicu (Süter unb bie ängjHidje Sorge um 
ben ISeftanb bes irbif d\en Cebens. Unb es giebt bie dfafage, ba% 
trofe alles Kampfes 5ncbc, (Sctx>if$ett unb innere Un3erftörbarfeit 
bie redjte Cebensfülirung frönen toerben. IDas fann unter foldjen 
Bcbingungcu „Scfcniten" anbers fyet^en, als ben IDiHcn (Sottes 
tfyun in ber <Bcrotf$eit, ba§ er ber Pater unb ber Dergcltcr ift? 
Von feinem anberen „Sefcuntnis" ijat 3cfus jemals gefprodjcit« 



— 93 — 

2hid) wenn er fagt: XDev midf betennet por ben ZITcnfdjen, ben 
xdxü idf audj befennen por meinem fymmlifdten Vater", benft er 
an bie ZI ad} folge unb meint bas Befenntnis in ber <5cjinnung 
m\b in ber Cfyak H>ie n>eit entfernt man jid] alfo pon feinen 
(Bebanfen unb pon feiner 2lmpeifung, roenn man ein „djriftolo* 
gifdjes" Befenntnis bem fipangelium poranfteHt unb IcEjrt, erfi 
muffe man über (Efyrijhis richtig benfen, bann erjl fönne man an 
bas (Epangelium herantreten! Das iji eine Perfefyrung. Über 
Cfyrißus permag man nur bann unb in bem Vfla%e „richtig" 5U 
benfen unb 3U lehren, als man nach, feinem (Evangelium 3U leben 
begonnen fyat. Kein Porbau fielet vov feiner prebigt, ben man erß 
3U burdjfdjreiten, fein 3od), bas man allem 3UPor auf ftdj 3U nefynen 
Rätter bie (Sebanten unb <§ufagen & C5 <£pangeliums pnb bie erften 
unb jinb bie lefeten; jebe Seele ift unmittelbar por fie gebellt 

Zloty weniger aber fefet bas (Epangelium eine beftimmte Statur- 
erfenntnis Poraus ober ift mit ifyr perfnüpft — nidjt einmal im 
negativen Sinn läßt frdj bas behaupten. <£s fyanbelt fid? um Heli- 
gion unb um bas Sittliche; bas (Epangelium bringt ben lebenbigen 
(Sott Das 23efenntnis 3U ifym — im <51auben unb in ber (Erfüllung 
feines ZPillens — ift audj Eu'er bas einige Befenntnis: fo fyat es 
3efus <£B}rifftts gemeint 2Pas jtdj an (Erfenntniffen auf <5runb 
biefes (Slaubens ergiebt — unb es finb getoaltige — ; bas bleibt 
bodj immer perfdn'eben nad} ZHaßgabe ber inneren (Enttpicflung unb 
bes fubjeftipen Derftänbniffes. Tln bas (Erlebnis, ben fyevvn Fim- 
mels unb ber (Erbe 3um Pater 3U liaben, reid?t nichts fjeran, unb 
bie ärmfte Seele fanu biefe (Erfahrung erleben unb be3cugen. 

(Erleben — nur bie felbft erlebte Heligion foH befannt u>erben; 
jebes anbere Sefenntnis ift im Sinne 3efu Ejeudflcrifcb, unb per« 
bcrblidj* Xüie ftd? in bem (Epangclium feine breite „Heligionsleljre" 
finbet, fo nodf piel weniger bie Slmpeifung, eine fertige Cefyre allem 
3UPor an3unefymen unb 3U befennen. (Entfielen unb raacbjen follen 
(ßlaube unb 23efenntnis aus bem entfdjeibenben punft ber Slbfefyr 
pon ber Xüelt unb ber Sufefc 3U (Sott heraus, unb bas Sefennt- 
nis foH nidjts anberes fein als ber (Efyatertpeis bes <5laubens. 
„Der (51aube ifl nidjt jebermanns Ding", fagt ber 2CpoftcI paulus, 
aber jebermanns Ding follte es fein, tpafyrfyaftig 3U bleiben unb 
fidj in ber Heligion por bem (ßefdftPäfe ber Cippen unb bem leidjt* 
fertigen Befennen unb guftimmen 3U fyüten. „<£s Ijatte ein XHann 
3u?ei Sofyxe unb ging 3U bem erften unb fpradj: ZTüein Sofyn, gefye 



— 94 — 

l>m unb arbeite freute in meinem IDcinberg. <£r antwortete: Qcrr, 
ja, unb ging nidft fyn. Unb er fpradj 3um 2Inberen gleidj alfo, 
unb er antwortete: 3d] will es nidjt ttjun; barnadj rcuete es üjn, 
unb ging Ejin." — 

hiermit formte id? f djliejjjen; aber es drängt mid) nod), auf 
einen (Einwurf 3U antworten. Vflan fagt wofyl, bas <£pangclium 
fei ergaben unb groß unb fei gewiß eine Ifeilfamc Kraft in ber 
(Sefdfiditc gewefen, aber es fei untrennbar verfnüpft mit einem 
längß überwunbenen IDclt* unb (Sefdn'djtsbilbe; besfyalb, fo fd)mcr3* 
lief) bas fei unb obgleich wir 23cfferes nidjt an bie Stelle 3U fcfcen 
vermögen, fyabe es feine (5ültig!eit eingebüßt unb fönne für uns 
nichts mefyr bebeuten. Darauf mödjte idj ein Doppeltes erwibern: 

\. (Sewijj, es iß ein gan3 anbercs Xüelt- unb (Sefdjidjtsbilb 
als bas unfrige, mit welchem bas (Evangelium verbunben iß, unb 
wir fönnen unb wollen biefes £>ilb nidjt wieber jurücfrufen; aber 
„untrennbar'' iß es nidjt mit ifym verfnüpft. 3d? Ijabc 3U 3eigcn 
verfud]t, weldjes bie wef entließen demente im (Evangelium finb, 
unb biefe demente ftnb „seitlos''. 21ber nid?t nur fie ftnb es; audi 
ber „TXlcnW, an ben ftd) bas (Evangelium richtet, iß „seitlos", 
b. 1). es ift ber ZTTcnfdj, wie er, troft allem 5ortfcbritt ber €uiwicf- 
lung, in feiner inneren Pcrfaffung unb in feinen (Srunbbc3icfyungcn 
3ur Außenwelt immer berfclbe bleibt. ZDcil bem fo iß, bar um 
bleibt biefes (Evangelium audi für uns in Kraft. 

2. Das (Evangelium — unb bas iß bas (Entfdjeibenbe in 
feinem ZDclt» unb (Sefdjtdjtsbilbe — rufyt auf bem (Scgenfafce von 
(Sctß unb 5tafd?, (Sott unb tüelt, bem <5uten unb bem 23öfen. 
Ztun, nod] iß es ben Denfcrn trofe feigem Bemühen nidjt ge- 
lungen, eine befriebigenbc unb ben tiefßcn Bebürfniffen entfprcdjenbe 
(Etfyf auf bem 23oben bes ZHonismus aus3ubilben. <£s rvirb nid]t 
gelingen. Dann aber iß es lefetlidj roef entließ gleichgültig, mit 
xoeld\cn rtamen wir ben gwiefpalt b^eidinen motten, um ben es 
ftd] für ben fittlidj empftnbenben XHcnfdien fyanbelt: (Sott unb Weit, 
Dicsfeits unb ^en\e\ts t Sichtbares unb Unfidjtbares , Materie unb 
(Seift, Cricblcben unb 5rci£}cit, pE^yflf unb (Etfyif. Die (Einheit 
fann erlebt, eines bem anbeten untertvorfen werben; aber bie 
(Einheit f ommt immer nur burdj Kampf 3ußanbe in ber 5orm einer 
uncnblidjen, nur annäfycrnb 3U löfeuben Aufgabe, nidjt aber burdf 
Verfeinerung eines medjanifdien pro3effes. „Von ber (Setoalt, bie 



— 95 — 

alle IPefen binbet, befreit ber 2ttcnfcr} ftdj, ber ftcrj überroinbet*, 
biefcs fyerrlidic XDovt (ßoetrje's brücft bie Sadje aus, um bie es 
fidj r^ier rfanbclt. Sie bleibt, unb fte ifl bas tüef entließe in ben 
bramatiferjen, jeitgefcfficrjtlidien Silbern, in roclcrjcn bas c2r>angelium 
ben (Bcgenfafe ausbrach, beffen Übertüiubung es gilt 3^ ^ciß 
a\xd\ nxdit, roie uns unfere fortgefcrjritteue Ztaturcrfenntnis fyinbern 
follte, bie tParjrrteit bes öefenntniffes 3U bejeugen: „Die tüelt Der« 
geriet mit ifyrer Cufr, roer aber ben IDillen (ßottes tfyut, bleibet in 
<£roigfeit"? Um einen Dualismus fyanbelt es fidj, beffen Urfprung 
roir nid?t feunen; aber als ftttlicfye ZDefcu finb roir über3eugt, ba% 
er, roie er uns gefefct ift, bamtt mir irjn bei uns überttnnben unb 
3ur (Einheit führen, fo aud] auf eine urfprünglidie fiinrjeit 3urücf- 
roeift unb lefetlicfi feinen 21usgleid] im (Brofjen — in ber pertoirfltditen 
fjcrrfdjaft bes (Buten — ftnben roirb. 

Cräumc, fagt man; benn toas roir t>or 2Iugcn feigen, bietet 
uns ein gan3 anberes 3ilb; nein, uicfjt (Eräume — tonqclt boctf 
bie <£jiftcn3 unferes roarjren Cebcus rjtcr — , rooljl aber Stücfioerf ; 
benn roir permögen unfere raum3eitlid]cn Crfenntniffe mit bem 3n- 
fyalt unfers 3nncnlebcns uicfjt in bie cgintjeit einer UMtanfcfyauung 
311 bringen. Zlut in bem 5nebcn (ßottes, ber rjörjcr ift als alle 
Demunft, afjnert roir biefc c£inrjeit. 

Docfj bereits rjaben roir ben Kreis unferer nädtften Aufgabe 
oerlajfen. Dos (Evangelium roollten a>ir in feinen <Sruub3Ügen unb 
in feinen roicfjtigften S^ieljungen fennen lernen. 3d) t^abe »er- 
fuetjt, biefer Aufgabe ju entfprcdjen; ber lefete punft führte uns 
über pe rjinaus. ZDir fcljren 3U i^r 3urücf, um im jroeiten Ceile 
ben (Bang ber ctjriftlidjen Religion burefy bie (ßefcr/idjte ju »er- 
folgen« 



Bnmfe ©orfefimg. 



ttnfere Aufgabe innerhalb ber 3tx>eiten fjdlfte biefer Porlefungen 
ip, bie (Sefdjidjte ber djriftlidten Heligion in ifyren l^auptmomenten 
bar3upellen unb 3U unterfudjen, toie pe pdj im apopolifdjen Zeit- 
alter, im Katijo^ismus unb im proteftantismus enttx>icFelt l\at 

J$xz rfyxtftlxifyz Beltgton im apojloltfcfyen ifctfalfer* 

2lus bem engeren 3üngerFreife / aus ber (ßemeinfdjaft jener 
§tDÖlf, bie 3efus um pd? gcfammelt Ijatte, bilbete pdf eine (Se- 
mei nbe. <£r felbp Ijat eine foldje im Sinne eines organiperten 
gottesbienftlidjen Vereins nidjt gepiftet — er mar lebiglidi ber 
Cefyrer, bie 3ünger bie Sdjüler getsefen — ; aber bie Cfyatfadje, 
ba% pdj fof ort ber Scfyülerf reis in eine (5 e m e i n b e oermanbelt I)at, 
ip für bie gan3e 5oIge3eit grunblegenb geworben. tDoburdj u>ar 
ber neue Vevbanb djarafteripert? Wenn idj redjt felje, burdj brei 
Elemente: \. burdj bie SInerfennung 3efu als bes lebenbigen 
fj e r r n , 2. baburd}, bafa jcber ein3elne in ber neuen (Scmeinbc — 
audi bie Kncdjte unb ZTTägbe — bie Religion mir! lid) erlebte 
unb pdj in eine lebenbige Perbinbung mit (Sott gefefct toujjte, 
3. burdj ein ^eiliges £eben in BeinEjeit unb Brüberlidjfeit 
unb in ber <£ra>artung ber nafye beoorfte^enben IDieber» 
fünft (Efyrifti. 

3n biefen brei ZTComenten lägt pdj bie (Eigenart ber neuen 
(Scmeinbe erfaffen. ZDir fyaben pe genauer 3U betrachten, 

\. 3«fus (Efyripus ber Ejerr — in biefem BeFenntnis fefet 
pdf 3unäd^p bie Slnerfennung fort, ba§ er ber maßgebenbe teurer 



— 97 — 

ifr &<*§ fein Wort bic Htdftfdinur bes Hebens feiner 3ünger bleiben 
foH, ba% fte galten toollen „alles, roas er i^nen geboten fjat' 4 . 
2lber barin ijl ber Segriff „ber £}err" nidjt erfdjöpft, ja feine 
<£igentümlid}feit nod] gar nidjt getroffen. Die Urgemeinbe nannte 
3efus ifyren ^errn, u>etl er bas 0pfer feines £ebens für fte ge- 
bracht Blatte, unb toeil fte überseugt mar, ba§ er, aufertoeeft, nun 
5ur Hechten (ßottes ftfee. &* gebort 3U ben ftdjerjkn gefdjidjtlidjen 
{Efyatfadjen, ba% nidjt ettoa erft ber Slpojtel paulus bie 3ebeutung 
bes {Lobes (Ojrifti unb bie Bebeutung feiner Sluferftefyung fo in 
ben Porbergrunb gefcfyoben, fonbern ba§ er mit biefer 2lnerfennung 
gan3 auf bem 23oben ber Urgemeinbe geftanben fyat „3d? fyabe 
eu&i überliefert", fdjreibt er ben Korintfyern, „roas idj (burefy Über- 
lieferung) empfangen \\abe, bajj (Efyriftus geftorben ijt für unfre 
Sixnben, unb bajj er am britten tEage aufermeeft toorben ift." 
paulus Ijat aüerbings ben Cob unb bie 2luferjtei}ung (OjrijH 3um 
(ßegcnjtonb einer befonberen Spefulation gemacht unb bas qan$e 
<£oangelium in biefe (Ereigniffe fo3ufagen eingefd)mol3en, aber bereits 
für ben perfönlicfyen 3üngerFreis 3*fn unb bie Urgemeinbe galten 
fie als grunblegeub. TXlan barf behaupten: bie bleibenbe Tlnet» 
fennung unb bie Perefjrung unb Anbetung 3 c f u <Q}rifti fyat B^tcr 
ifyren fjalt empfangen. 21uf bem (Srunbe jener beiben StücFe ijl 
bie gan3e (E^riftologie enoadjfen. <£s ijt aber fdjon in ben erften 
3toei ZTüenfc^enaltern alles r>on 3cfa 5 (Onuftus ausgefagt u>orben, 
toas Xnenfdjen ^ofyes überhaupt 3U fagen oermögen. Xüeil man 
iljn als ben £ebenbigen unißte, pries man xfyi als ben 3ur Hechten 
<ßottes (Erfyöfyten, als ben Öbera>inber bes Cobes, als ben dürften 
bes £ebens, als bie Kraft eines neuen Dafeins, als ben Weg, bie 
IDa^r^eit unb bas Heben. Die mefftanifdjen PorfteHungen qe* 
Matteten es, i^n an ben C^ron (5ottes 3U ftellen, ofyne ben ZHono- 
t^eismus 3U gefäfyrben. 2lber t>or allem — man empfanb ifyn als 
bas txurffame prin3tp bes eigenen Cebens: „Zlid\t id> lebe, fonbern 
<ö)rijhis lebet in mir"; er ijt „mein" Heben, unb burdj ben Cob 
3U iljm fyinburdftubringen ijt (Betsinn. Wo fyat jtdj in ber <ße« 
fdn'djte ber 2Tlenfd$eit etroas 21^nlid?es ereignet, bajj bie, tx>eldje 
mit ifyrem ZTTeijter gegeffeu unb getrunfen unb xfyx in ben §ügen 
feiner Znenfdjlidjfeit gefe^en traben, iBjn nid?t nur t>er!ünbigten als 
ben großen Propheten unb Offenbarer (Softes, fonbern als ben 
göttlichen Cenfer ber Äefdjidjte, als ben „Anfang" ber Schöpfung 
ißottes unb als bie innere Kraft eines neuen tebensl So fyaben 

Qatnad, Das tDefen bes Cfjrijientums. 7 



— 98 — 

ZHufiameb's 3ünger von ifyrem propfyeten nidjt gerebet! (Es ge- 
nügt audi nid?t, 311 fagen, man ffabe bie mefjianifd}en präbifate 
einfach auf 3cfus übertragen, unb von ber erwarteten ZDieberfunft 
in ^errlidjfeit aus, bie ifyre Strahlen rücFwärts warf, fei alles 3U 
erflären. <5ewi£, in ber fieberen Eröffnung auf bie IDieberhmft 
faty man über bie „2tnfunft in ZTiebrigfeit" hinweg; aber ba% man 
biefe fiebere Hoffnung 3U f äffen unb fcfoufyalten oermodjte, ba% man 
trofe £eiben unb Cob in 3^"t ben oerfjeißenen 2Heffias erblicfie 
unb wie man in unb neben bem Bulgaren mefftanifdjen Bilbe 3fr 1 
als ben gegenwärtigen Ejerrn unb Ejeüanb empfunben unb ins 
^er3 gefcfyloff cn ijat — bas ijl bas firftaunlidje! Hnb fyier eben 
ift es ber <Eob ;/ für unfre Sünben" unb ifl es bie 2luferwec£ung 
gewefen, bie ben an ber perfon gewonnenen €inbrucf befeßigten 
unb bem (Slauben ben fixeren Ejalt boten: er ifl als ein <Z)pfcr 
für uns geftorben, unb er lebt. 

XKelen jinb fyeute biefe beiben Stade fet^r fremb geworben, 
unb fie ftefjen ifynen teilnafymlos gegenüber — bem Cobe, benn 
wie fann man einem ein3elnen (Ereignis biefer 21rt eine folcfye Be« 
beutung beimeffen? ber 2luferwec£ung, benn etwas Unglaubliches 
wirb fyier behauptet. 

(Es iß nidjt unfre Aufgabe, jene Beurteilung unb biefe Por« 
ftettung 3U r>erteibigen, wofyl aber ift es pflidjt bes Ejiftorifers, beibe 
fo poüftänbig fennen 3U lernen, ba% er bie Bebeutung nad^uem» 
pfinben permag, bie fte gehabt fyoben unb nodf hidben. J>a% jene 
Stüde für bie Urgemeinbe ^auptftürfe gewefen finb, fyat noefj nie* 
manb be3weifelt; aud\ Strauß fyat es nidjt in Slbrebe gebellt, unb 
ber große Kritifer 5crbinanb (Efyrtftian Baur $at anerfannt, 
ba§ ftdj bie dltefte (E^rijien^eit auf bem Bekenntnis 3U ifynen auf- 
erbaut fyat. Dann muß es möglidf fein, ein nadjempfmbenbes Per» 
ftänbnis für fie 3U gewinnen, ja meUeidjt nodj meljr: wenn man 
in bie tEiefe ber Heligionsgefcfyiditc einbringt, fo erfennt man bas 
an ben ZEu^eln bes (5Iaubens liegenbe l&edit unb bie XDaBjrfyeit 
r>on PorfteHungen, bie an ber Oberfläche fo paraboj unb unan- 
nehmbar erfdjeinen» 

XPir betrachten 3unäd]ft bie PorfteHung, ber Cob 3^fu am Kreu3 
fei ein 0pfertob gewefen. (Sewiß, wenn wir in äußerlichen ober 
formalen Spefulationen ben Begriff „©pfertob" erwägen 'wollten, 
wären wir balb am <£nbe unb jcbes Perftänbnis würbe aufhören; 



— 99 — 

roQenbs aber auf einen toten Strang mürben nrir geführt, toenn mir 
uns in Spekulationen barüber einliefen, tx>eldje ZTotoenbigfeit für bie 
<5ottfyeit beftanben Bjat, einen folgen ©pfertob 3U ©erlangen. Wir 
tx>oHen uns erfUidf einer gan3 allgemeinen religionsgefd|idttlid?en 
Cfyatfadje erinnern. Die, n>eldje biefen Cob als ©pfertob beur« 
teilten, hörten balb auf, nodj irgenb tx>eld?e blutige ©pfer (ßott 
bar3ubringen. Die (ßeltung ber blutigen ©pfer xoav $mat fdjon 
feit (ßenerationen in gtoeifel gejteHt unb in einem Hücfgang be- 
griffen; nun aber erft Derfdjnxmben fte gä^lidf. Zlxdtt fofort unb 
mit einem Schlage — bas braucht uns t^icr nidft 3U fümmern — , 
roofjl aber in fünfter 5njl unb nidjt erft feit ber gerftörung bes 
jübifdjen Stempels. XDeiter aber, n>oEjin bie djrifMidje prebigt in 
ber 5olge3eit fam, ba oeröbeten bie ©pferaltäre unb bie ©pfertiere 
fanben feinen Käufer meljr. Der Cob £^rijli — barüber fann 
fein gtceifel fein — kat ben blutigen ©pfem in ber Heligtons* 
gefdn'djte ein <£nbe gemacht. <£in tiefer religiöfer (ßebanfe liegt 
i^nen 3U (ßrunbe, a>ie fdjon itjre Verbreitung bei fo trielen Polfern 
beroeift, unb fte bürfen nidjt von falten unb blinben Hationaliften 
beurteilt werben, fonbern oon lebenbig fütyenben ZHenfdjen. IDenn 
es nun offenbar ift, ba$ fte einem religiöfen 23ebürfniffe entfprodjen 
fyaben, xoenn es ferner getoig iß, ba% ber Crieb, ber 3U i^nen 
geführt Ijat, in bem Cobe (Efyriftt feine 23efriebigung unb barum 
fein &nbc gefunben fyat, toenn enblidj ausbrücflidj be3eugt roorben 
tft, voie roir bas im £Jebräerbrief lefen: „XTCit einem ©pfer Ijat 
er in (Emigfeit ©oHenbet, bie geheiligt toerben" — , fo tmrb uns 
bie Porftettung nidjt me^r fo frembartig berühren; bemt bie <ße- 
fc^idjte fycit ifyr redjt gegeben, unb roir beginnen fte nadftuem* 
pftnben. Diefer Cob Ijatte ben Wext eines ©pfertobes; benn fonft 
fyäite er nidjt bie Kraft befeffen, in jene innere Welt ein3ugreifen, 
aus ber bie blutigen ©pfer Ijercorgegangen ftnb; aber er tx>ar fein 
©pfertob wie bie andren, fonft Ijätte er üjnen nidjt ein Gmbe 
machen fönnen: er Ijob fie auf, inbem er fte abfdjlojj. 7Xod\ mefyr 
bürfen toir fagen — bie (ßeltung ber bing liefen ©pfer über* 
f?aupt ifl burdj ben Cob cCE^rifti abgetlian roorben. Wo immer 
ein3elne C^riften ober gan3e Kirchen 3U tfynen 3urücfgefefjrt ftnb, 
ba toar es ein Hücffall: bie alte Cljriften^eit fyat es gemußt, ba% 
nun bas gan$e ©pferroefen befeitigt iß, unb toenn fte Hedjenfdjaft 
geben foHte, moburdj, fo Dermies fte auf ben Cob (E^rifti. 

Sroeitens: XDer in bie (ßefdjidjte fyneinfdjaut, ber erfennt, 

7* 



— 100 — 

baß bas Ceiben bcs <5eredjten unb Seinen bas Ejeil in ber <Befd?id>te 
tftf b. fy ba§ nidjt IDorte, fonbern Ojaten, aber audj nidjt Ojaten, 
fonbern nur aufopferungsvolle (Efyaten, aber nidjt bloß aufopf erungs« 
r>olIe (traten, fonbern nur bie Eingabe bcs Cebens über bie großen 
5ortfd?ritte in ber (ßefdjidttc entfdjeibet. 3n biefem Sinn glaube 
idi, ba% fo fern uns alle SteHoertretungstfyeoricn liegen mögen, 
bodj nur wenige unter uns fein »erben, bie bas innere Hed]t un& 
bie XDafjrljeit einer 2lusfüljrung wie bie 3cf aja c. 53 perfennen: 
,,5ürwaljr, fir trug unfere Kranffyeit unb lub auf ftd? unfrcSdjme^en." 
„ZTiemanb t^at größere £iebe, benn ba^ er fein Zehen läßt für feine 
5reunbe" — fo ijat man t>on Anfang an ben Cob (EEjrifii betrachtet 
3e jtttlidi 3arter jemanb füfjlt, um fo ftdjcrer wirb er überall in 
ber (ßefdndjte, wo (Broßes gefdjet^en x% bas fklloertr etenbe £eiben 
empfinben unb auf ftdj besiegen. J^at Cutter im Kloßer nur für 
jtdj gerungen, Ijat er nidjt für uns alle mit ber Heligion, bie ifym 
überliefert mar, gefämpft unb innerlich geblutet? 21ber bas Kreu3 
3efu Cfjrifh' ijl es gewefen, an weldjem bie Znenfdjfyeit bie XHacfy 
ber hn (Eobe ftdj bewäfyrenben Hemfyeit unb Ciebc fo erfahren I^at, 
baß fie es nicfjt meljr oergeffen fann, unb ba% biefe (Erfahrung eine 
neue €podje i^rer (Sefdn'djte bebeutet 

€nblidj brittens: Keine „vernünftige" Hejlerion unb Feine 
„verßänbige" €rwägung wirb aus ben jtttüdien 3&**n bev XJTenfcfy 
ijett bie äberseugung austilgen fönnen, ba% Unrecht unb Sixnbe 
Strafe ©erlangen, unb ba% überall, roo ber (Beredete leibet, fidj eine 
befdjämenbe unb reinigenbe Sxibim voltyefyt Unburdjbrmglicfy tj* 
biefe Über3eugung; benn fte flammt aus ben Ciefen, in benen n>ir 
uns als eine ©nfyeit füllen, unb aus ber XDelt, bie hinter ber 
IDelt ber firfdjeimmg liegt Perfpottet unb verleugnet, als wäre 
fte längfl nidjt mefyr vorfyanben, behauptet ftdj biefe ©nftdjt un3erfiör* 
bar im ftttlidjen (Empfinben ber XTTenfdjen. Das ftnb bie <5eban!en, 
bie von Anfang an burdj ben (Eob (E^xrifri erweeft worben ftnb unb 
ttm gleidjfam umfpült Ifaben, €s ftnb nodj anbere entfeffelt 
worben — minber bebeutenbe unb bodj 3eitweüig fc^r wirffame — , 
aber biefe würben bie mädjtigften. Sie l?aben ftdj 3U ber fejlen 
fiber3eugung ©erbidjtet, ba% €r burdj fein (Eobcsleiben etwas €nt« 
fdjeibenbes getljan unb ba% <£r es „für uns" getfyan fyxt IDoHten 
wir »erfudjen, es aus3umeffen unb 3U regifhrieren, wie man es fefyr 
balb verfudjt fjat, fo fämen wir 3U abfdjrecfenben paraboriecn, 
aber nadjempfutben fönnen wir es mit ber 5*ei*ieit, mit ber es 



— 101 — 

urfprüngüdj cmpfunben tporben ift. XTeljmen xoit aber nodf t}tn3U, 
bafe 3efus felbft feinen Cob als einen Dienjt be3eidniet Ijat, ben (\ , 
er ben Piefen leijlc, unb ba% er iEnn burdf eine feierliche l^anblung W' 
ein fortoirfenbes (Sebädjtnis gejtiftet fyat — idf fefye feinen (Brunb, 
biefe Cfyatfadje 311 be3tpcifeln — , fo oerjtefyen wir es, tpie biefer 
Cob, bie 5&ima&i bes Kreu3es, in ben ZHittelpunft rücfen mußte, 
2lber als „ber fjerr' 1 ift er ntdjt nur be§^alb perfünbigt tporben, 
roctl er für bie Sünber geworben ift, fonbern roeil er ber 2luferrpecftc, 
Cebenbige ift. Wenn biefe 2luferrpec£ung nichts anberes befagte, als 
ba§ ein erftorbener £eib pon 5fcifd? unb 3lut tpieber lebenbig gemacht 
roorben fei, fo tpürben mir alsbalb mit biefer Überlieferung fertig 
fein. 2lber fo jtefyt es nidjt. Das Zteue Cejtontent felbjl unter- 
fdjeibet 3tpifdjcn ber ©fterbotfdjaft pon bem leeren (Stabe unb ben 
(Erfdjeiuungen 3efu cinerfeits unb bem ©jterglauben anbererfeits. 
(Dbfdjon es ben fyödtften ZPert auf jene 23otfdjaft legt, ©erlangt 
es ben (Dfterglauben audj ofyne fte. Die (ßefdn'djte bes Cfyomas 
tpirb ausfdfließlidj 3U bem gtpeefe er3ä^lt, um ein3ufd?ärfen, ba% 
man fidler unb 3uperftd)tltdi ben ©ftcrglauben fyaben fofle, audj ofyne 
jtdj pon ber ©fterbotfdjaft perfönlidj über3eugt 3U traben: „Selig ftnb, 
bie nidjt fefyen unb bodj glauben." Die 3ünger, bie nadf <£mmaus 
gingen, tperben gefdjolten, ipeil ifynen ber <51aube an bie Slufertpecf ung 
fefylt, bie Unten bodj auf (ßrunb bes23efenntntffes „3efus ift ber2Tlefftas w , 
nad? Anleitung ber fy. Schrift fidler fein follte. Der £}err ift ber (Seift, 
fagt paulus, unb in biefe (ßetoißfyeit tpar feine 21ufertpccfung mit ein» 
gefd>loffen. Die 0fterbotfdjaft berichtet pon bem tpunber baren (Er- 
eignis im (Satten bes 3ofepfy pon 2lrimatEn'a, bas bodj fein 2tugc ge- 
feiten fyat, von bem leeren <5rabe, in bas einige 5rauen unb 3ünger 
lu'neingeblicft, pon ben <£rfd]cinungen bes fjerrn in perflärter <5e- 
flalt — fo perfyerrlidjt, ba% bie Seinen ifyn nidjt fofort erfennen 
fonnten — , balb aud} pon Heben unb Cfyaten bes 2Iuf er ftanbenen; 
immer pollftänbiger unb superjtdjtlidjer tpurben bie 23erid}te. Der 
©fterglaube aber ift bie Über3eugung pon bem Siege bes (Sefre^ig* 
ten über ben Cob, pon ber Kraft unb ber (Seriedjtigfeit (Softes unb 
pon bem Heben beffen, ber ber <£rftgeborene ift unter piclen trübem. 
5ür paulus toaren bie (5runblage feines 0fterglaubens bie (Semify 
fyeit, ba% „ber zweite 2lbam u pom f}immej[ ift, unb bie (Erfahrung, 
ba% (ßott üjm feinen Sofyn als lebenbigen offenbart fyabe auf 
bem XDege nad\ Damasfus. c2r ^at ifyx „in mir" offenbart, fagt 
er, aber biefe innere Offenbarung tpar mit einem „Sdjauen" per« 



— 102 — 

. bunben gewefen, fo überwältigenb wie niemals fpäter wieber. (Db 
\ ber 21popel bie Sotfdjaft oom leeren (Stabe geFannt liat? 2ln« 
■ gefef}ene Geologen be3weifeln es, mir ijl es wafyrfdjeinlidi; aber 
eine ©öllige Sidjerfyeit lagt fidi nidjt gewinnen. Sicher ift, ba§ 
er unb bie 3ünger oor Wim nidtf auf ben 23efunb bes (Srabes, 
fonbern auf bie €rfdjeinungen bas entfdjeibenbe (ßcwtdjt gelegt 
fyabcn. 2tber wer Fann unter uns behaupten, ba% er fxdj nadj 
ben Crsd^lungen bes paulus unb ber €i>angelien ein beutlidjes 
Silb von biefen (Erfdjeinungen machen Fönne, unb wenn bas un* 
möglich unb feine Überlieferung ein3elner Porgänge abfolut fieser 
ift, wie will man ben ©fterglauben auf jte grünben? Cntweber 
man muß ftdj entfdiliefjen, auf SdjwanFenbes, auf etwas, was immer 
wieber neuen Zweifeln ausgefefct ift, feinen (ßlauben 3U fteUcn, ober 
man mu§ biefe (ßrunblage aufgeben, mit ifjr aber audj bas fmnlicfye 
XDunber. 2ln ben Wnx^ein ber (Slaubensporfieüungen liegt and} 
fyer bie IDafyrfyeit unb ZPirFlidjFeit. Was ftdj audf immer am 
(Stabe unb in ben €rfdjeinungcn 3ugetragen Ijaben mag — eines 
fielet fejh t>on biefem (Srabe f^er Ijat ber un3erftörbare 
<51aube an bie Überwinbung bes Cobes unb an ein 
ewiges Heben feinen Urfprung genommen» 2Tlan t>erweife 
nidjt auf plato, nidjt auf bie perfifdje Heligion unb bie fpätjübifdjen 
(BcbanFen unb Schriften, Das alles wäre untergegangen unb ift 
untergegangen; aber bie <Bewif$eit ber 21uferjteEjung unb eines 
ewigen Cebens, bie fidj an bas <5rab im (Satten bes 3ofepl| Fnüpft, 
ift nidjt untergegangen, unb bie Über3eugung, 3efus lebt, 
begrünbet nodj freute bie Eröffnungen auf bas Bürgerrecht in 
einer ewigen Stabt, bie bas irbifdje Heben lebenswert unb erträglid] 
machen» „<£r fyat bie erlöft, fo bureb 5urdjt bes Cobes im gan3en 
Heben Knedjte fein mußten" — befennt ber Perfaffer bes Hebräer* 
briefs« Das ijl es. Unb — mag's audj nidjt ausnahmslos gelten: 
wo \\ente nodj wtber alle Cinbrücfe ber Statur ein ftarFer (51aube 
an ben unenblidjen ZDcrt ber Seele sorEjanben ijl, wo ber Cob feine 
SdjrecFen verloren Ijat, wo bie Ceiben biefer Seit gemeffen werben 
an einer 3uFünftigen £}errlidiFeit, ba ift biefe Ccbensempftnbung 
geFnüpft an bie Ube^eugung, bajj 3efus (Efyrijhis burd? ben Coc- 
fynburdjgebrungen ift, ba% (Sott i^n erwecFt unb 3U Heben unb 
EjerrlidjFeit erhoben fyat Unb wie Fann man es jtdj anbers 
corjteHen, als baß audj für bie erfien 3ünger ber lefete (Srunö 
ifyres (ßlaubens an ben lebenbtgen fyettn bie Kraft gewefen ift, 



— 103 — 

bie von ifym ausgegangen toar? Un3erpörbares £ebcn Ratten 
pe als von ifym ausgefyenb empfunden; nur eine fur3e Spanne 
fynburdj fonnte pe fein <Eob erfdjüttem; bie Kraft bes Ejerrn fiegte 
über alles: (Sott fyat jfyx nidjt im Cobe 3ertreten; er lebt als ber 
(Erftling ber (Entfdjlafenem ZTidjt burdj pfylofopljifdje Spefulationcn, 
fonbern burdj bie 2lnfdjauung bes Cebens unb Sterbens 3efu unb 
burdj bie (Emppnbung feiner unvergänglichen <£intjeit mit (Sott b K at 
bie ZHenfdifyeit, fotoeit pe überhaupt baxan glaubt, bie (Semifföett 
eines ewigen Cebens, auf bas pe angelegt ip unb bas pe aljnt, 
gewonnen — eines ewigen Cebens in ber §cit unb über ber Seit. 
Damit ip erp ber (51aube an Sen XDext perfönlidjen Cebens pdjer 
gebellt. Pon allen Perfudjen aber, bie (Sewif$eit ber „Unperblidj- 
feit" burdj Beweife 3U begrünben, gilt ber 5at& bes Dichters: 
„Du mußt glauben, bu mußt wagen, benn bie (Sötter (eilj'n fein 
pfanb." 21n ben (ebenbigen J^errn unb an ein ewiges teben 3U 
glauben, ip bie (Efjat ber aus (Sott geborenen 5*eifyeit. 

211s ber (5efreu3igte unb 2luferwecfte war 3efas ber I}err. 
3n btefem 23efenntnis fpradj pdj bas gan3e X>er^ältnis 3U ifym 
aus; aber es bot ber Slnfdjauung unb Spefulation einen uner» 
fdjöpflidjen 3nfjalt. Vas pielgeftaltige XHefpasbilb würbe mit ein- 
gefdjloffen in biefen Begriff „£}err" unb äße alttepamentltdjen Per- 
Neigungen besgleidjen. 2lber ausgeführte firdjlidje „Cefyren" über 
itjn gab es nodj nidjt: wer ifyx als ben Üjerrn befannte, gehörte 
3ur (Semeinbe. 

2. Die erlebte Heligion — bas 3weite Stücf, weldjes bie 
Hrgemeinbe djarafteripert, ip, ba% jeber ein3elne in iijr, audj bie 
Knechte unb XHägbe, (Sott erleben. Das ift merf würbig genug; 
benn 3unädjP follte man benfen, ba$ bei biefer Eingabe an (S^ripus 
unb bei biefer unbebingten Perefyrung für ifyx pd} alle 5*ömmigfcit 
in ber pünftlidißen Unterorbnung unter feine ZPorte unb bes^alb in 
einer 21rt x>on freiwilliger Knedjtfdjaft ifym gegenüber fyätte äußern 
muffen. 2tber bie paulinifdjen Briefe unb bie 2lpoßelgefdpdjte 
bieten uns ein anberes 3ilb. gwar bie unbebingte £}od$altung 
ber XDorte 3efu be3eugen pe, aber pe ip nidjt ber IjerDorpedicnbpe 
Sug in t>em 23ilbe ber älteften (£l|ripen^eit. Piel d^araftcripifdjer 
ip, ba% bie ein3elnen (Qjripen, bewegt com (Seipe (Sottes, in ein 
lebenbiges unb gan3 perfönltdjes E>erl?ältnis 3U (Sott felbp t>erfefet 
pnb. XDir biaben neuerbings ein fdjönes 23udj erhalten x>on 



— 104 — 

XDetnel: „Die ZPirFungen bes (Seifies unb ber (Scifter im nadv 
apofiolifdjen Seitab-" €s blicft an Dielen Stellen auf bas apofto- 
Iifd7C Zeitalter 3urücF unb fü^rt bas weiter aus, xoas (Sun fei 
in feiner 2tbt}anblung über ben ^eiligen (Seift fo einbrucfsooll für 
biefe Seit bargelegt tjat. IDeincl fyat bie ocrnadjläfftgten Pro- 
bleme, in tpeld^em Umfange unb in n?eld?en formen ber „(Seift" 
im Geben ber ältejten (Efyriftcnfycit mir! (am geu>efen ift, unb toie bie 
fyierfyer gehörigen €rfdjeinungen 3U beurteilen ftnb, oortrefflidj er- 
örtert. Das XDefcntlidje ift: f ,ben ^eiligen (Seift empfangen fyaben unb 
burdj xfyx fyanbeln" bebeutet eine Sclbftänbigfeit unb Unmittclbarfeit 
bes religiöfen (Empfinbens unb Cebens unb eine innere Perbinbung 
mit (Sott, ber als bie mädjtigfte XDirFlidjfeit gefpürt rourbe, roie 
man fte bei ber entfcfyloffenen Unterorbnung unter bie Autorität 
3efu nidjt erroartet. (Bottesfinbfdjaft unb Begabung mit feinem 
(Seift fallen mit ber 3üngerfdiaft (Efyrifti einfach 3ufammen. 
Dafe bie 3üngerfdjaft nur bann tx>irFlid] t>orfyanben ift, n>enn 
ber ZTCenfdj von bem (Seifte (Sottes burdjmaltet ift, roeig nod] 
bie 2Ipoftelgefdjiclite fefyr wo^L Die 2Iusgtcf$ung bes ^eiligen 
(Sciftes fyat fie an bie Spifce ifycev (Ersetzungen geftellt. 3fa 
Perfaffer ift jtdj beimißt, ba% bie djrtftlidje Religion nidjt bie 
lefete unb fyödiftc roärc, toenu nicfyt jeber einselne burdj fie 
unmittelbar unb lebenbig mit (Sott oerbunben n>äre» Z>as 
3ncinanber ber poUcn gefyorfamen Unterorbnung unter ben 
„^errn" unb ber 5reifycit im (Seifte ift bas roiditigftc ZHerfmal 
ber (Eigenart biefer Heligion unb bas Siegel ifyrcr (Sröfcc. Die 
XPirfungen bes <5eiftes 3eigten fidj auf allen (Scbieten, in bem 
gan3en Bereiche ber fünf Sinne, in ber Sphäre bes Woüens unb 
fjanbelns, in tiefen 5pcFulationen unb in bem 3arteftcn Derftänbnis 
für bas Sittliche. Die elementaren Kräfte ber religiöfen Einlage, 
burdf HeligionsleEjrcn unb fultifcfye S^remonieen niebergel}alten, 
würben toieber entfeffelt unb offenbarten fidj in (Efftafen, in Scidjcn 
unb Krafttfyaten, in Steigerungen aller 5unftionen bis 3U pat^o» 
logifcfyen unb bcbcnflid^en Suftänben. 2tber unpergeffen blieb bie 
(Erkenntnis — unb wo fie 5U fd|toinben brofyte, tüurbe fie einge- 
fdjärft — , ba§ jene ftürmifdjen unb munberbaren (Erfdyeinungcn 
inbipibuclle feien, ba§ es aber neben \\^nen XPirfungeu bes (Seiftes 
giebt, bie jebem gefcfyenft toerben unb bie niemanb miffen tann. 
„Die 5n*djt aber bes (Seiftes", fdjrcibt bet 2lpoftel paulus, „tji 
liebe, 5**ube, S*wbe, (Sebulb, 5^eunblid]feit, (Süttgfeit, (Slaube, 



— 105 — 

Sanftmut, Keufdjtjeit." Das ift bas anbete ZlTerfmal ber £igen* 
axt unb (Bröße biefer Heligion, ba§ ftc bie elementare Kräftigfett, 
meldte fte entbunben tjat, nidft überfdfäfete, ba§ fle itjren geiftigen 
3nfialt % unb iljre &uA(t triumphieren lie§ über alle £fftafen, unb 
^a§ fte fict? in ber fiberseugung nidjt etfdjüttern lieg, ber (Seift 
(Sottes, wie er audt immer ftdf offenbaren möge, fei ein (Seift ber 
Bciligfcit unb ber £iebe. Damit finb wir bereits ju bem brüten 
Stücf, tseldjes bic ältefte <£ljriftcntjeit djarafterijtert, übergegangen, 

5. Das ff eilige Ceben in Beinfyeit unb Brüberlidjfeit unb 
in ber £ru>artung ber nahe beporftettenben IDieberfunft £f}rifii — 
ber (Sang, ben bie Kirdjengefdjicfye genommen fyat, fyat es tietbeu 
geführt, ba% man im Zleuen Ceftament piel melfr bie bogmatifdien 
Ausführungen fjen>orgefudjt unb erörtert fyat als bie Abfdjnitte, in 
benen uns bas teben ber älteften Ctjriften gefdfilbert wirb unb 
ftttlidje Ermahnungen gegeben roerben. Unb bodf füllen biefe nidji 
nur einen großen Seil ber neuteftamentlidjen Briefe, fonbern audt 
nidbt wenige fog. bogmatifdje Abfdjnitte finb lebigtidf um fttttidjer 
21bmonition willen gefd?rieben. Sie in ben Porbergrunb ju rfiefen, 
bat 3efus feine jünger angeu>iefen, unb bie ältefle Cfjriftentjeit 
wußte es nodi, ba% itjre erfite Aufgabe im teben fei, ben Heilten 
(Sottes ju tf»un unb ftd> als eine ^eilige (Semeinbe barsujteHen. 
3brc gan3e friftenj nnb ihre ZITiffton beruhte barauf, ^n>ei fyaupt* 
ftücfe fianben ihr nad ben Sprühen 3efu babei in erjter Cinie, 
unb fte umfaßten im (Srunbe alle fittlidie Betätigung: bie Hein* 
beit unb bie Brüberlid^feit Beinbeit im tiefften unb um* 
faffenbften Sinn bes Worts als ber Abfdjeu por altem Unfertigen 
unb als bie innere Sxeube an Cauterfeit unb IDafyrfyeit, an allem, 
was lieblidj ift nnb tPoMtautet 22einbeit audt in Bejug auf ben 
£e'\b. „Wiftet ibjc nidjt, ba% euer €eib ein Cempel bes fjeiligen 
(5eiftes ift, ber in eud>. ift? Darum preifet (Sott an eurem Ceibe," 
3n biefem botytn Betpußtfein baben bie alten Triften ben Kampf 
aufgenommen gegen bie Shnben ber Unreinheit, bie im fjeibentum 
gar nidjt als Sünben galten« 211s Kinber Sottes unfträflidj „mitten 
unter bem unfd?lad^tigen unb vertebrten törfdledtt, unter weldtem 
ihr fdjeinet als Cidtcr in ber Welt 4 ' — fo follien fie fidj bewähren 
unb baben fie ftd? bctrdhrt. ßeilig fein wie (Sott, rein fein alOünger 
£brijtt — barin ift and* bas Tfia% von Perjicbt auf bie tDelt ge* 
geben, weldtes biefe (Semetnte jidj auferlegt l?at „Suff von bet 



— 106 — 

Welt unbeflecft behalten", bas ijt bte 2lsfefe, bie fte trieb unb for- 
derte. Das anbere aber ift feie Brüberltdifeii £inen neuen 
Sunb ber IITenfdjen untereinanber Ijat fdjon 3*fus felbft ins 2Iuge 
<jefaßt, menn er in feinen Sprüchen bie (ßottesliebe unb bie Ztddtften» 
liebe in eins gebunben Ijat. Die älteften Cljriften traben ttjn t>er« 
ftanben. Sie traben ftdj nidjt nur in JPorten, fonbern audj in 
traten — in lebenbiger PertDirflidning — von Anfang an als 
ein Bruberbunb fonflituiert 3nbem fte ftdj „Srüber" nannten, 
empfanben fte afle Perpfltdjtungen, bie biefer Harne auferlegt, unb 
fudjten tljnen 3U entfpredjen, nidjt burdj gefcfelidje 23efttmmungen, 
fonbern burdj freiwillige Dienfileifhmg, ein jeber nad\ ZTCa§gabc 
feiner Kräfte unb (Baben. Va% man in 3erufalem fogar bis 3U 
einer frehxrilltgen (ßütergemeinfdjaft oorgef djritten fei, er3äfylt bie 
21poftelgefdridjte; paulus fagt nichts barüber, unb wenn ber mi- 
liare 23eridjt toirflid? 3ur>erläfftg fem follte, fo ljaben bod? toeber 
paulus nodj bie BjeibendfrifHidjen (Semeinben bas Unternehmen für 
Dorbilblid) gehalten. Heue äuger e Orbnungen ber £ebenst>er* 
tjältniffe fd?ienen nidjt geforbert unb nidjt ratfam. Vw trüber* 
lidtfeit, meiere „bie £jeiligen" pflegen follten unb pflegten, mar 
burdi 3»ei (Brunbfäfee bc3cidjnet: „So ein (Blieb leibet, fo foflen 
bie anberen mitleiben", unb „ (Einer trage bes anbern £aft, fo 
n>erbet i£jr bas (ßefefe (Qjriftt erfüllen". 



Bsljnfe ©jorlsfimg* 



Die Urgemeinbe glaubte an 3efus eds iFjren £}errn unb brachte 
in biefem ScFenntnis ifyre unbebtngte fjingabe unb bie gfaserfidit 
3U iFjm als bem Surften bes Cebens 3um 21usbrucF; jeber ein3clne 
(EBjrift ftonb in einer unmittelbaren Perbinbung mit (ßott burdj ben 
iScift — priefter unb Permittelungen toaren nidjt meijr nötig; enb- 
lidj, biefe „ ^eiligen" toaren 3ufammengefdjloffen 3U Perbänben, bie 
ftdj 3U einem ftttenftrengen Ceben # in Heinfycit unb Srüberlidtfeit 
ocrpfltditetcn. §u biefem legten punft nodj ein Fur3es XDoxt 

€s iji ein Semeis für bie 3nnerlid}Feit unb bie fxttlic^e Kraft 
biefer neuen prebigt, ba% trofe bem fint^ujtasmus, ber aus bem 
Erlebnis ber Heligion ijert>orbradj, ejtraoagante <£rfd]einungen unb 
ftürmifdje Belegungen t>er^ältnismä§ig feiten 3U bcFämpfen toaren. 
(£s mag fein, ba% fte häufiger getoefen ftnb, als bie bireFten 2tn- 
gaben unferer (Quellen oermuten laffen, aber bie Segel bilbeten 
fte nidjt; audj ij! ber Slpoßel paulus gemifj nidft ber einige 
getoefen, ber beforgt n?ar, fte, u>cnn fte auftauchten, 3U beruhigen. 
g>voat ben „(Seift" wollte er nidjt bämpfen; aber roenn ber <£n- 
tfjuftasmus 3ur 2trbeitsfdjeu 3U führen brofyte n>ie in ©jeffalonidf, 
ober toenn bas Heben in ber Cfftafe ftdj tjeroorbrängte toie in 
Konnte, ba ijat er nüchtern ermahnt: „XDcr nidjt arbeitet, fott 
audj nidjt effen" nnb „5ünf ücrftänblidje, 3ur «Erbauung bienenbe 
IDorte ftnb meijr mert als 3e^ntaufenb unt>erjlänblid) tjeroor- 
gcfprubelte". 21ber nodj beutlidjer tritt bie gefammelte HuF^e unb 
bie Kraft ber £eitenben in ben ftttlidjen ^Ermahnungen fyeroor, toie 
tx>ir fte nidjt nur in ben paulinifcfyen Briefen, fonbern 3. S. audi 
im \. Petrusbrief unb im 3afobusbrief lefen. 3n ben einfachen 



— 108 — 

großen <$5runbi>erl|ältnifjcn bes ntenfd}lid}en Cebens fott fiel? ber 
djnjttidje <£fjaraftcr bemalten; ftc foflen gejiärft merben unb foHen 
getragen unb burdfleudjtet fein t>on bem (Beiß. 3" ben 23e3ie- 
jungen ber ZHänner 3U ifyren $rauen, ^ er $ raucn j U 6en ZITännern, 
ber €ltern 3U ben Kinberu, ber fjerren 3U ben Kncdtfen, ferner in 
bem Verhältnis 3ur ©brigfeit, 3ur umgebenben Bjeibnifdjcn IDelt 
unb mieberum 3U ben Witwen unb JPaifen foK pdf ber „(Softes- 
bienft" bemäfyrcu. Wo ljaben mir fonfi ein Beifpicl in ber (Sc- 
fdjtdjte, baß eine Hcligion etnfefet mit foldjer Kräftigfeit bes über» 
meltlidjen 23cmußtfeins unb 3ugleidj bie fittlidjen (Srunblagen bes 
irbifdjen (Semeinfdjaftslebens fo befefiigt fyat mie biefe Perfünbi- 
gung? Wen bie (Slaubensprebigt ber neutcftamcntlicfyen Schrift- 
fteHer nid|t imterlidi ergreift, ber muß bodj im (Defflen bemegt 
merben von ber Cautcrfcit, bem Heidjtum, ber Kraft xxnb ber gart« 
ijett ber ftttlicfjen €rfenntnis, mcldje ifyren (Ermahnungen einen im« 
Dcrglcidjlidien lüert perleiljen. 

21uf ein weiteres ZUoment ift Ijter nodj $u adjten. Die ältejten 
(Dirijien lebten in ber €rmartung ber nafjen JEHeberfunft (Erjrifti. 
Diefe Hoffnung mar ein außerorbentlidj ftorfes ZHotm, meltlidje 
Dinge, £eib unb 5^ub biefer <£rbe, gering 3U achten. Sie Ijaben 
fidj in ibrer €rmartung getäufdjt — bas ift ofyxe Klaufel einsu« 
räumen — , aber fte ift bodj ein B|öd# mirffamer fjebel gemefen, 
um ftc über bie IDelt 3U ergeben, um fte 3U lehren, bas Kleine 
Hein xxnb bas (ßroße groß 3U nehmen, Seitliches unb <£miges 511 
unterbleiben. €s ijl eine fxctj miebertjolenbe Crfdjeinung in ber 
Hcligionsgef djidjtc, ba% ficrj mit einem neuen, großen rcligiöfen 
ZHotio, meines an ftdj fcfjon burdjfdjlagenb mirft, ein Koeffoient 
©erbinbet, ber biefe XDirfung nodj erfjörjt unb befeftigt. Wcidt 
ein fjebel ift immer mieber feit ben (tagen 2tugufHn's, fo oft ftdt 
bas religiöfe Erlebnis t>on Sünbc unb (Snabe erneuerte, ber prä« 
beftinationsgebanfe gemefen, ber bodj feinesmegs aus bem <£r* 
lebnis fclbfi gcfdjöpft ift! tüte ijat bas CrmäBjlungsbemußtfein 
bie Sdjarcn (Erommell's begeiftert unb bie puritaner biesfeits unb 
jenfeits bes (D^eans gefräftigt, unb audj biefes 23emußtfein mar 
nur ein Kocffeieut! IDie fyat bie 21rmutslefyre bie neue 5*ömmig« 
feit unterftüfct, meldte ftdj aus bem reltgiöfen firlebniffe bes ^ei- 
ligen 5ran3is!us im Mittelalter cntmtcfelt fyat, unb bodj iß fte eine 
Kraft für ftdj gemefen! Dtefe Koeffötenten — man tann int 
apoflolifd)en Zeitalter auct| bie Uber3eugung, ben fjerrn nadj feinem 



— 109 — 

Kreu3C5tobe reirflid? geflaut 3U fyxben, unter biefen (ßcpdjtspunft 
Pellen — lobten, ba% audj bas 3nnerltd}fte , bie Religion, nidjt 
frei unb ifoliert aufPrebt, baj$ jte faufagen in Hinben mäd?P unb 
it^rcr bebarf. 5ür bas apojiolifdje S^italter aber ift bie Cinpdjt 
von XPidjtigfeit, bafj nid?! nur trofe bem CntFjupasmus, fonbern 
audi trofe ber gefpannten esdjatologifdjen Hoffnung bie Aufgabe 
nidjt üernadjläfpgt mürbe, bas irbifdje Ceben 3U ijcüigen. 

Die brei Elemente, meldje mir als bie midjtigpen 3ur (EEjaraf- 
teriftif ber älteften <£ijrij!en l}en>orgeboben ijaben, fonnten 3ur Hot 
auefj im Halmen bes 3**bentums unb in Perbinbung mit ber 
Synagoge burdjgefübrt werben. 2J7an fonnte audf bort 3efus als 
ben fjerrn anerfennen, bas neue €rlebnis mit ber üäterlidfen 
Heligion ©erbinben unb ben Sruberbunb als einen jübifdjen Kon« 
»entifel ausbilben 3n ber (Efyat I^aben bie erflen <5emeinben in 
paläjKna in biefen 5ormcn gelebt. 21ber jene neuen (Elemente 
n>iefen, fräftig entfaltet, bod? 'iber bas 3ubentum hinaus: 3*fus 
(Qnripus ber fjerr — nidjt nur 3s*ae¥s] er ip ber £}err ber <Se* 
fdn'djte, bas ^aupt ber Znenfdjfyeit. Das neue (Erlebnis ber un- 
mittelbaren Perbinbung mit (Sott — es madjt ben alten Kultus 
mit feinen Permittelungen unb prieftern unnötig. Der 23ruber- 
bunb — er überragt alle anbeten Perbinbungen unb entwertet fte. 
Die innere <£ntmicflung, bie pirtueH in bem neuen 21nfafe bcfdjloffen 
lag, begann fofort. ZTidjt erft Paulus Ijat fte begrünbet; fdjon oor 
unb neben tEjm traben uns unbefannte, namenlofe (Ojripcn I|in unb 
fyer in ber Diafpora Reiben in ben neuen Perbanb aufgenommen 
unb bie partifularen unb Patutarifdjen Seftimmungen bes (Sefefees 
burdj bie €rflärung befeitigt, man muffe jte rein geiftig perpefyen 
unb als Symbole beuten. 3" einem Steige bes 3ubentums außef • 
fyalb paläpina's mar biefe fiyflärung längP — freilid] aus anberen 
(Srünben — geübt morben, unb es mar bort eine €ntfd?ränfung 
ber jübifdjen Heligion burdj bas IHittel ptjilofopfyfdjer Deutungen 
im IPerfe, bie fte ber £JöI|e einer geiftigen XPcltreltgion 3ufüfyrte. 
Diefe €ntmicflung fonnte mie eine Porpufe bes Ct^rifteutums er- 
fdfemen unb mar in mancher £}inpd]t mirflidf eine foldje. 3* n * 
CBjripen gingen auf pe ein. 2luf biefem XPege fonnte aflmäljlid? 
eine Befreiung t>on bem tn'porifdjen 3ubentum unb feinen über- 
lebten Beligionsgefefeen erreicht voetben. 21ber pcfycr mar biefes 
<£nbergebnis nidft. Solange es unausgefprodjen blieb, bie frü« 



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— 110 — 

fjerc Hcligion iji abgetan, mußte jiets befürchtet werben, ba% 
in ber nädjften Generation bie alten 23efHmmungen in wöxtlxdier 
23cbeutung bodj roieber fyeroorträten. XDtc »tele Dufeenbe von 2tn- 
fäfeen 3eigt bie Heligionsgefdjidjte, baß eine überlieferte 5orm ber 
£efyre unb bes Kultus, bie innerlich übermunben iji, nun befeitigt 
merben foH, befeitigt aber burdf bas ZHittel ber Umbeutung. €s 
fcfyeint audj 3U gelingen; Stimmung unb <£rfenntnis jtnb bem ZTeuen 
günjHg, aber fxelje ba\ balb ftellt ftdj bas 2llte bodj toieber ein. 
Der XDortlaut bes Rituals, ber Slgenbe unb ber offoieüen £e£jre 
ift jfärfer als alles anbere. €in neuer religiöfer (Sebanfe, ber an 
bem entfebeibenben punfte — anberes mag beftefyen bleiben — 
| nidjt rabifal mit ber Vergangenheit 3U brechen unb ft$ einen „£eib" 
I nidjt 3U fdjaffen oermag, fann fidj nidjt behaupten unb gefyt roieber 
unter. <£s giebt fein fonfen>atioeres unb 3äEjeres (ßebilbe als eine 
©erfaßte Heligion; foll jie einer t|ö^cren Stufe »eichen, fo muß jte 
abgetan roerben. Dauernbes mar alfo auefy hn apoftolifcfyen ^eit* 
alter baoon nicfyt 3U ertrarten, ba% man bas (5efefc breite unb 
umbeutete, um für ben neuen (Slauben neben tfjm plafc 3U machen 
ober bie alte Seligton itjm an3unäF}ern. €s mußte ©ner auffielen 
unb erflären, bas 2tlte ijt aufgehoben; er mußte es als Sünbe 
be$e\d\nen, iljm nod\ ferner 3U folgen; er mußte 3eigen, ba% alles 
neu geworben fei. Der ZlTann, ber bas getrau fyat, ift ber 2fpofteI 
paulu s, unb in biefem Schritt beftefyt feine tpeltgefcfyidjtlicbe <5röße. 
paulus ift bie f|elljte perfönlidtfeit in ber (ßefdiidjte bes ttr* 
cfyriftentums; bennod) gelten bie Urteile über feine Sebeutung roeit 
auseinanber. Xlod\ cor einigen 3aljren fjaben wxv einen fyeroor* 
ragenben proteftantifdjen Geologen fagen fyoten, Paulus fei burdj 
feine rabbinifcfye Ökologie ber Perberber ber diriftlidjen Religion 
getoorben. anbere fyaben ifyn umgefetjrt als ben eigentlichen Stifter 
biefer Heligion be3eidjnet. Dodj bie große ZlTef^afyl berer, bie 
ifym nalje getreten ftnb, be3eugt, ba% er in XPaljrfyeit ber jenige 
getoefen fei, ber ben ZHeifter üerftanben unb fein Wert fortgefefet 
bat Diefes Urteil befte^t 3U Hec^t Die iljn freiten als Per* 
berber, fjaben üon bem (Seift biefes ZHannes Feinen fjaud) Der- 
fpürt unb flauen ifym nur aufs Kleib unb auf bie Schulweisheit; 
bie iljn als Heligionsftifter preifen ober fritifieren, muffen iEjn an 
bem undjtigften punft geugnis roiber ftdj felbft ablegen laffen unb 
bas Bctxmßtfein, welches xfyx getragen unb geftäfylt §at, für 3Hujton 
unb Selbfttäufdjung erflären. Weil roir nidjt toeifer fein trollen 




— 111 — 

als bte <5efdjidjte, bie ifyt nur als ZHiffionar (öirijli Fennt, unb 
weil fein eigenes IDort Flar be3eugt, was er fein wollte unb war, 
f äffen wir iB^n als 3ünger 3efu, als ben 2lpoftcl, ber nidft nur 
mefyr gearbeitet, fonbern auefy (Srößeres getrau ijat als bie 
anberen alle. /q 

paulus ijl es gewefen, ber bie djrijUidfe Religion aus bem 
3ubentum herausgeführt fyat. Wie bas gefdjel}en x% werben mir 
erFennen, wenn wir folgenbes erwägen: 

\. paulus ift es gewefen, ber bas ۟angelium benimmt fo 
gefaßt fyat f bafa es bie 23otfdjaft iji von ber gefdjefyenen <£r(8fung 
unb bem bereits gegenwärtigen X^eiL €r »erfünbigte ben gefreu- 
3igten unb auferßanbenen (Efyriftus, ber uns ben Zugang 3U (5ott 
unb bamit (5ered}tigFeit unb 5nebe gebracht fyat. 

2. <£r ift es gewefen, ber bas (£t>angelium ftdjer als etwas 
Xleues beurteilt fyat, bas bie (ßefefeesreligion aufgebt 

3. <£r Bjat erFannt, bafa biefe neue Stufe bem ein3elnen unb 
ba^er allen gehört, unb fjat in biefer Über3eugung bas fioangclium 
mit ooHem 23ewußtfein in bie PölFerwelt getragen unb pom 3uben- 
tum auf ben gried?ifc^«römifdien 23oben B|inübergeftellt. Ztidjt nur 
follen fid} ©riechen unb 3uben auf bem (5runbe bes €t>angcliums 
rereinigen, nein, bie <§eit bes 3ubentums ift jefet oorbei. paulus 
t>crbanFt man es, ba% bas €t>angelium aus bem ©rient, wo es 
audj fpätcr niemals redjt ijat gebeten Fönnen, in ben ©eeibent 
t>erpflan3t worben ifl. 

%. <£r ifl es gewefen, ber bas €oangelium in bas große 
Schema (ßeifl unb 5kifd], inneres unb äußeres Ceben, £ob unb 
Ceben B|ineingeflellt fyat; er, ber geborene 3ube unb er3ogene pfyari- 
fäer, Ijat ifyn bie Sprache ©erliefen, fo bafa es nidjt nur ben 
(Svkdien, fonbern ben ZlTenfdjen oerjWnblicfy würbe unb mit 
bem gefamten geijligen Kapitale, welches in ber (Sefdjidjte er- 
arbeitet war, nun in Derbinbung trat. 

3n biefen (Elementen, auf beren inneren <3ufammenfyang idj 
fyer nicfyt näfyer ein3ugefyen vermag, liegt bie religionsgefchidjtlidie 
(ßröße bes Slpojlels befdjloffen. 3" 23c3ug auf bas erjte möchte 
id? an bie Xüorte bes bebeutenbften HeligionsfyijtoriFers unferes 
Zeitalters erinnern. IDellfyaufen f djreibt: „Durdj paulus befon- 
bers tjat ftd> bas fioangelium oom Heidi in bas <£t>ange(ium oon 
3cfu <EB|rijto üerwanbelt, fo ba% es nicfyt meijr bie Xt)eiffagung bes 
Heidjs, fonbern bie burdi 3*fus (Efyrijlus gefdjeljene (Erfüllung 



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— 112 — 

biefer JDeiffagung tft. Cntfpredjcnb ift i^m audj bie <£rlöfung aus 
etwas ^ufünftigem etwas bereits <5efdjef}enes unb (Scgenwärtiges 
geworben. €r betont weit mcljr ben (Stauben als bie Hoffnung, 
er empftnbet bie 3ufünftigc Seligfcit poraus in ber gegenwärtigen 
Kinbfdjaft; er überwtnbet ben (tob unb füfyrt bas neue Ccben 
fdjon fyienieben. €r preift bie Kraft, bie in ben SdjtDadjen mächtig 
ift; bie (Snabe (Softes genügt iijm, unb er weiß, baß feine gegen* 
wärtige nod\ 3ufünftige (ßewalt if?n feinen Ernten entreißen fann, 
ba§ benen, bie (ßott lieben, alle Dinge 3um Beften bienen." Unb 
weldje ©nftdjt, gurerftdjt unb Kraft gehörte ba3U, um bie neue 
Heligion ifyrem mütterlichen Soben 3U entreißen unb auf einen 
gan3 neuen 3U perpflan3cn! Der 3slam, in trabten entlauben, 
ift arabifd>e Heligion geblieben, wofytn er audj immer gefommen 
tjt. Der Subbfysmus §at 3U aflen Seiten feine Stärfe in 3nbien 
gehabt. Diefe Heligion aber, in Palästina geboren unb ©on iijrem 
Stifter auf bem jübifdjen Soben feftgetjalten, ift bereits nadj wenigen 
3afyren pon ifyn losgelöft worbeu. paulus h(ai fte ber israeltttfdjen 
Religion entgegengefefet: „(Qjrijhis ift bes (ßefefecs &nbe". Sic 
fyat bie (£ntour3elung unb ben Übergang nidjt nur ertragen, fon» 
bern es 3eigtc fid], ba% fte auf biefen fibergang angelegt war. 
* Sie fyat bann bem römifdjen Hetdje unb ber gefamten abenblän* 
bifd?cn Kulturwelt £}alt unb Stüfec geboten, ^ätt'e, fagt Henan 
mit Hedjt, jemanb im erften 3al|t^unbert bem Kaifer mitgeteilt, ber 
Fleine 3**be, ber t>on 2lntiodjien als ZHifjtonar ausge3ogen, fei fein 
befter ZTTitarbciter unb er werbe bas Heidi auf faltbare <5runb« 
lagen jteHen, man fyätte ifyt für waijnftnnig gehalten, unb bodj 
ijätte er bie XPafyrfjeit gefagt. paulus fyat bem römifcfyen Beidje 
neue Kräfte 3ugefü^rt unb bie abcnblänbifdi'dirtfilidfe Kultur be- 
grünbet. Das XDcrf ^lle^anber's bes (Stoßen ift 3erf allen, bas 
XDerf bes paulus ift geblieben, preifen wir aber ben Wann, ber, 
oljne ftdj auf ein lüort feines fjerrn berufen 3U fönnen, ans bem 
<5eijte heraus wiber ben 23ud}ftaben bas füfytfte Unternehmen wagte, 
fo bürfen wir nidjt minber jene perfönlicfycn 3ftnger 3efu perefyren, 
bie nad\ fdjweren inneren Kämpfen ftdj sulefct ben (Srunbfäfeen 
bes paulus angefdjloffen Ifaben. Pon petrus wiffen wir bas be- 
nimmt; pon anberen ^Ören wir, ba% fte fte wenigstens anettannten. 
<£s war waijrlidj nichts (5eringcs, ba% bie, benen jebes XDort ifyces 
UTcifters nodj im ©Ijre flang unb in beren ^Erinnerung bie fon» 
freten §üge feines Bilbes lebten — ba% biefe treuen 3ünger ehte 



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Derfftnbigung anerkannten, bie fid? von ber ursprünglichen prebigt 
in undjtigen Stücfen 3U entfernen fdjien unb einen Umftur3 ber / 
Religion ^svaels bebeutete. X}ier fyat einmal bie (Scfc^idjtc felbfi 
mit unoerfennbarer Deutlidtfeit unb in fünftem pro3effe ge3eigt, 
was Kern unb was Schale u>ar. Sdjale roar bie gan3e jübifdje 
33ebingtt?eit ber prebigt 3*f u ; Schale maren audj fo bejlimmte 
XDorte uric bas: rf 3dj bin nidjt gefanbt, benn nur 3U ben per- 
Iorenen Schafen aus bem fjaufe 'Sstael". 3 n Kraft bes (Seijies 
<Qjrifh Ijaben bie junget biefe Sditanten burdjbrodfen. Die per- 
fönlicfyen 3ättgcr Cfyriftt — nidjt erft bie 3toeite ober britte Gene- 
ration, als bie unmittelbare Erinnerung an ben fjerrn fdjon ©er- 
blaßt mar — fyabtn bie große probe beftonben. Das ijt bie 
benftDÜrbigjtc (Eijatfadie bes apofiolifdjen Zeitalters. 

paulus fyat bas €r>angelium, oijne feine roefentlidjen, inneren 
Züge — bas unbebingte Pertrauen auf (ßott als ben Vatev 3efa 
Cfyrifii, bie Zuperftdjt auf ben fjerm, bie Sünbenoergebung, bie 
(ßeioißfyeit eines eisigen £ebens, bie Beinijeit unb Srüberlidjfeit — 
3U oerlefeen, in bie unioerfale Heßgion ©ertoanbelt unb ben (ßrunb 
3u ber großen Kirche gelegt, 2lber inbem bie urfprünglidje Se- 
fdtränfung toegfiel, mußten pdf neue Sdjranfen einteilen, meiere 
bie Einfachheit unb Kraft einer innerlichen Setoegung mobifaierten» 
2luf biefe 2JTobififationen liaben nrir bei ber Betrachtung bes 
apofiolifdjen Zeitalters 3um Schluß unfere Stufmerffamfeit 3U 
Ienfen. 

l. Der Srudj mit ber Synagoge unb bie (Srünbung gan3 
felbßänbiger religiöfer (Semeinben Ratten einfdjneibenbe folgen. 
ZITan Ejielt 3u>ar bavan feft, ba% bie (Semeinbe (Qjriftt, bie „Kirche", 
ettx>as Überftnnlidjes, £}immlifdies, roeil ettoas 3nnerlidies fei, aber 
man roar über3eugt, ba% fte in jeber <£in3elgemeinbe 3ur firfdjeinung 
fomme, unb ba man mit ber alten (Semeinfdjaft gebrochen fyatte 
ober übevliaixpt nidjt an fte anfnüpfte, erhielt bie 23ilbung gan3 
neuer Perbinbungen folgerecht eine befonbere ISebeutung unb be- 
fdjäftigte bas 3"tereffe aufs leb^aftcfte, 3*fas fonntc in feinen 
Sprüdjen unb (ßleidjniffen, unbefümmert um alles äußerliche, lebig- 
Cid? bie fjauptfadje treiben — u>ie unb in meieren formen bas 
Samenfom n>adjfen toürbe, bas befdjäftigte xfyx nidjt; er fafy bas 
Pott 3srael in feinen gefdjidjtlidjen ©rbnungen por ftctj unb backte 
nidjt an äußere Snberungen. Der ZufammcnEjang mit biefem 
Dolfe u>ar nun aber burdifdjnitfen, unb förperlos fann feine 

Qarna(f, Das EDefen bes Ctpffientums. o 



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religiöfe Setoegung bleiben. Sic muß formen ausbilben für bas 
gemeinfdjaftlidte £eben unb ben gcmcinfdiaftlidien (ßottesbienji 
Solche $ormen aber impror>iftert man nidjt; ein (teil bilbet ftd? 
langfam aus ben Fonfretcn Sebürfniffen heraus, ein anberer toirb 
ber Umgebung unb ben bcjtefjenben Perfyältniffen entnommen. Die 
„fyetbendiriftlidjen" (ßemeinben fyaben ftdj in biefer XDeife einen 
Organismus, einen Körper gefd?ajfen; ftc fyaben bie 5ormen teils 
felbftänbig unb attmäfyidj gebübet, teils unter 2lnlefynung an bas 
(Begebene getoonnen. 

2ln ben Formen haftet aber ftets eine befonbere IDertfdjäfeung; 
ba fte bas ZTTittcI für bie 2fufredjtcri|altung ber Pcrbinbung ftnb, 
fo geEjt ber IDcrt ber Sadte, u>eldjer fie bienen, unper« 
merft auf fie felbft über, ober es ift toenigftens ftets (Scfaljr 
porfyanben, ba% bics gefcfyicfyt. Diefe (Bcfafyr liegt audj besbalb 
fo nafye, nocil ftdj bie €infyaftung ber formen Fontrolliercn be3to. 
er5u>ingen läßt, nxifyrenb fidj bas innere Ccben einer fidleren Kon- 
trolle entließt 

Un3n?cifcHjaft mar es eine ZTotoenbigFeit, ber jübifdjen Dolfs« 
gemeinfdiaft, nadjbcm man mit iljr gebrochen Ijatte, eine neue <5e* 
meinbe entgegenstehen — bas Selbftbetxmßtfein unb bie Kraft ber 
djriftlidjen Setoegung seigte ftdj in ber Schöpfung ber „Kirche", 
bie ftdj als bas toaljre 3 5rac * voeifa. 21ber inbem Kirchen unb 
bie Kirdje auf <£rbcn gegrünbet trmrben, trat ein gan3 neues 3" s 
tereffe ein; bem 3nnerlidjen fteHte ftdj ein äußerliches 3ur Seite; 
Hedjt, Disciplin, Kultus« unb Cefyrorbnungcn bilbeten ftdj unb be* 
gannen ftdj nad\ eigener CogiF gcltenb 3U machen. Die XPcrt» 
fcfyäfeung, bie ber Sadje galt, blieb nidjt mefyr bie einige IDert« 
fd}äfcung, unb biefe felbft mürbe unücrmcrft mit fyunbert unftdjt« 
baren 5äbcn in bas Hefe ber <5efdiidjte geFnüpft. 

2. Xt)ir fyaben barauf fyngemiefen, baß bie 23ebeutung bes 
paulus als Cetjrer t>or allem in feiner C^riftologic befianben fyaL 
€r fyat fte fo gefaßt — foroofcjl burd? feine Beleuchtung bes Kreu3cs- 
tobes unb ber 21uferftcfying, als burdj feine (Sleidrfefeung „ber f^err 
ift ber <5eift" — , bafa bie €rlöfung als üollbradjt unb bas £}eil als 
eine gegenwärtige Kraft erfdjeint. „Wir [xnb burdj (Efyrißus per* 
fö^nt mit <5ott", „3(1 jemanb in (Cfyrifto, fo iß er eine neue 
Kreatur", „IDer mill uns fdjetben üon ber Cicbc <5ottes?" Der 
abfolute (EfyaraFter ber djriftlidjen Hcligion ift bamit ans £idjt ge* 
ftellt. 2lber audj f^tcr fann man fagen, jcbe Formulierung fyat 



( _ 115 _ 

ifyre eigene Cogtf ünb ifyre eigenen (Befahren* (Segen eine <5efafy: 
ijat ber 2lpoßel felbft fdmpfen muffen; ba§ man bie <£rlöfung 
geltend machte, oijne bas neue £eben 3U bewähren. Den Sprfidjen 
3efu gegenüber fonnte biefe (ßefaljr unmöglich auftauchen; aber 
bie 5ormulierung bes paulus war nidjt ebenfo fteber gegen fte 
gefdjüfet. <£s mußte in. ber 5olge3eit ein ftetjenbes tEfyema für alle 
emfteu Prebigcr werben, ftd} nidjt auf bie „<£rlöfung", auf Sünben» 
pergebung unb (Seredjtfprediung, 3U perlaffen, wenn bodj ber 21b- 
fdjeu wiber bie Sünbe unb bie Hadjfolge Cfyriftt fefyle. XDer fann 
perFennen, ba% bie Cefyren von ber „objeftt gen fo lofung" 3U fcfjwercn 
Verfügungen in ber Kirdjcngefdjidfte geworben ftnb unb gan3en 
(ßenerationen ben <£rnft ber Heligion perbeeft fyaben ? Der Segriff 
ber „€rlöfung M , ber gar nidjt fo ofyne weiteres in bie prebigt 
3efu eingeteilt werben Fann, ifl 3um 5<*llftricF geworben* €>ewi§, 
bas (Efjriftcntum ift bie Heligion ber <£rlöfung; aber ber Begriff 
tft ein 3arter unb barf niemals ber Sphäre perfönlidjen €rlebens 
unb ber inneren Umbilbung entrücft werben. 

2lbcr nodj eine sweite eugperbunbene (Sefafyr tauchte auf: 
wenn bie <£rlöfung auf bie perfon unb bas Wevt (Efyrifti 3urücf- 
3ufüfyren iß, fo fdjeint alles barauf an3ufommen, biefe perfon famt 
üjrem IDerFe richtig 3U erFennen. Die redjte £efyre pon unb 
über Cljriftus brofyt in ben ZHittelpunft 3U rücfen unb bie 
ZHajcftät unb bie Sdjltcfytljeit bes <£pangeliums 3U per- 
f efyren. tDieberum ftefy es fo, ba% biefe (ßefafjr bei ben Sprüchen 
3efu nidjt auffommen Fann — man lefe felbji ben 3ot|annes. „£iebet 
ifyr midi, fo galtet meine (Bebote." 21ber bei ber 5<*f[ung, bie 
paulus ber Heligionslefyre gegeben fyat, fann fte aüerbings ent- 
fielen unb iß cntjtanben. XDte lange bat es gebauert, ba lehrte 
man in ber Kirdje, es fei bas aüerwiditigfte 3U wiffen, wie Cfyrifhis 
als perfon befdjaffen gewefen fei, welche Ztatur er gehabt fyabe u. f. w. 
paulus felbftijl bapon nodj weit entfernt — wer Cfyrijhim ben £}errn 
Reifet, rebet aus bem ^eiligen (5eift — , aber unperFennbar I^at bie ©rb- 
nung ber religiöfen Segriffe, wie fte feine Spekulation beftimmt 
ijat, aud? in perfekter Sichtung gewirft. Daß es aber perFetjrt 
ift, mag für ben Derftanb bie 2tnorbnung nodj fo perlocfenb fein, 
bie Cfjriftologie 3um grunblegenben 3nfyalt bes €pangeliums 3U 
machen, bas le^rt bie prebigt 3«fu, bie überaü bei bem (Entfettet- 
benben einfefet unb \eben ofyne Umfdjweife por feinen (Sott pellt. 
Das Hedjt bes paulus, alles in bie prebigt pon (Qtrifhis bem 

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1 I 

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— 116 — 

<5efreu3tgten 3ufammen3ttf äffen, u>irb baburd? mdjt befdjränft, 
bcnn (Bottes Kraft unb (Sottes ZDctsBjeit 3eigte er fyer unb 
cnt3Ünbete an ber Ctebe öjrijii bas (Befüfjl für bie ßebe (ßottes. 
So pflogt jtdt nodj ijeute in (Eaufenben ber dirtjUidfe (ßlaube fort, 
n&mlid? burdj (Qjrijhis. Das ijt aber etwas anberes, ab bie §u« 
jtimmnng 3U einer Beifje t>on S&feen über bie perfon (EfyrijK forbem. 
2lber nodj etwas fommt bjer in Betracht, paulus, ©on ber 
ntefjtanifdien Dogmatif geleitet unb burdj ben ©nbrucf (Erjrifti 
benimmt, fyxk bie Spefulation begrünbct, ba% nid?t nur (Sott in 
<£t}rißus getoefen ijt, fonbern ba% (Efyrijhts felbjt ein eigentümliches 
tjimmlifdies XDefen befeffen fyat Sei ben 3uben brauchte biefe X>or« 
jieQung ben Kalmen ber ntefjtanifdien 3bee nidjt 3U fprengen, aber bei 
| ben (ßriedjen mußte jte gan3 neue (Sebanfcn entfeffeln. Die <£ r f di e t- 
n u n 3 öjrijli an fid}, ber (Eintritt eines göttlichen ZDefens in bicfe 
IDelt, mußte als bie fjauptfadje, als bie €rlöfungstB|atfadje an 
fictj gelten, Paulus felbft fyat jte bodj nidjt fo betrachtet: Kreu3estob 
unb 2lufern>ecfung finb if^m bas fintfdjeibenbe, unb ben Eintritt 
in bie IDelt faßt er unter jtttlidjem (ßejtdjtspunft unb als X>orbüb 
für unfer (E^un („<£r toarb arm um unfretoillen"; er bemütigte 
ftd), entäußerte ftcr/). Dabei fonnte es nidjt bleiben. Die fDciai* 
fadje tonnte auf bie Dauer nidjt an 3toeitcr Stelle jlcfyen, basu 
war jte 3U groß. 2lber an bie erjle Stelle gerücft, bebroljte fie 
bas €oangelium felbjt, n?eil jte Sinn unb ^niexe\\e von Hfln a &* 
lenfte. Wer tonn angejtdjts ber Dogmengcfdjidjte leugnen, ba% 
bies gefetteten ijt? IDir roerben in ben folgenben X>orlefungen 
feigen, in trelct/em Umfange. 

3. Die neue Kirche fyat ein ^eiliges 23ud?, bas 2tlte Cejtament. 
paulus, obgleich er lehrte, bas (Sefefe fei ungültig geioorben, fanb 
~7 bodj einen IDeg, bas gan3e 2llte (Ceftament 3U fonfen>ieren. ZDeld} 

einen Segen Ijat biefes 23udj ber Kirdje gebracht! 2lls <£rbauungs» 
budj, als 3udj bes (Erojtes, ber XDeisljeit unb bes Bates, als 
23udj ber ©efdjidjte fyat es eine unoergleidjlidje Sebeutung für 
bas Sehen unb bie 2lpologetif gehabt! XPeldje ber Heligionen, mit 
benen bas öjriftentum auf gried?ifdi*römifdicnt Soben 3ufammen- 
traf, fonnte jtd| eines äljnlidjen Bejtfces rühmen? Unb bennodj ift 
biefer Seftfe ber Kirche nidjt in jebem Sinne Ejeilfam geroorben; 
benn, erjHtcb,, auf trielen blättern biefes Sudjs jianb eme anberc 
Heligion unb eine anbere Sittlidjfeit als bie djriftlidje* ZHodfte 
man jte arxdi nod\ fo entfdjlojfen burdj Deutungen pergeijiigen 



— 117 — 

nnb üerinncrltdjen — ber nrfprünglid}e Sinn lieg pdf bafcurdt 
nidft Doßfommen befeitigeu. €s mar (Befa^r t>orl}anben, unb jte 
trat mtrflid? ein, ba% biirdj bas 2llte (Eeßament ein inferiores, 
übermunbencs Clement in bas (Eljriftentum einbrang. £s gilt bas 
nidit nur von £m3elBjeiten — bas gan^e Siel mar ein anbcres,\ ^ 
unb bie Heligion fianb bort aufjerbem in engfter Perbinbung mit ^ 
einer politifcfyen (ßröße, bem Polfstum. Wie nun, wenn man ftdj 
verleiten lieg, mieberum eine foldje Perbinbung 3U fudjen, jmar 
nidjt meljr mit bem 3ubentum, aber mit einem neuen Volt, unb 
nidit mit bem alten Polfsgefefee, aber mit einem analogen? Unb 
wenn felbft ein pautus altteßamentüdje (ßefefee, menn audj in alle- 
gorifdjc* Umgejlaltung, bann unb wann nodj für mafcgebenb erflärt 
fyat, mer mirb feinen Nachfolgern bie <Sten$e 3ie^en, menn jte audj 
nodj anbere (Sefefee, in 3eitgemä$er Umformung, als gültige <5ottes- 
geböte proflamieren merben? Das füfyrt uns auf bas «gmeite: 
mochte felbft bas, was man bem 2llten tEeftament an maggebenben 
23ejihnmungcn entnahm, in^altlidi unanftößig fein — es bebrofyte 
bie djrifUicfye 5*cil}cit, fomofyl bie innerliche als audf bie Steilheit 
ber firdjltdjen <5emeinbebilbung unb ber fultifdien unb bisciplmären 
(Drbnungen. 

3dj fyabe an3ubeuten oerfudjt, ba%, nadfbem bie Perbinbung 
mit bem 3 11 & en * um 3crfdjnitten mar, bie Bcfcfyränfungen bes 
€oangeliums bodj nidjt aufhörten, bajj pielmeijr neue Sdjranfcn 
ftdj einteilten. Sie cntflanben aber an eben ben punften, 
an meieren ber notmenbige 5ortfdjritt ber Dinge, be3m. 
mie bei bem 211ten (Eeßament, ein unveräußerlicher Beftfe 
haftete. 21udj ljter merben mir alfo batan erinnert, ba% es in 1 
ben gefditdjtlidfcn Perljältniffen, fobalb bie Sphäre ber reinen / ' 
3nnerlidifett oerlaffen mirb, feinen 5ortfdjritt, feinen (Erfolg unb 
überhaupt fein (5ut giebt, bas nidit feinen Schatten tjat unb Xtadi» | , 
teile bringt Der 2lpofiel paulus Ijat flagenb ausgerufen: „Unfer | 
ZDiffen ijl Stücfmerf." Das gilt in nodj oiel leerem (Stabe von 
unferem fjanbeln unb pon allem, mas ba gefdiiefy. 3"tmer mu§ 
man „auf Koften" lianbeln, nidft nur fcfylimme folgen auf ftdj 
nehmen, fonbern audj „miffenb, fdjauenb, unpermanbt", bas eine 
pemadjläfftgen, um bas anbexe 3U erreichen. 21udj bas Heinjie 
unb X^eiltgfte, wenn es ans ber 3nnerlidjfett heraustritt unb fidj 
in bie Welt ber (Seftaltungen unb bes (ßefdjetiens begiebt, iß pon 



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— 118 — 

^ \ ber Hegel nidjt ausgenommen, ba% eben bte (ßeßaltung, bte feine 
Qjai ifl, audj feine Sdjranfe toirb. 

2lls bcr große 2lpoPel unter bem Hidjtbeil ZTero's im 3 a *! r * 
6^ fem £eben befdjlofc, burfte er ©on pdf fagen, toas er fürs 3U« 
por einem treuen (Benoffen gefdirieben Blatte: „3d? ^abe meinen 
£auf t>oÜenbet; tdj ijabe (Blauben gehalten/' XDeldjer HZifponar, 
prebiger unb Seelforger fann fiel) xfyn Dergleichen, foioolfl was 
bie (ßröße ber Dollenbeten Aufgabe als u>as bie ^eilige Energie 
in i^rer 3usfüt?rung betrifft! ZTCit bem lebenbigjien lüort Ijat er 
getoirft unb ein $euer ange3Ünbet; rr>ie ein Pater fyat er geforgt 
unb mit allen Kräften feiner Seele um bie Seelen gerungen; bie 
pflichten bes CeEjrers, bes päbagogen, bes ©rganifators tiat er 
3ugleid? erfüllt: 2lls er fein IDerf burdj ben (Eob bepegelte, n>ar 
bas römifdjc Hctdj oon 2Intiodjien bis Born, ja bis Spanien t>on 
diripiidjen (ßemeinben befefet. ZTidjt oiele „(Betoaltige nad? bem 
5leifdj JI unb Pomefyne maren unter u?nen 3U ftnben, unb bod) 
n?aren pe „urie Ctdjter in ber Welt", unb ber 5ortfdjritt ber IDelt- 
gefdjidite beruhte auf ifynen. Sie toaren roenig „aufgeklärt", aber 
pe fyatten ben (Blauben an ben lebenbigen (Sott unb an ein err>iges 
£cbcn gemonnen; pe txmßten, ba% bie menfdjlidje Seele einen un« 
enblidjen Xt)ert ijat, unb ba% pdf biefer XDert nad\ bem Perfyältnis 
3U bem Unpdjtbaren bejlimmt; pe führten ein tcben in Beinfyeit 
unb 23rüberlidjfeit ober ftrebten bodj nadj einem foldjen. 3n 3efus 
(Efyriftus, ifyrem Raupte, 3U einem neuen Polfe 3ufammcngefdjloffcn, 
roareu pe x>on bem fyofyen BetDufjtfem erfüllt, ba$ 3uben unb 
(Sriedjen, (Briefen unb Barbaren burdj pc bie (Einheit empfangen 
unb ba% bie lefete unb fyödjjte Stufe in ber (ßcfdjidjte ber ZHcufd?« 
i]eit nun erreicht fei. 



(Elffe T&Dxte\vLit$. 



7)as apojtolifc^e Zeitalter liegt fynter uns, ZDir ijaben ge- 
feiten, bafj bas €i>angelium in bemfelben von bem mütterlichen 
23oben bes 3 u &entums losgelöp unb auf fcen weiten plan 6es 
griediifdi-römifdien Beides gejleDt worben tfl. 2)er ApoPel paulns 
ip es Dornefymlidi gewefen, ber bies Donogen unb bamit bas 
(Efyriftcntum in bie tPeltgefdjidjte übergeführt fyat. 3)ie neue Per- 
binbung, bie es empfing, bebeutete an pdj feine £}emmung; im 
(ßegenteil, bie djriftlidje Religion war barauf angelegt, pdf in ber 
ZTTenfdifycit — unb biefe (teilte pdf bamals im orbis Romanus 
bar — 3U x>crwirflidjen. Aber neue 5ormen mußten pdf nun enU 
toicfeln, unb pe bebeuteten aud? eine 23cfdjränfung unb Selajiung» 
ZDir werben biefer <£rfcnntnis näfyer treten, wenn wir nun 

3xz ifrripItd^B IMtijiott in iljrBr Qrntnri&lung jum 

Kalfjnltpsmns 

betrachten. 

Das fioangelium ift nidjt als patutarifdje Heligion in bie 
ZPclt getreten, unb es fann baljer audj in feiner 5orm feiner 
intelleftueüen unb gefellfdjaftlidjen Ausprägung, aud} nidjt in ber 
erften, feine Flafpfdje unb bleibenbc <£rfdjeinung l\aben. liefen 
£jauptgebanfen muß pdj ber X^iftorifer ftets gegenwärtig galten, ber 
es unternimmt, ben (Sang ber cfyrißlidjen Heligion vom apopolifdfcn 
Zeitalter burdj bie 3afyrfyunbcrte fynburdj 3U Derfolgcn. lüeil 
biefe Religion über ben <5cgcnfäfecn von Dicsfeits unb 3cnfcits, 
£eben unb Cob, Arbeit unb ZDeltfludit, Pernunft unb (Efjtafe, 
3ubentum unb <5ricd}cntum ftef^t, fo üermag pe audj unter ben 



— 120 — 

perfdfiebenjten Bedingungen 311 epfheren, tz>te jte urfprünglid} iftre 
Kraft unter bem Schutt ber jübifdjen Heligion entfaltet Ejat 2lber 
jte famt es nidjt nur — jte muß es, roenn anbets jte bie Heligion 
ber Cebenbigen fem rotll unb felbji lebenbig ijt Sie fyat, als 
£pangelium, nur ein Siel, ba% ber lebenbige (Sott gefunben werbe, 
ba% jeber eht3elne ifyn ftnbe als feinen (Sott unb an ifjm Starte 
unb 5^eube unb 5nebe gewinne. XPie es biefes Siel burdj bie 
3al|rF|unberte fortfdjreitenb erreicht, ob mit bem Koeffaienten bes 
3übifdjen ober bes (ßriedfifdjen, ber IDeltjludit ober ber Kultur, 
bes (ßnoflicismus ober bes 2fgnofHcismus, einer Kird?enanjtolt ober 
eines gan3 freien Vereins ober mos es fonft nodj für Hinben geben 
mag, bie ben Kern fdjüfeen unb in benen ber Saft aufzeigt, bas 
alles ift XTebenfadfe, ift bem XPedjfel unterworfen, gehört ben 3<^r» 
fyunberten an, fommt mit ifynen unb gel|t mit ifynen. 

Die größte ZDanblung nun, weld?e bie neue Heligion je er« 
lebt fyat, beinahe nodj größer als bie, burdj weldje bie Reiben« 
djriftlid?e Kirdfe entfianb unb bie paläjlmenjtfdjen (ßemeinben in 
ben fjintergrunb rücften — bie größte XDanblung faßt in bas 
3weite 3aljr^unbert unferer Seifredjnung unb fomit ht ben Kreis 
unfercr heutigen Betrachtung. 

Ztefymen mir unferen Stanbort um bas 2^ 200, etwa 
J00 — J20 3<rfpe n<*df bem apojtolifdjen Zeitalter. Drei ober pier 
(ßenerationen waren feit feinem Ablauf pergangen, nidjt mefyc — 
meldten Tlnblxd gemährt bie djriftlidie Heligion nun? 

Wiv fe^en ein großes firdflicfypolitifdfcs (ßemeinwefen, baneben 
3aFjlrcidje „Seften", bie jtdf djriftlidj nennen, benen aber biefer 
Ztame abgefprodfen wirb unb bie bitter befämpft »erben. 3enes 
große firdjlidi-politifdje (ßemeinwefen jiellt ftdj als ein bas Heidf 
umfpannenber Vexbanb von einseinen (ßemeinben bar, 3ebe ijt 
felbftänbtg, aber jte jtnb wefentlidf gleichartig perfaßt unb mit« 
einanber burdi ein unb basfelbe Cefyrgefefe unb burdj fejk Hegeln 
für bie 3ttterfommunion oerbunben. Das £efjrg'efefe fdjemt auf 
ben erjten Blicf wenig umfangreich 3U fein, aber jcber feiner Säfee 
ift pon weittragcnbfter Bcbeutung; 3ufammen umf daließen jte eine 
iülle tnetapB|Yfifd?er, fosmologifdjer unb gefdn'djtlidfer 5ragen, 
beantworten jte benimmt unb geben 2Iuffdjluß über bie (Entwicklung 
ber Zncnfd$eit pon ber Schöpfung bis 3U ifycev 3ufünftigen <££ ijien3- 
form* 2>ie 2Inweifungen 3*fu für bie Cebensfüfyrung jtnb nidjt 
in bies CeBjrgefefe aufgenommen; jte werben als „Hegel ber 3)is* 



— 121 — 

3tplin" von ber „(Blaubensregel" fdjarf unterfcftieben. 3*be Kirdje 
fletft jtdj aber audj als eine Kultusanftalt bar, in roeldjer (ßott 
nadi einem feierlichen Hitual r>eret}rt tx>irb, Cfyarafteriftifdj tritt 
in biefer Kultusanjialt bereits ber ttnterfdjieb von prieftern unb 
£aien fyen>or; geroiffe gottesbienftlidie 21fte farm überhaupt nur ber 
priefter Dot^ielicn; feine Vermittlung ijl burdjaus notoenbig, 21ber 
überhaupt - — nur burdj Vermittlungen foH man ßdj (ßott nahen, 
burdj Vermittlung ber redeten Cefjre, ber rechten ©rbnungen unb 
eines ^eiligen 33udjes. Der lebenbige (ßlaube fefteint jidi in ein 
3ii glaubendes Sefenntnis »erroanbelt 3U Itaben, bie Eingabe an 
(Efyrijfcts in Cfjrijiologie, bie btennenbe Hoffnung auf bas „Heid}" 
in tfnflerblidjfeits« unb Vergottungsleljre, bie propfyetie in gelehrte 
€$cgefe unb tf}eologifdje IDiffenfdjaft, bie (ßeiftesträger in Klerifer, 
bie Brüber in beoormunbete £aien, bie ZVunber unb Teilungen in 
nichts ober in priefterfunflftücf e, bie Reißen (Sebete in feierliche $ymnen 
unb Litaneien, ber „(ßeift". in &ed\t unb Strang. 2>abei fteljen 
bie ein3elnen CBjrijien mitten im roeltlid^en Heben, unb bie brennenbfte 
5rage lautet: £)ier>iel pon biefem Ceben barf man „mitmadjen", 
o^ne feinen Cfyrijtenftanb einbüßen? 3 n \2® 3<tfp*n *?<** ft^l 
biefe ungeheure IDanblung ponogen! Wvc fragen erftlidj: Wie 
ift bas getoorben? fobann: fjat jtdj bas (Evangelium unter biefem 
IDedjfel ber 2>inge 3U behaupten x>crmodit, nnb wie Ijat es jtdi 
behauptet? 

Beoor roir biefe beiben 5*agen 3U beantworten fudjen, tiaben 
vok uns aber einer 2lnn>eifung 3U erinnern, bie ber fjiftorifer nie- 
mals r>ernadjläfjtgen barf. Wev ben tDirflidjen ZVert unb bie 23e* 
beutung einer großen (Erfdjeinung, einer mächtigen fjeroorbringung 
ber (Sefdjidjte, feftjteffen roiH, ber muß allem 3Ut>or nadi ber Arbeit 
fragen, bie jte geleiftet, be3tD. nadi ber Aufgabe, bie fie gelöft 
fyat. IDie jeber ein3elne ©erlangen fann, ba% er nidjt nadi biefer 
ober jener (Eugcnb ober ttntugenb, nidjt nadi feinen (Saben ober 
nadi feinen Sdjtüädjcn beurteilt roerbe, fonbern naefy feinen 
£etßungen, fo muffen audj bie großen gefdjiditlidjen (ßebilbe, bie 
5taaten unb bie Kirdjen, in erftcr £inie — man barf meüeidft 
fagen, ausfdjlicjslid} — nadi bem gefdjäfet roerben, roas jte gelciftet 
liaben. 7>ie Arbeit entfdjeibet, 3n jcbem anberen 5<*He fommt 
man 3U gan3 oagen, balb optimiftifdjen, balb pefftmtjttfdjen Urteilen 
unb 3U gefdjidjtlidjen Kannegicfcereien, So fyaben tobe audj ljier 



— 122 — 

in 3c3ug auf bie 3um Katf}olt3ismus cntwxd elte Kirche allem 
3ur»or 3U fragen, wovxn fyat üjrc Arbeit beftanben, treidle Aufgabe 
fyat fte. gelöjt, wob fyat fte gclciftet? 3^1 ftelk bie 2lnttr>ort 

l' an bie Sptfec. Sie l;at ein Doppeltes geleiftct: erftlicft, fte fyat 
ben ZTaturbienft, ben Polytheismus unb bie politifdje Religion be= 

(L. Fämpft unb mädjtig 3uräcf gebrängt; 3tr>eitcns, fte fyat bie bua- 

u liftifdje Heligionsprjtlofopfn'e übertounben. Die Kirdje am Anfang 
1 bes britten 3<*l?rl}unberts Ijättc auf bie t>ormurfsr>olIe 5tage: „Wie 
fonnteft bu bidj oon beinen Anfängen fo roeit entfernen, roas ift 
aus bir geworben?" antworten Fönnen: „3a, fo bin id] geworben; 
oieles rjabe idj abroerfen muffen, t>ieles auf midi nehmen; id\ fyxbe 
fämpfen muffen, mein £eib ift voVi starben unb mein (Sewarib tfr 
mit ^taub bebeeft; aber id? rjabe Siege erfochten unb fyabe gebaut; 
ich rjabe ben polytrjcismus 3urücFgefdjlagen ; idj fyxbe bie politifdje 
Hcligton entwertet unb biefe Spottgeburt nafyc3U r»ernid)tet; idj B?abc 
ben tferfocFungen einer ttef jtnnigen Hefigionspfyilofopfyie fein <5erjör 
gefcfjcnft unb rjabe ifyr ben aümädjtigcn Scfyöpfergott ftegreidf ent- 
gegeugejtellt; idj fyabe enblidj einen großen 3au ge3immcrt, eine 
5eftung mit Cürmen unb 23oHu>erfen; in tfjr beroadje idj meine 
Scrjäfee unb fer/üfee bie Scrjuxtdien." So Blatte fte antworten Fönnen 
unb fyätte bie ZDafyrrjeit gefptodjen. 2lber, tüenbet man ein, Kampf 
unb Sieg gegenüber bem ZTaturbienft unb bem Polytheismus nxtr 
etoas (geringes; fte waren fdjon morfd] unb fjoty getoorben unb 
befaßen nur nodj roentg Kraft. Der <Einu?anb ift nidjt richtig, 
(ßearijj, r»iele 2lusgeflaltungen biefer 2lrt r»on Heligion roaren 
r»on ber 5^ überholt unb bem Untergang naEjc; aber fte felbfi, 
bie XTaturreligion, toar ein genxtltiger (Segner. ZTodj tjeute 
r»ermag fte unfre Seelen 3U bcrücfen unb mächtig bie Saiten unferes 
(Semütes 3U rühren, trenn ein begeifterter propfyet fte oerfünbet — 
roie r»iel mefyr bamals! Das fyofye £ieb r»on ber Sonne, bie allem 

! Cebenbigen £eberx giebt, r/at felbft einen (ßoetfye 3eitlcbens mit 
religiöfer (Senxtlt ergriffen unb ifyt 3U einem Sonnenanbcter ge- 
macht. XDie rjinrcißenb aber roar biefer Hymnus in jenen (Eagen, 
ba bie ZDiffenfdjaft bie ZTatur nodj nidjt entgöttert fyattc! Das 
Crjriftentum Ijat bie Haturrcligion überrounben, übertounben nidtf 
nur für biefen ober jenen einzelnen — bas t»ar immer gefcr/cfyen — , 
fonbern fo, ba% nun eine große, feftc (Semeinfcfyaft ba mar, bie 
burdj einbrucfspoHc Ccrjrcn ben ZTaturbienft unb Polytheismus 

;' »iberlegte unb ber tieferen religiöfen Stimmung fjalt unb 5tüfa 



— 123 — 

Bot. Unb bie politifdje Heligion! Die qan$e Vfladit bes Staates 
ftanb hinter bem Kaiferfult, unb es festen fo leidjt unb ungefähr- 
lich, mit ifjm 3U paftieren — aber bie Kirche l^at feinen Sdjritt- 
breit nachgegeben; fte fyat bie faiferlidjen Staatsgofeen abgetan* 
Das Blut ber ZHärtyrcr ift gefloffen, bamit eine unoerrücfbare 
<5ren3e entftänbe 3toifd?en ber Religion unb ber politif, 3arifdjen 
(Sott unb bem Kaifer, <£nblidf, bie Kirdje fyat ftd? inmitten einer 
religionspfu'lofopln'fdi tief bewegten &e\t gegenüber allen bua- 
liftif djen Spefulationen behauptet unb ifynen, bie oft ifyren eigenen 
2lufftellungen fdjeinbar fo naty famen, in Ijeißem Hingen bie 
monotfyciftifcfye Betrachtung entgegengefefct. fjier aber roar ber 
Kampf um fo fdjrperer, als Diele unb 3toar gerabe fefyr fyerüor- 
ragenbe unb beqabte Cfyriften mit bem (Segner gemeinfame Sa&te 
machten unb felbft Dualiften würben* Die Kirdje blieb feji. 
stimmt man nun nodj fynsu, ba% fte trofc biefer (Segenbewegungen 
gegen ben griedjifdj -römif dien (Seift es bodj serftanben fyat, eben 
biefen (Seift an fid} 3U feffeln — anbers als bas 3ttbentum, von 
beffen IDtrfen auf bas (Sricdjentum bas IDort gilt: „Du fyaft bie 
Kraft midj an3U3icfjn befeffen, bodj midj 3U galten fyaji bu feine 
Kraft" — , nimmt man ferner fynsu, bafj im 3tocitcn 3^l?rB)unbert bie 
(Srunblagen für alles „Kird}lid)c" bis auf ben heutigen (Eag gelegt 
roorben ftnb, fo fann man nur ftaunen über bie (Sröße ber Ceiftung, 
bie bamals x>ollbrad)t u>orben ift. 

Wiv fefyren 3U ben beiben fragen 3urücf, bie wir aufgeworfen 
fyaben: „Wie tjat ftd} bie große IDanblung ponogen?" unb 
„£jat fxdi bas <£pangelium unter biefem tDedjfel ber Dinge be- 
hauptet, be3t». wie fjat es ftdj behauptet?" 

\. <£s finb, wenn idj ted\t felje, brei £}auptmomente, bie ben 
großen Umfdjwung herbeigeführt unb bie Bilbung neuer formen 
bewirft fjaben. Das er fte entfpridjt einem allgemeinen (Sefefee in 
ber Heligionsgefdjidjte; benn roir treffen es in ber fintwicflung 
jcber Hcligion. Wenn bie 3weite unb britte Generation vorüber- 
gegangen ift, wenn J^unbertc ja (Eaufenbe nidjt mcljr burdj Sc* 
fcfyrung, fonbern burdf Überlieferung unb (5cburt 3U ber neuen 
Heligion gehören — trofe Certullian's Wort: fiunt, non naseuntur 
Christiani — , toenn neben bie, weldje ben (Slauben ergriffen haben 
wie einen Raub, in großer &afy foldje treten, bie ifyr fcftfyalten 
wie ein äußeres (Sewanb, bann tritt ftets ein Umfdjwung ber Dinge 



— 124 — 

cht. Thxs ber Religion ber lebenbigen £mpftnbung unb bes lijer3ens 
nrirb bie Heligion ber Sitte unb barum ber 5orm unb bes (ßefefees. 
©ne neue Heligton mag mit ber größten Kraft, bem fyödfjten <£n- 
tfyuftasmus unb gewaltigen inneren Crfdjütterungen etnfefeen, fte 
mag babei bie geiftige 5^iF|eit nodf fo fefyr betonen — roo ifl 
bas alles jemals lebenbtger 511m 2(usbrucf gefommen als in ber 
Derfünbigung bes paulus? — , bemtodj, felbft toenn man bie <5läu* 
bigen jur €fyeloftgfeit jroingt unb nur <£ra>ad}fene aufnimmt, roirb 
ber pro3efc ber £?erbid}tung unb Pergcfefelidjung nidjt ausbleiben. 
Sofort erftarren bann bie formen ber Heligion; fte erhalten 
eben burdj bie (Erftarrung erft roirflidie Bebeutung, unb neue 
5ormen treten fyin3U. Sie befommen nidjt nur ben IDert pon 
Hegeln unb (Befcfeen, fonbern unsermerft »erben fte fo angefcfyaut, 
als umfdjlöffen jte ben 3nfyalt bet Heligion felbft, ja mären ber 
3nfjalt. 3>ie, meldte bie Heligion nidft empfinben, muffen fte fo 
anfd?auen; benn fonji Ijätten fte überhaupt nichts, unb bie, toeldje 
roirf lieft nodj in ber Heligion leben, muffen fte fo ftanbftaben; benn 
fonft oermögen fte auf bie anbern nidft etn3Utr>irfen. 3ene ftnb 
feinestoegs nottoenbief fjeudjler. Die eigentliche Heligion ift tftnen 
freiließ serfdjloffen; bas tDidjtigjle Clement ift ausgejfrömt. 2lber 
man sermag, ofyne in ber Heligion 3U leben, fte 6odj aus per- 
fd?iebenen <5eftdjtspunften 3U fdjäfcen. Die Sdjäfeung fann eine 
moralifdje fein ober eine poli3ctlidje, fte fann oor allem audj eine 
äftftetifdje fein, llls am 21nfang biefes 3<*ft r ftunberts ber Katfto« 
li3tsmus bei uns nnb in 5ranfreidi burdj bie Homantifer nneber 
3urücf geführt rourbe, ba voav es vov allem Cftateaubrtanb, ber 
ftdj in ber Perfjerrlidjung besfelben nidjt genug tfjun tonnte unb 
ftdj gan3 als Katftolifen 3U empfinben meinte. 21ber ein fdjarf« 
bliefenber Kritifer erflärte, Qcrr (Ojateaubrianb irre ftdj in feiner 
©npfinbung; er glaube ein mir! lieber Katftolif 3U fein; in Wdiixfyeit 
jtefte er t>or ber alten Huine ber Kirdje unb rufe aus: „<Z>, roie 
fdjön!" Das ift eine ber 5ormen, in benen man eine Heligiou 
fdjäfoen fann, oftne iftr innerltdj an3ugcljörcn; es giebt aber nodj 
otele anbere, unb unter ifynen ftnb audj foldje, bie bem tüirflidjen 
3n^alt berfelben näfter ftefjen. Sie alle aber Bjaben bas (Semein- 
fame, ba% bas eigentliche (Erlebnis ber Heligton nidtf mcfyr erlebt 
tüirb ober nur unftdjer unb gebrochen. Dagegen toerben üjre ab- 
geleiteten (£rf Meinungen unb Züirfungcn ftodj gehalten unb forgfam 
gehütet. Vas t was in ben teuren, Hegeln, (Drbnungcn unb ful- 



— 125 — 

tifdjen 2lusgejktltungen 311m 2lusbrucl fommt, toirb als bxe 5ad\e 
felbft beljanbelt. Dtefes alfo ift bas erjie ZHoment in ber Wanb» 
hing ber Dinge: ber urfprünglidje (Entfyufiasmus, im großen 
Sinn bes IDorts, jirömt aus, unb alsbalb entfielt bte Heligton 
bes (ßefefecs unb ber 5ormen. 

2, 21ber es jhrömte im Caufc bes 2. 3 a ^^ u «bcrts nidjt nur 
ein urfprünglidies (Element aus; es ftrömte auefy ein anbeves ein» 
Wenn biefe jugenblidje Religion bas Banb nidjt 3erfdjnitten f\ätte, 
bas jte mit bem 3ubcntum oerbanb, audj bann Ijätte jte, ba jte 
ftdj bauernb auf bem Boben ber griecfytfdKömifdjen ZDelt nieber* 
ließ, afft3iert »erben muffen von bem (ßeiji unb ber Kultur ber» 
felben, 3" toiepiel leerem <5rabe aber ftanb fte biefem (Seifte 
offen, nadjbem jte jtdj mit fdjarfem Schnitt von ber jübifdjen He- 
ligion unb bem jübifdjcn Volte getrennt Dattel Körperlos toie ein 
luftiges IDefen fcfjtüebte jte über ber (Erbe, förperlos unb einen 
Körper fudjenb. Der (Seij! baut ftdj ben Ceib, getpifj — aber er 
baut ifyt, inbem er ftdj bas afftmiliert, roas um xfyi ijt Das 
(Einftrömen bes (Sriedjentums, bes griccfrifdie n (Beiges, 
nnb b'xe Perbinbung bes (Evangeliums mit ii?m ift bie größte {Efyat- 
fadje in ber Kirdjengefdjidfte bes 3t»eiten 3afyrljunberts, nnb jte 
feftte jtdj, grunblegenb vol^ogen, in ben folgenben 3<*^unberten 
fori TXlan tann brei 5tufen unterfcfyeiben, in benen bas (Brie* 
djifdjc auf bie djrtftlidje Heligton eingeroirft fyxt, unb ba3U eine 
Dorjlufe. Die Porjhife fyaben mir in einer früheren Porlefung be- 
reits cnväfynt. Sie liegt in ben Urfprüngen bes (Evangeliums unb 
ift gerabe3u eine 23cbingung feiner (Entftefyung gervefen. (Erft unter 
ben gan3 neuen Perfyältntffen, bie 2Ue£anber ber (ßrojge gefdjaffen 
ijatte, erft nadjbem bie ^äune niebergeriffen tvaren, tveldie bie 
Pölfer bes Orients voneinanber unb von bem (Briedjentum trennten, 
erft bamals fonnte jtdj bas 3^bentum entfdjränfen nnb ber <£nt- 
tvieflung sur tüeltreligion 3uftreben. Die <§ett tvar erfüllt, als 
man audj im (Orient griedjifcfye Cuft atmen Fonnte nnb ber geiftige 
X}ori3ont jtdj über bas eigene Volt hinaus ausbeute. Doctj fann 
man nieftt fagen, ba% in ben älteften djriftlidjen Schriften, gefdjtveige 
im (Evangelium, ein griedjifdies Clement in irgenb erfjeblidjem 
ZTCafje 3U finben ift. Witt, man es fucfyen, fo muß man es — von 
einigen bei paulus, £ufas unb 3°*? anncs fyervortretenben Spuren 
abgcfefyen — in ber ZHögli dj feit ber (Er f djeinung ber neuen Beli- 
gton felbft fucfycn* Darauf tft I|ier nidjt rveiter ein3uge^em Die erfte 



l 



— 126 — 

Stuf« eines nnrflidjen €inftrömeus befttmmter griediifcfter (Scbanfen 
unb griedjifdjen Cebens iji auf bie Seit um bas 3 a fc J30 ansu- 
fefcen. Damals Begann bie griedn'fdie Religionsprjilofopln'e efr^u* 
ftrömen unb erreichte fofort bas Centrum ber Religion. Sie fucfjte 
ben innern Kontaft mit ttjr, unb umgefefyrt flrecfte ftcfj audj bie 
djrifHidie Religion felbft nadj btefer Sunbesgenoffm aus. Don ber 
griedu'fcrjen pfjilofopljie ift bie Hebe; nichts von IHYtrjologie, 
griedn'fdjem Kultus u. f. tr>. ift nodj 3U fpüren; nur bas grojjje Ka» 
pital, roelcr/es feit Sofrates oon ber pfcn'lofopfyie erarbeitet roorben 
toar, roirb r>orfid)tig unb unter Kautelcn oon ber Kirdje aufge* 
nommen. <Ztma ein 3a^rl]unbcrt fpäter, um bie 3afyre 220/50, 
tritt bie 3roeite Stufe ein: jefet toirfen griedjifdje IHv^erien unb 
griedu'fdie gioilifation in ber Breite ifyrer (Entroicflung auf bie 
Kirdje ein, jebodj nodj immer nierjt bie IMyt^ologte unb ber Poly- 
theismus. 2lber, roieberum ein 3a^r^unbert fpäter, ba etabliert 
pdf bas ganse (ßriedjentum mit allem, roas es in jtcr? ausgebilbet 
fyat unb beftfet, in ber Kirche. XTatüriid} fehlen audj fyier bie 
Kautelen nidjt, aber jte beftefyen pielfadj nur in einem tDedjfel 
ber (Etifetten; bie Sadje felbft roirb unüeränbert reeipiert, unb im 
fjeiligenbienfl entjlefyt gerabeju eine cr/riftlidje Religion nieberer 
Orbnung. Rift ber 3tx>eiten unb britten Stufe r^aben roir es an 
biefer Stelle nidjt 3U tfyun, fonbern nur mit jenem (Einjhrömen 
bes griedjifdjen (Setftes, tseldjes burdj bie 21ufnarjme ber grie« 
cfyifdjen prjilofopr/te, üornefymlid} bes platonismus, be3etdjnet ijl 
XDer fann leugnen, baj$ ftdj fyier roafyfoertDanbte (Elemente 3ufammen« 
gcfdjloffen fyabenl 3n ber religiöfen (Etfyif ber (ßriedjen, rote jte 
in rjetjser 2lrbeit auf <5runb r»on inneren (Erfahrungen "unb meta« 
pljYftfcfyen Spefulationen geroonnen roar, fpradj ftd} fooiel Ciefe 
unb §artfyeit ber (Empfinbung, foüiel <£rnft unb IDürbe unb — 
cor allem — eine fo ftarfe monotFjeiftifdje 5r<>mmigfcit aus, 
bajjj bie djriftlidjc Religion an biefem Scrjafee nidjt teilnafymlos 
r>orübergerjen fonnte. §wav fehlte unb befrembete in trjm manches: 
/ es fehlte eine perfönlidjfcit, an roeldjer biefe (Etfyif als roirflidjcs 
■ £ebcn angefdjaut roerben fonnte, unb es befrembete ber nodj immer 
beftefyenbe ^ufammenfyang mit bem „Dämonenbicnft", bem poly« 
tfyeismus; aber im gan3en unb im einsclnen empfanb man bodf 
Percoaubtes unb nafyn es auf. 

Ziehen ber (Etfyif aber ift es audj ein fosmologifdjer Begriff 
getoefen, ben bie Kirdje bamals reeipierte, unb ber nadf roenigen 



— 127 — 

3afyr3cfynten in iijrcr £efyre eine bcBjerrfdjenbe Stellung erlangen 
follte — berjEo^gjjs. Das griedjifdje Denfen rodr von ber Be- 
trachtung ber tDelt unb bes Innenlebens aus 3U bem Segriff einet 
tsirffamen Centralibec gelangt — In tveldjen Stufen, fann 
fyer unerörtert bleiben. 3n biefer Ccntraltbee erblicfte man bie 
(Einheit bes oberften prinjips ber Züelt, bes Denfens unb ber 
(Etfyif, 3ugleidj aber bie (ßottfyeit felbjt als fdjaffcnbe unb nrirfenbe 
im ttnteffdjieb von ber rufyenben. <£s toar ber n>id)tigj!e Schritt 
innerhalb ber d|rijtfid}en £eE}rgcfdiidjte, ber je gctfyan roorben ift, 
als am Anfang bes 2, 3<*fyrBjunberts djriftlidic Apologeten bie 
(Sleidjung ©otogen: ber £ogos iji 3efus (Efyrijhis. Sdjon »or 
ifyncn Ratten alte £efyrer unter ben Dielen präbifaten, bie ftc 
(Efyrifius gaben, ifyn audj „ben £ogos" genannt; ja einer oon 
ifyncn, 3ol?annc5, l^attc bereits ben Sa§ aufgehellt : „ber £ogos ift 
3^fus (Efyriftus"; aber er fyatte biefen Sa§ nodj nicfyt sunt 5unba- 
ment ber gan3cn Spefulation über i£jn gemacht; im (Srunbe toar 
auäj itjm „£ogos" nur ein präbifat, 3 c fc* a & cr traten £efyrcr 
auf, bie por tfjrer Sefcfyrung Anhänger ber platonifdj-fioifdieu 
pfylofopfyie geiücfen u>areu, unb benen besfjalb ber Segriff „£ogos" 
ein unveräußerliches Stücf Ujrcr Zücltanfdjauung bilbete. Sie Der» 
fünbigten, ba§ 3cfus Cfcjrifhis bie leibhaftige <£rfdjeinung bes £ogos 
gervefen fei, ber ftdj vorder nur in Krafta>ir?ungcn offenbart fyabe. 
Statt bes gan3 unser jlänblidjen Segriffs „ZHeffias" toar mit einem 
Schlage ein vcrjMnblidjer getvonnen; bie in ber 5üHc tfyrer Aus- 
lagen fdjtvanfenbe Ctjriftologie empfing eine fefte 5orm; bie IDclt- 
bebeutung <£fyrifti toar fidjcr gebellt, fein geheimnisvolles Perfyältuis 
3ur <5ottfyeit geflärt, Kosmos, Vernunft unb (Etfyif in eine (Einheit 
gefaßt 3" ber tEt^at eine tounbervolle 5ormel! unb toar fte nidjt 
vorbereitet, ja geforbert burdj bie mef jtanifdjen Spcfulationen, roie 
fte ber Apojtel paulus unb anbere alte £efyrer bargeboten Ratten? 
Die €r!enntnis, man muffe bas <5öttlidje in (CEjrißus als ben £ogos 
faffen, eröffnete eine 5ülle von Problemen unb gab ifynen bodi 3U- 
gleich gan3 beflimmte <$5rcn3linien unb 2)ireftiven. Die £in3ig- 
artigfeit Cfyrijtt allen Hivalen gegenüber fdjicn auf bie einfache 
IDeife ftdier geftcllt, unb bodi gctväfyrte ber Segriff bem Denten 
foviel 5reifjeit unb Spielraum, ba% je nadi Sebarf (Eijriftus einer- 
feits als bie arirffame (Sottljeit felbft, anbererfeits nodj immer als 
ber €rßgeborcne unter vielen Srübcrn, nnb als ber Anfang ber 
Sdjöpfung (ßottes, angejdjaut roerben fonnte. 



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— 128 — 

VOzi&i ein Beweis für ben €inbrucl ber prebigt von Cfjrijlus 
ijl es, ba% gricdjifdie pfylofopfjen ilnt mit bem Cogos 3U ibentifi- 
3tercn vermochten! Durdi nichts ivar es vorbereitet, in einer 
gefdjiditlidien perfon bie 3nfarnation besfelben 3U fonjlatieren, nie- 
mals ijl es einem fpcfulierenben 3 u & cn eingefallen, ben ZHefftas 
unb ben Cogos 3U ibentifaieren; niemals ijl einem p^tlo 3. 23. biefe 
<5lcidjfefeung in ben 5inn gefommen! Sie gab einer gefdiidft» 
liefen (Etjatfadje metapfyvfifdie Bebeutung; fie 30g eine 
in Haum unb &e\t erfcfyienene perfon in bie Kosmologie 
unb HeligionspFjilofopljie; inbem fie aber eine perfon fo 
aus3eidjnete, führte jte bie <5efdiidjtc überhaupt auf bie fjölje ber 
IDeltbetvegung. 

Die 3bentijt3ierung bes Cogos mit (Otrijhis mürbe ber ent- 
fdjeibenbe punft für bie Derfdjme^ung ber griedjifdjen ptylofopfyie 
mit bem apojlolifdien (Erbe unb führte bie benfenben (Briedjen 3U 
biefem. 5ür bie Znefyr3afyl unter uns ijl jene 3bentift3ierung un- 
annehmbar; tveil bas Denfcn über IDelt unb (Etljif uns überhaupt 
nidjt auf einen ivcfenijaften Cogos füfyrt. 21ber man müßte blinb 
fein, um 3U vettennen, ba% für jenes Zeitalter ber Cogos bie 
3u>ecfmägige formet getvefen ijl, um bie dirijtlidie Heligion mit 
bem griediifdjen Denfcn 3U verbinben, unb es ijl audj fyeute nodj 
nidjt fdjiver, ifyc einen faltbaren 5inn ab3ugeivinnen. 2lber lebiglicfy 
ein 5egen ijl fie nidjt getvefen. 3" noc ft xx>eit fyöfyerem (Stabe als 
bie älteren Cfyrijlusfpcfulationen fyat jte bas 3ntereffe abforbiert, 
ben Sinn von ber (Einfalt bes (Evangeliums abge3oge*n unb es in 
fteigenbem 2ttaßc in eine HeligtonspfyilofopFjie vcrtvanbelt. Der 
Sa%: ber Cogos ijl unter uns erfdfienen, Fjatte eine beraufdjenbe 
IDirfung; aber ber (Enttjujtasmus unb ber 2luffditvung ber Seele, 
ben er hervorrief, führten nidjt jtdjer 3U bem <ßott, beh 3cfas 
Cfyrijlus verfünbigt fyat 

3. T>as 21usjlrömen eines urfprünglidjen Clements unb bas 
(Einjlrömen eines neuen, ^es griediifcften, erflärt t>en großen IDanbel, 
ben bie djriftlicfye Heligion im 2. 3<*^fyunbert erlebt fyat, nodj nidjt 
vollftänbig. ZHan muß jtcfy brittens bes gctvaltigen Kampfes erinnern, 
ben jte innerhalb itjrcr eigenen (Stengen bamals gefämpft fyti 
parallel nämlidi mit bem langfamen (Einjlrömen bes griedjifdj- 
pljilofopfyifdjen (Elements gingen auf ber gau3cn Cinie Derfudje, 
bie man fur5tveg als „afute ^eüenijterung" be3cid^ncn fann. Sic 
bieten uns bas großartigste gefdiidjtlidje Scftaufpiel; in jener £podje 



— 129 — 

felbp aber waren pe bie furdjtbarjle (ßefarjr. Das zweite 3<rf|*> 
fyunbert ift bas 3 a fyrf?unbert ber Heligionsmifdjung, ber (Erjeofrapc, 
wie fein anberes por irjm. 3" öiefe follte bas £I|rijlentum als 
ein (Element neben anberen, wenn audj als bas widjtigPe, Ipnein- 
ge3ogen werben. 3ener „Hellenismus", ber bas ©erfudjte, tjatte 
bereits alle Imperien, bie orientalifdje Kultweisfyeit, bas 5ublimftc 
unb bas 21bfurbefte, an pdf. ge3ogen unb es burdj bas nie t>er- 
fagenbe mittel ber prjilofopFjifdien, b. fy. ber aUegorifdjen Deutung 
in ein fdjimmembes (Bewebe Derfponnen. ZTun jlürste er per) — 
man muß pdf fo ausbrücfen — auf bie djriftlicrje Perfünbigung. 
€r würbe r>on ifyrer €rf}abenfyeit ergriffen; er beugte pdf vov 
3cfus Cffriftus als bem IDeltrjeilanbe; er bot biefer prebigt alles 
3um (Sefdjenfe an, was er befaß, alle Sd\a§e feiner Kultur unb 
feiner ZDeisljeit; aber gelten laffen follte pe es. 2lls bie Uferrfdjerin 
follte fte einsieden in eine fertige tüelt« unb Heligionslefyre, in bie 
Znyfterien, bie für fte bereitet waren. IDeldf ein Beweis für ben 
(Einbrucf, ben biefe prebigt gemacht rjat, unb weldj eine Per- 
fudfung! Diefer „(ßnofticismus" — fo nennt man bie Bewegung — , 
in einer 5üöe r>on Heligiouscrperimenten lebenbig, etablierte pd] 
unter bem Ztamen Crjrifti, empfanb audf manche djripiidje (ßebanfen 
fraftooll unb nadjrjaltig, fudfte bas nodf Ungepaltete 3U gehalten, 
$as äußerlich Unfertige absufdjltefjen unb ben gan3en Strom ber 
dfripiidfen Bewegung in fein Bett 3U lenfen. Die ZTCerfr^affl ber 
<Bläubigen, oon iffren Bifdföfen geleitet, ging auf biefe Perlocfungeu 
ritdft ein, fonbern narjm ben Kampf mit irjnen auf, über3eugt, ba% 
Bfier eine bämonifdfe Perfudjung laure. Kämpfen aber Fjiefc in 
-biefem Satte pdf abf elf ließen, b. rj. bie (Bremen bes (E^rtftltd^en mit 
fejier J^anb 3ierjen unb alles, was pdf nidft in irjnen galten wollte, 
für ffeibnifdf erflären. Der Kampf mit bem (ßnofticismus 
fyat bie Kirdfe genötigt, i^re £effre, irjren Kultus unb 
itfre Dis3iplin in fejle formen unb (ßefefec 3U faffen unb 
leben aus3ufdflicfjen, ber irjnen nidft (ßeiforfam leitete, i 
Xlberseugt, ba% pe überall nur bas Überlieferte fonf eruiere unb 
fdfäfee, Ifat pe feinen 2lugenblicf bavan gc3weifelt, ba% ber (ßeEjor- 
jam, ben pe forberte, nichts anbeves fei als bie Unterwerfung unter 
Scn göttlichen ZDillen felbft, unb ba% pe in ben teuren, bie pe beu 
Xßegnern gegenüber pellte, bie Religion felbft ausgeprägt Fjabe. 
Be3eidfnet man unter „fatifolifdf" bie Cerjr- unb (ßefeftesfirdfe, 
fo ip pe bamals, im Kampfe mit bem (ßnofticismus, entpanben. 

Qarnacf, Das Wefen bes Ctjrijlentums. 9 




I 



— 130 — 

Um ify\ absutücfyren unb 3U bcftcgcn, fyat fte einen teuren preis lallen 
muffen; faß fann man fagen: „Victi victoribus legem dederunt.'* 
Den Dualismus unb ben afuten Hellenismus fyat fic abgerocrjrt; 
aber inbem fte eine (Bemeinfdjaft mit einer ausgeführten Cerjrc, 
einem bejtimmten äußeren Kultus 2c. mürbe, narjm fie notgebrungen 
5ormen an, bie jenen analog nxtren, bic fic bei ben (Snoftifern 
befämpfte. TXlan tritt in bas Schema bes (Segners über, tx>enu 
man ftücFroeifc feinen Ojefen anbere entgegenfefet! Unb tmer>iel 
von irjrer urfprünglicrjen 5^eil|eit rjat fie eingebüßt! 3^fet mußte 
flc erflären: Du biß fein Cfjrifi, bu fannft überhaupt nierjt in Be* 
3tcf}ung 3U <5ott treten, toenn bu nidjt allem 3ur>or biefe teuren 
anerfannt, jenen (Drbnungen (Scfyorfam geleiftet unb bejttmmte Ver- 
mittlungen aufgefudjt rjajh 2ludj foll feiner irgenb ein religiöfes 
Crlebnis für legitim galten, bas nicfjt son ber richtigen £erpc 
approbiert unb von ben prieftern gutgeheißen ift. (Einen anbern 
Weg, anbere ZHittcl fanb bie Kirdje nidjt, um ftdi gegen ben 
(Snofticismus 3U behaupten, unb mos 3um Sdjufce nadj außen feft« 
geftetlt roorben war, trmrbe 3um paöabium, ja 3um 5unbamcntc 
im 3nnem. (Beroiß, biefe gan3e (EnttoicFlung roäre toaljrfdjemlicl} 
audj ofync jenen Kampf eingetreten — bie beiben t>on uns an 
erfter Stelle befprodjenen (Elemente fyätten fie aucrj herbeigeführt — , 
aber ba% fie fo rapib eintrat unb fiel? fo ftdjer, ja brafonifd? aus* 
geftaltete, ift eine 5olge bes Kampfes, in toeldjem es ftcrj um bic 
(Epjlen3 ber überlieferten Hcligion gerjanbelt l\at <San3 ab3uroeifen 
aber ift bie oberflächliche ZHeinung, ba^ ber perf online (Efyrgeis 
(Einiger bic (Sefefelicfjfeit unb bas gait3e prtcfterrü$fen begrünbet 
liabe. Bereits bas 2lusftrömen bes urfprünglidjen , lebenbigen 
Clements erflärt i^r 2luffommen lu'nreicffenb. La rnddioerite fonda 
l'autorite\ H)er bie Religion nur als Sitte unb (Scfyorfam tennt, 
ber fcfjafft ben priefter, um einen roefcntlicrjcn Ccil ber Verpflichtungen, 
bie er füfylt, auf iljn ablaben 3U fonnen; er fcfyafft audj bas <5cfcfc, 
benn ein (Befefe ift ben falben bequemer als ein (Evangelium. 

Die ZHomente, roclcfje bic große IDanblung herbeigeführt rjaben, 
rjabcu toir 3U ffi33tcrcn üerfudjt. £s erübrigt uns nodj, bic 3u>eitc 
5rage 5U beantworten: f}at fiel} bas (Epangelium unter bicfcni 
Züed)fel ber Dinge behauptet, be3ro. toie £^at es fidj behauptet? 
Daß es unter gan3 neue Perfjältniffe getreten ifl, ift bereits offen* 
bar; roir roerben fie aber nodj genauer rennen lernen muffen. 



ItojöIffE ©Drl£|mt0* 



XOev bie innere £age ber Cfyriftenfycit am Anfang bes dritten 
3afyrfjunberts mit ber ©ergleidjt, in ber fte jtdj \20 3öB|re supor 
befunden Ejat, roirb t>on fonträren <£mpfinbungen unb Urteilen he* 
toegt. ©nerfeits ftefyt er beiounbemb por ber fraftoollen Ceiftung, 
bie fidj in ber Sdjöpfung ber fatfyolifdjen Kirche barftellt, besonn* 
bernb audj cor ber (Energie, mit ber jtdj biefe Kirdje nacb allen 
Seiten ausgebaut unb betätigt fyat, anbererfeits ©ermißt er mit 
(Teilnahme fo t>ieles Unmittelbare, 5reie, aber innerlich (Sebunbene, 
roas bie ältefte £>t\t befaß. <£r muß banfbar fonftatieren, bafa 
biefe Kirdjc alle Derfudje, bie djriftlidje Heligion einfach in bic 
geitoorfteßungen 3erflicßen 3U laffen, abgetoefyrt unb ba% fie fxd? 
roiber bic „afute f}ettenificrung" gefdjüfct fyat] aber er fann bod\ 
nidjt oerfennen, ba$ jlc einen fyofyen preis für ifyre Selbftbeljaup* 
tung be3afylen mußte. IDir toollen bie Peränberung, bie fidf an 
ifyr »otogen l\at unb bie nrir fdjon berührt liaben, nod] etwas 
genauer feftftellen: 

\* 3nt Porbergrunb ftefyt bie (ßefäfyrbung ber Sveityit unb 
Selbftänbigfeit in ber Religion. Keiner foll pdf als (Qn-ift, b. fy 
als (ßottesfinb, füllen unb beurteilen bürfen, ber nidjt 3Udot feine 
religiöfe (Erfahrung unb (grfenntnis ber Kontrolle bes firdjlid?eu 
23efenntniffes unterworfen fyat Dem „(Seift" pnb bie engften 
Sdjranfen ge3ogen, unb es roirb ifym ©erboten, 3U toirfen roo unb 
wie er toill. 3<* nodj mefyr, ber einselne foll, befonbere 5alle ab- 
gerechnet, nidjt nur mit ber Unmünbigfcit unb bem ftrdjlidjen <ße* 
fyorfam anfangen, er foll aud) nie gan3 münbig roerben, b. fy. er 
foll bic 2lbEjängigfeit oon ber Cefyrc, bem priefter, bem Kultus unb 



— 182 — 

bem „öudj" niemals verlieren. Was wxv nodj fyeute fpesifxfd)» 
fatljolijdie 5römmigfett im ttnterfdjieb pon epangelifdjer nennen, 
Ijat bamals feinen Urfprung genommen, Die Unmittelbarfeit ber 
Heligion Ijat einen Sprung befommen, unb bem einzelnen ift es 
aufjerorbentlidj fdjtper gemacht, fie für jidj tpieber ^er3ujlellen. 

2. Die afute J^eüenifierung ipurbe abgetpefyrt, aber ber grie* 
d]ifdi«p^üofop^ifd|e (ßebanfe, ba% bie roafyre Heligion in erjter £inie 
„Cefyre" fei unb 3toar Ccljre, bie jid) über ben gefamten Kreis bes 
IDtjfens erjhrecfe, fanb immer mefyr (Eingang in bie (Efyrifienrjeit. 
<£s lag getPtß barin ein Setpeis für bie innere Kraft ber d)ri(t* 
liefen Heligion, ba% biefer (ßlaube „ber Sflapen unb alten IDetber" 
bie gan3e gricdjifdje <5olt«Züelt«pBjilofopliie an jidj 30g unb als 
feinen eigenen 3nfyalt ur^ufdjmelsen unb mit ber prebigt pon 
3efus C^rijhis 3U pereinigen unternahm; aber eine Perfdjiebung 
bes (ßrunbintereffes ber Beligion unb eine ungeheure Belaftung 
mußten bie Soige fein. Die 5*<*ge: „VOas muß idj tfyun, ba% idi 
feiig rperbe", bie 3cfus C^riftus nnb bie 21poftel nodi fefyr fur3 3U 
beantworten vermochten, erhielt nun eine fefyr roeitläufige Slnttport, 
unb motten audj bie £aien nodf mit fü^eren 2lnttPorten bebadit 
tperben — in bem Zfiafce galten fie als bie Unpollfommenen, bie 
auf ben (Befyorfam ben XDiffenbcn gegenüber angeteiefen feien. 
Die djrtftüdje Heligion tjat fdjon bamals jene £idjtung auf ben 
3nteUeftualismus erbalten, bie ifyr in ber 5olge3eit geblieben ift 
XDenn jte jtdj aber als ein „lang, breit ausgereeft Ding" barftellt, 
als eine fdjrpierige unb tpcitfdjidjtige £e^re, fo ijl fie nidjt nur 
belaftet, fonbem iljr (Ernft btot\t audf 3U fdjrpinben; biefer ^aftet 
baran, bajg bas er fdjütter nbe unb bas befcligenbe (Element unmittel« 
bar 3ugänglidj erhalten urirb. (ßetpiß Ijat biefe Heligion ben (Trieb 
in jidj, ftdj mit aßen (Erfenntniffen unb mit bem gefamten geiftigen 
Heben auseinanbersufefeen, aber toenn bas, was ljier getponnen 
roirb — porausgefefet felbft, es entfprädjc ftets ber ZDirflidtfett unb 
tDafyrfyctt — , für gleidj perbinblid] gilt roie bie epangelifdjc 23ot* 
fdjaft ober gar für iBjre Porausfcfeung, fo leibet bie Heligion 
Sdiaben. Diefer Schabe iji bereits am Anfang bes 5. 3^rljun« 
berts unperfennbar, 

3. Das Kirchen infti tut erhielt einen befonberen, felbfränbigeu 
XDert; es tpurbe 3U einer religiöfen (Sröße. ttrfprünglidi lebig« 
lidj 21usgeftaltung ber Srubergemeinbe, Stätte unb Sorm für bie 
gemein famc (ßoUespcrerjrung, unb gefyeimnispolle Slbfdjattung ber 



. — 133 — 

In'mmlif djcrt Kirche, txmrbe es nun als 3 n fH t u t 3U etwas Unum- 
gänglichem in ber Hcligion. 3n biefes 3 n ft i t u t, fo lehrte man, 
Ijat ber (Seift <£fyrij!i alles hineingelegt, tr>as ber ein3elne bebarf; 
er iji besfyalb nicfyt nur in ber £iebe, fonbern audj im (ßlauben 
gan3 an basfelbc gebunben; ber (ßctft roirft nur ljier, unb alle feine 
(Snabenqaben finb bafycr nur In'er 3U finben. T)a§ in ber Hegel 
ber einjelne £fyrij!, ber ftdj nidjt bem firdjlidjen 3 n itftat unter« 
orbnete, ins £}cibentum 3urücffiel, in fdjlimme 3^^1e^ren geriet ober 
unjxttlidj tourbe, u>ar freiließ eine tEfyatfadje. 5ie ^atte im Stammen- 
fjang mit bem Kampf gegen bic (ßnofh'fer bielPirfung, bafy jenes 
3nftitut famt allen feinen (Einrichtungen unb 5ormcn mefyr unb mefyc 
mit ber „Braut C^rtjii", bem „tDafyrcn 3enifalem" u.f. vo. ibenti- 
friert u>urbe unb pdf bcmgemäfc felbfl als bic unantajtbare Schöp- 
fung (Softes unb als bie irreformable 2tnjtolt bes ^eiligen (Seiftcs 
proflamierte. 5olgcrcdjt begann es, alle feine 2lnorbnungen für 
gleich heilig aus3itgeben. tDcldje 23elaftung bie 5teil)eit ber Heli* 
gion baburdj erlitt, braucht nicfyt ausgeführt 3U »erben. 

%. (Enblidj — es ijt im 3tx>eiten 3<*tröunbert bas <£r>angelium 
nidjt mit berfelben Kraft roie im erften als frofye 23otfcfjaft ©er* 
fixnbet roorben. Die (5rünbe bafür finb mannigfacher 21rt ge- 
toefen, teils wat bas eigene (Erlebnis nicfyt fo jtorf, u>ie es ein 
paulus unb tote es ber Perfaffer bes vierten (Evangeliums em« 
pf unben fyat, teils blieb bie porfycrrfcficnbe esdjatologifdje (Erroartung, 
bie jene Cefyrer burefj eine tiefere prebigt bcfdjränft Ratten, burdj« 
fdjlagcnb. 5urd?t unb fjoffnung treten in bem Cljriftentum 
bes 3ix>eiten 3al?rfyunberts ftdrfer fyeroor als bei paulus, unb nur 
fdjeinbar fielet jenes bamit ben Sprüchen 3 c f u näljer als biefcs; 
benn in ber Perfünbigung 3efu ift, tt)ie roir gcfcfyen Ijabcn, bie 
prebigt von (Sott als bem Pater bas £)auptftücF. Das ijl aber, 
toie Hörn. 8 betoeift, eben bie (ErFenntnis, bic paulus in feiner Per- 
fünbigung com (Slauben 3um 21usbru<£ gebracht Ijat. 3 n & c nt nun 
in bem <0}rißcntum bes 3tr>eiten 3<*l?rf}unberts bie 5urd)t einen 
größeren Spielraum erhielt — unb biefer Spielraum erweiterte fiel}, 
je mefyr ftdj bie urfprünglicfye Cebenbigfeit abftumpfte unb bie 
ZDcltförmigfcit ftärfer um ftcfj griff — , tourbe bie (Etfjif unfreier, 
gcfefelidjer unb rigorijtifdjer. Der Rigorismus ijl ja jlets bie Kcljr- 
fette ber IPeltlidjfeit. Da es aber unmöglich erfdu'en, eine rigo* 
rtftifdje (Etlu'f allen 3U3umuten, fo fteflte ftcf? fd)on in bem toerbenben 
Kat^oIi3ismus bie Unterfcfyeibung einer t>ollfommenen unb einer 



— 134 — 

eben nodi ausreidjenben Sittlidjfeit ein. 7>a% bie Wmc$eln biefer 
Unterfdjeibung nodi roetter 3urücfreid}en, fann Bjier auf ftcrj berufen 
bleiben; perfyängnispod ift fte erft gegen <£nbe bes 3rt>citcn 3<*fc* 
fpinberts getporben. 21us ber TXot geboren unb sur (Eugcnb ge« 
madjt, rourbe fte balb fo roidjtig, bafc bie €rjften3 bes Cb k riftentums 
als fatrjolifdfer Kirdfe von irjr abging. Die ©nrjcitlidifeit bes djrift* 
lidjen 3beal5 mürbe burd] fte pertpirrt unb eine quantitatipe 3c« 
tradtfung ber jtttlidfen Cetßung narje gelegt, bie bas fipangelium 
nict|t fennt. XPobfl unterfdjeibet es ftarfen unb fdiroadjen (51auben 
unb größere unb geringere ftttlicrje Ceiftung, aber ber (Seringfk im 
Heidie (Sottes fann in feiner 21rt pollfommcn fein. 

3n biefen ZHomenten 3ufammen finb bie roefentlicr/en Pcränbe* 
rungen be3eicfonet, roeldje bie dirifllicr/e Hcligion bis 3um Einfang 
bes britten 3<*fy^unberts erlebt tjat unb burcrj meldte fte mobiföicrt 
roorben iji JE?at ftd] bas fipangelium bennoeb, behauptet, unb roie 
lagt pdf bas fonftatteren? Zlun, man vermag auf eine gan3e Heifye 
von Urfunbcn 3U perroeifen, bie, foroeit gcfdjriebenes XDort ein Zeug- 
nis pom inneren, roafyrrjaft djriftlicrjen Cebcn ablegen fann, biefes 
aufs reinfte unb in ergreifenber IDcife befunben. 3" 2Härtyrer* 
aften roie bie ber perpetua unb 5elicitas, ober in (Scmeinbebriefen 
roie ber pon €yon nad\ Kleinaften, fpridjt per/ ber dirifUidje (Slaube 
unb bie Kraft unb 3<*rtfyeit ber ftttlidjen fimpfinbung fo r/errlicb, aus 
roie nur in ben Sagen ber (Srunblegung; alles bas aber, roas ftdj 
feitbem in ber äußeren 21usgeftaltung ber Kirdje ponogen fyatte, 
fommt gar nidjt 3um 2lusbrucf. ©er XX)eg 3U (Sott ifi fkfjcr gc« 
funben, imb bie fiinfalt bes inneren £ebens erfdjeint nidtf pereoirrt 
ober belaftet. Zlefymen roir ferner einen Sdjriftftelier roie ben d\rifi* 
liefen Heligionsprjilofoprjen Clemens 2Ueranbrmus, ber um b. 3» 200 
gelebt fyat. 2ln feinen Scr/rtfien empftnben roir noch, jefct: biefer 
(Belehrte — obgleich gan3 eingetaucht in Spefulationen unb als 
Genfer bie djrtftlicbe Heligion in ein uferlofes UTeer pon „Cebren" 
perroanbelnb, Hellene bis in bie lefete 5«fer — fyat bodi an bem 
(Eoangelium 5nebe unb 5*eube geroonnen, unb er permag audj aus« 
3ufpredien, roas er geroonnen fyat, unb fann 3eugen pon ber Kraft 
bes lebenbigen (Sottes. <£r erfdfeint als ein neuer ZHenfd? unb ift 
burdj alle pfyilofoprjie, burdj Autorität unb Spefulation, burd? bie 
gan3C äußere Heligion rjinburdigcbrungen 3ur fyerrlidjen 5reirjctt 
ber Kinber (Sottes. 2Hles, fein Porfefyungsglaube, fein (Slaube an 
tbnftus, feine 5reib.eitsleb.re, feine <£tfyf, ift in XDorten ausgebrücft, 



— 135 — 

bie ben (Sriedjcn 3cigen, unb alles ift bodf neu unb wafyrfyaft djrifi- 
lief}. Dergleidjt man ifyn aber weiter mit einem <£rjriftcn gan3 anberen 
Schlages, nämlidj mit feinem dfcügenoffen CertuIItan, fo ift leidet 
3u 3eigen: was ifynen in ber Beligion gemeinfam ift, 
ift bas, was fie am <£oangelium erfahren liabzn, ja 
ifi bas <£oangelium felbft. Unb roenn man CertuBian's 
Auslegung bes Daterunfer lieft unb überbenft, fo erfennt man, ba§ 
biefer heißblütige Slfrifaner, biefer ftrenge Kefcerbejtrciter, biefer ent* 
fdjloffene Vertreter ber „auetoritas" unb „ratio", biefer reditfyaberifdje 
2lbDofat, biefer Kirdjcnmann unb <£ntfyujtajt 3ugleid? — bod? ein 
tiefes (Sefüfyl für bie fjauptfadje im (Eoangelium unb aud? eine 
gute (Erkenntnis besfelben befeffen fjat. Diefe altfatrjolifdje Kirche 
fyat bas <£t>angelium wafyrlid? nodf nidjt erbrüdt! 

lüeiter, fie fyat aud? nodj ben entfdjeibenben <5cban!en, ba% 
ftdj bie djrifHidje <5emeinfdjaft als roerftfjätiger Sruberbunb bar« 
ftellen muffe, in Kraft erhalten unb in einer bie folgenben <5ene* 
rationen in ber Kirdje befdjämenben lüeife 3um SlusbrudP gebracht. 

Cnblidj, barüber tann fein S^eifel fein, unb ein fo wafyr* 
fjeitsliebenber Ztlarxn wie (Drigenes betätigt es uns, aber audj fyeib- 
nifdje Sdjriftfteller, wie £ucian, be3eugen es: bie Hoffnung eines 
ewigen Cebcns, bas oolle Vertrauen auf (Efyriftus, (Dpferwilligfeit 
unb Sittcnrcinfyeit, trofe aller SdjtDäcfyen, bie audf in'er nid?t fehlten, 
waren nodf immer bie wir flicken ZTTcrfmale biefes 23unbes. 
(Drigenes fann feine fyeibnifdjen (5egner aufforbern, fie mögen bodj 
irgenb eine Stabtgcmeinbe mit einer (Efyriftengemeinbe Dergleichen 
unb urteilen, wo bie größere fittlidie Cüdjtigfeit 3U ftnben ift, (Sewiß, 
um biefe Heligion Ratten fid) bereits eine Schale unb ein ZTTantel 
gebilbet; es war fdjwerer geworben, 3U ifyr felbft burefoubringen 
unb ben Kern 5U erf äffen; fie liatic audj manches oon ifyrcm 
urfprünglidjen Ccben eingebüßt. 2lber bie (5aben unb Aufgaben 
bes <£oangeliums würben nodj immer in Kraft erhalten, unb ber 
Aufbau, ben bie Kirdje um biefe ge3immert fyatte, bientc bod? audj 
Zflandiem als Stufen, auf benen er 3ur Sacr^e felbft gelangte. — 

Xüir gefycn weiter unb betrachten nun 

3xz rfjrtßlidjB Uteligüm im grtBtfjtfdjBn JaafFjolijtsmits. 

3dj muß 5ie aufforbern, fofort mit mir um piele 3afp:ttunbcrto 
fymmter3ufteigcn unb bie griedjifdje Kirdje 3U betrachten, wie 



— 136 — 

fte ijeute ift unb toie fte fidj fdjon feit rnefy: als einem 3<*^taufenb 
u?efentlid} um>eränbert behauptet. IDir feigen 3n>ifdjen bem dritten 
unb bem neun3efynten 3a^rljunbert in ber Kird}engefd}id?te bes 
©rients nirgenbcoo einen tiefen fiinfdjnitt. €ben besfyalb bürfen 
t»ir unfern Stanbort in ber (ßegencoart nehmen. IDir jteflen aber 
roieberum folgenbe brei fragen: 

Was t)at biefer griedrifd?e Katttotyismus geleitet? 

IDoburd? ift er d?araftcrt(iert? 

Xüic ijt bas €&angelium in ifym mobifoiert n>orben, unb wie 
fyat es ftdj behauptet? 

\. Was Bjat biefer griedjifdje KatfyoÜ3ismus geleijkt? ZTCan 
barf fyer auf ein Doppeltes oertoeifen: (Erfiltdi, er fyat in bem 
großen <5ebicte, meines er einnimmt, in ben £&nbern bes öjHicfyen 
ZTlittelmeers unb hinauf bis ans €ismeer, bem fjeibentum unb bem 
Polytheismus überhaupt ein &nbe gemacht. Der entfdjeibenbe Sieg 
fyat fxd\ com 3. bis 3um 6. 3<*fcfyunbert ponogen unb fo coli- 
3ogen, ba% bie (Sötter <5ried?enlanbs roirfliii untergegangen finb, 
fang- unb flanglos untergegangen. Ztidjt in einer großen "Kata* 
Propre, fonbern ofyte einen erfyeblidjen Xüiberjlanb 3U leiften, finb 
jte an €nt!räftung geworben. Daß fie einen beträchtlichen Ceti 
tyrer Kraft oorfyer ben firdjlidien ^eiligen abgegeben liaben, mag 
Bjier nur angebeutet fein. ZTTit ben (ßöttern, unb bas voiH meijr 
fagen, ift aber aud> ber Heuplatonismus, bie lefcte große Üjeroor» 
bringung bes griedjifdjen pfylofopfyifcfyen (Seines, überit>unben a>or» 
ben. Die firdjlidje Beligionspfyilofopfye erroies ftdt jtärfer als biefe. 
Der Sieg über ben Hellenismus ijl eine (Sroßtfyat ber ößlidjen 
Kirche, oon ber fte nod\ immer 3efyrt. groeitens, biefe Kirche 
ijat es ocrjtonben, jtdj mit ben chi3elncn Dölfern, bie fie in ftcf^ 
fyneinge3ogcn fyat, fo 3U rerfd^me^en, ba% xtyien Heligion unb Kirche 
3U nationalen paüabien geworben finb, ja 3U b e n pallabien. (5e^en 
Sie 3U ben (Sriedjcn, 3U ben Muffen, 3U ben Armeniern 2C. — 
überall »erben Sie finben, baß Kirche unb Dolfstum nidjt 3U trennen 
finb, unb ba^ bas eine (Element nur in unb mit bem anberen e^ijttcrt 
5ür ifyre Kirche laffen fidj bie Angehörigen biefer Stationen, wenn es 
fein muß, in StüdPe bauen. Das ift nidjt nur bie 5olge bes Drucf es ber 
feinblidjen ZTTadjt bes 3slam; audj bei ben Buffen, bie boefy nidjt 
unter biefem Drucfe fielen, ift es nidjt anbevs. Wxe innig unb fcjt 
bas Derfyältnis 3t»ifdjen Kirche unb Dolf bei ifynen ift, trofe ber„Seften", 
roelcfye aud? fyer nid}t fehlen, lefyrt nic^t ett»a nur bie mosfountifdie 



— 137 — 



preffe; man mufc — um ein Seifpiel Bjeraus3ugreifen — bie „Dorf- 
gefdiidtfen" tEolftoi's lefen, um ftdf bavon 3U über3eugcn. IDafcjr« 
fyaft ergreifenb tritt bem Cefer Ijier entgegen, roie tief bie Kirche 
mit ifyrer prebigt com <£tx>igen, von ber Selbftaufopferung, bem 
XHitleiben unb ber Srüberlidjfeit in bie PolFsfeele eingebrungen ift. 
Die niebrige Stufe, auf welcher ber Klerus fielet, unb bie Z!Ti§' 
adjtung, mit ber ifyn t>ielfadj begegnet toirb, bürfen barüber nidjt 
täufdjen, baß er als Hepräfentant ber Kird?e eine ura>ergleid?lidf 
fjofye Stellung einnimmt, unb bas 3beal bes ZlTönditums fyaftet tief 
in ber Seele ber öftltdjen Dölfer. 

3»t biefen beiben IHomenten ijt aber audj erfdjöpft, roas jtdj 
über bie £cijlungen biefer Kirche fagen läfjt. IDenn man fyi^u* 
fügt, jte liabe eine getoiffe Silbung ©erbreitet, fo muft man fd>on 
einen fefyr geringen ZTTafcjtob anlegen. 2ludj iji ifyr bem 3slam 
gegenüber bas nidjt mefcjr gelungen, roas fte bem Polytheismus 
gegenüber erreicht Bjat unb nodj immer erreicht. Diefen übertoinben 
bie ZHifftonen ber ruffifdjen Kirche audj fyeutc nod?; an ben 3slam 
aber ftnb große <5ebiete verloren gegangen, nnb bie Kirche Ijat jte 
nidjt roieber erobert. Der 3slam ift ftegreidj bis an bas abriatifdje 
ZHeer unb nadt Bosnien oorgebrungen; er fyat 3afylrcidje albancftfdje 
unb flatnfdje Stämme, bie einft djriftlidf toaren, für ftdj gewonnen. 
<£r 3cigt ftdj biefer Kirche gegenüber minbeftens gerr>ad}fen, wenn 
audt nidjt ©ergejfen »erben barf, ba% im £jer3en feines (Sebietes 
djriftlidje Stationen ifcjr 23efenntnis feftgcfyalten liaben. 

2. IDoburdj ift biefe Kirche djarafterijicrt? Die 2lntoort ift 
ntdit leidet; benn biefe Kirdje tjl, roie fte ftdj bem 23efdjauer barjleüt, 
ein ijödjjt fomplijiertes /Sebilbe. Die €mpfinbungen, bie Super« 
ftitionen, bie Crfenntnijfe unb bie Kultustoeis^eit x>on 3<*Wunberten, 
ja von 3<*fyrtaufenben ftnb in fte eingebaut. 2lbcr t»ettcr, roer biefe 
Kirche x>on aufyn betrachtet mit ifyrem Kultus, ifyrem feierlichen 
Hitual, ber 5ülle ifyrer Zeremonien, ifcjren Heliquien, Silbern, priejlern, 
TXlöndien unb i^rer lHYJ!erienu>eis^eit, unb fte bann einerfetts mit 
ber Kirdfe bes \. 3<*fa*iunberts, anbererfeits mit ben fycllcnif dien 
Kulten in ber 3$it bes Zteuplatonismus rcrgleidjt — ber muß ur- 
teilen, ba% fie nidjt 3U jener, fonbem 3U biefen gehört Sie er* 
fdieint nidjt als eine djrifUidje Schöpfung mit einem 
griedjifdjen <£infdjlag, fonbem als eine griedjifdje 
Schöpfung mit einem djrijUidjen €infdjlag. Die (Ojriften / 
bes exfien 3afy^unberts würben fte cbenfo befämpft Bjabcn, u?ie jte ' 



/ 



— 138 — 

bcn Kultus ber Vflagna ZHater unb bes geus Soter befämpftcn. 
5ür un3ät}lige (Elemente in biefer Kirche, bie ebenfo heilig eradjtet 
toerben tme bas (Evangelium, giebt es in bem älteren <£fyriften« 
tum nidrt einmal einen 2lnfa$punft. 2JTit bem gan3en Dolljug bes 
fjauptgottesbienftes, ja felbft mit üielen bogmatifdjen CeBjren ftef?t es 
fdjließlid? nidjt anbersrman jfceidje einige IDorte, n>ie „(CEnrifhts" 2c. 
fyeraus, unb nichts erinnert mety: an bas ttrfprünglidfe. Dicfe 
Kirche iß als (ßefamterfdjeinung nadj aufcen lebiglid? eine 
^ortfefeung ber griedjifdjen Heligionsgefdjidjte unter bem 
fremben ©nflug bes (Eljrtftentums, roie ja fo oiel 5^embes auf 
fte eingetoirft l\at. ZtfLan tonnte audj fagen: biefe Kirche ijl als 
äußere Kirche bas ZTaturprobuft be* Perbinbung bes felbft fdjon 
orientalifdj 3erfefeten (ßriedientums' mit ber djrijWidien prebigt; fte 
ift bas, n>as bie (ßefdn'djte auf „natürlichem" Xüege aus einer 
Religion madit, be3tt>. u>as jte 3u>ifdfen bem 3. unb 6. 3afyr£}unbert 
aus üjr machen mußte — in biefem Sinne ift ftc natürliche 
Rgligton. Unter biefem Segriff fann ein Doppeltes xTerflanben 
toerben: getDÖBjnlidi x>erfteBjt man unter ifym etwas Slbftraftes, 
nämlidj bic Summe ber elementaren Cmppnbungen unb Vorgänge, 
u>eldje in allen Religionen nadjroeisbar ftnb. (Es ift inbes fraglich, 
ob es foldjc giebt, be3». ob fte fo beutlidj unb feft ftnb, ba% fte 
sufammcngefajjjt toerben fömten. Keffer gebraucht man ben Segriff 
„natürliche Religion" für bas (Enbprobuft einer Religion, toeldjcs 
entftanben ift, nacfybem bie „natürlichen" Kräfte ber (Sefdn'djte iljr 
Spiel an tfyr beenbtgt Bjaben. Dicfe finb überall im legten (ßrunbe 
biefelben, toenn audj in ben 2luf3Ügen serfdn'eben, unb fte bilben 
ftdj bie Religion, bis jte ifynen bequem lieejt: fjeiliges, <£fyrfurd?t» 
gebietenbes unb bergleidjen ftoßen fte nidjt aus, aber fte toetfen 
ifynen ben plafe unb ben Spielraum an, ben jte für ben richtigen 
galten, unb ftc tauchen alles in ein einheitliches RTebium, jenes 
RTebium, toeldjes tüte bie £uft bie erfte Bebingung ifyrer „natür» 
liefen" C^iftens ift. 3u biefem Sinne nun ift bie griedn'fdje Kirche 
natürliche Religion: fein propfyet, fein Reformator, fein (Senius 
iiat in ifyrer töefdjidjte feit bem 3, 3ö^rt?unbert ben natürlichen 
2lblauf ber (Einbürgerung ber Religion in bie gemeine (ßefdn'djtc 
gehört. Diefer Ablauf toar im 6. 3alFfyunbert beenbigt unb behauptete 
ftdj im 8. \xnb <). 3<*fyrfyunbert gegen ftarfe Angriffe ftegreidj. Seit« 
bem ift Rufye eingetreten, unb ber bamals erreichte «guftanb ift nidjt 
roefentlidj, ja nidjt einmal unroefentltd? me^r geänbert toorben. 



— 139 — 

2lugenfchcinlich l\aben bie DÖlfer, roeldje biefer Kirche angehören, 
feitbem nichts erlebt, tpas fte ihnen unerträglich unb reform« 
bebürftig erfdjeinen ließe« Sie perharren bafyer noch immer bei 
biefer „natürlichen" Bcligion bes 6. 3ahrhunberts. 

Tibet mit Bebacht fyabz ich von ber Kirche in ihrer äußeren 
<£rf Meinung gefprodjen. £s gehört mit 3U ihrem fompÜ3ierten 
(Efyarafter, ba% man aus bem Süßeren nicht einfach auf bas 3nnere 
fdjließen fann. <£s genügt bafyer nicht, bie richtige Beobachtung 
aussufpredjen, biefe Kirche gehöre in bie griedjifcfye Beligionsge- 
fdjichte. Sie übt bodj lüirfungen aus, bie nicht leicht von t|ier 
aus perjtonben roerben tonnen* XO'w muffen, um ftc richtig 3U 
uoürbigen, näher auf bie (Elemente eingeben, bie fic djarafterifteren. 

Suerft begegnen uns ljicr bie ^Erabition unb ber (Schorf am 
gegen fte. Das ^eilige, bas <5öttlid?c ift nicht in freien lüir* 
hingen Porhanben — toeldje (Einfdjränfungen biefer Sa% erleibet, 
merben von fpäter fefyen — , fonbern es ijl aufgefpeidjert in 5orm 
eines ungeheuren Kapitals. 21us biefem Kapital ift alles 3U ent« 
nehmen, unb es tpill genau fo ausgemü^t fein, tx>ie bie Däter es 
ausgemün3t haben. (Einen gettnffen SInfaftpunft für biefen <5ebanfen 
bietet allerbings fdjon bie ältefte Seit. IDir lefen in ber 2lpojtel» 
gefliehte : „Sie blieben in ber Slpoflel Cehre." Was aber ift aus 
biefer Übung nnt> Verpflichtung geworben? (Erftlich, es ift alles 
als „apoftolifdj" be3eicb.net tporben, tx>as fid? im £aufc ber nächften 
3ahrhunberte biet angefefet hat; ober vielmehr: roas bie Kirche 
nötig 3U fyaben glaubte, um jtch ber gcfdjichtlichen Cage ansupaffen, 
bas nannte fte apoftolifch, toeil ftc ohne basfelbe nicht ejiftieren 3U 
fönnen meinte, unb — was für bie <££iftcn3 ber Kirche nottoenbig 
ift, muß eben apoflolifch fein. Zweitens, es ift als unper brüchliche 
(Erfcnntnis feftgeftellt tporben, ba^ bas „Bleiben" im SIpoftoltf djen 
jtch in erfter £inie auf bie pünftliche Befolgung aller rituellen 
2lnn>eifungen besieht; bas ^eilige h a fte* <™ &em XDortlaut unb 
ber 5orm* Beibes ijl nun burchaus antif gebacht. 2)aß bas 
(Söttlidje fo3ufagen binglich aufgefpeidjert ift, unb ba% bie (Sottheit 
por allem bie pünfilidje Einhaltung eines Hituals perlangt, ipar in 
ber 2tntife ber geläuftgfte unb fidjerfte (Sebanfc. Die Crabition unb 
bie Zeremonie ftnb bie Bebingungen, unter benen bas ^eilige allein 
ejifticrte unb 3ugänglich tpar. (ßehorfam, Befpeft, pietät toaren 
bie tPtchtigjten Beligionsempfmbungen; geipiß finb ftc ber Heligion 
unperäußerlich, aber nur als Begleiterfcheinungen einer lebenbigen 



— 140 — 

€mpftnbung gan3 anberer 2lrt l\aben fte einen religiösen IDert, 
nnb babei ift nodf porausgefefet, 6ag bas ©bjeft ein würbiges ijl 
Der Crabitionafismus nnb ber mit ifyr eng oerbunbenc Hitualismus 
diarafteriftcren bie griedjifdje Kirdje in f}eroorragenbem TXlafce, aber 
eben baraus gcBjt fyeroor, wie fefyr fie ftcf? oon bem €r>angelium 
entfernt rjat. 

Das 3 weite Stücf, welches bic (Eigenart biefer Kirdjc be* 
ftimmt, iß ber IDert, ben fie auf bic (DrtBjoborie legt, auf bie 
richtige Cefyre. Sie fjat biefe Cefyre aufs genauere ausgebilbet unb 
umfdirieben, unb fte fyat fte oft genug 3um Sdfrecfen anbersgläu« 
biger ZHenfcfyen gemacht. Xlnv wer bie richtige Cefyre fyat, fann 
feiig werben, wer fie nidjt $at, ift aus3uftojjjen unb foH aller Zledite 
oerluflig ge^en; ift er ein Polfsgenoffe, fo foH er wie ein 2lusfäfciger 
befyanbclt werben unb jeben Sufammenrjang mit feiner Station 
perlieren. Diefer 5anatismus, ber audj Bleute nodf fyier unb bort 
in ber griedjifdjen Kirche emporlobert nnb prin3ipiett nidjt aufge* 
gegeben ift, ift nid^griecrjifdi — obgleidj eine gewiffe Steigung nadt 
biefer Seite ben alten (Sriedjen nidjt gefehlt Bjat — , er ift nod* 
weniger vdmtf£i*xeditlidien Urfprungs; er iß rielmerjr bas probuft 
mehrerer 5<rftoren, bie in unglüdPiicrjer Pereinigung auftraten. 211s 
bas römifdjc Heidj djrifttid? würbe, war ber fdfwere <£riften3fampf 
ber Kirche mit ben <5noftifern nodj nidft rergeffen; nodj weniger 
waren bie lefeten blutigen Verfolgungen ber Kirche pergeffen, bie 
ber Staat in einer 21rt pon Dcr3weiflung perr/ängt fyatte. Bereits 
biefe beiben ZtTomente crflären es, wie bie Stimmung, ein 2led}t 
auf Hcpreffalien 3U \\aben \mb 3ugleidj bie fjäretifer unterbrücfcn 
3u muffen, in ber Kircr/e auffam. Hun aber trat noer* an fyödjfter 
Stelle bic orientalifer/e abfolutijttfdje 21uffaffung pon bem unbe- 
fcr)rän!ten Hecrjt unb ber unbcfdjränften pflidjt bes ^errfebers 
feinen „Untertanen" gegenüber feit Diofletian unb Konftantin 
E|in3U.~ Das war ja bas Derfjängnispolle bei bem großen Umfdjwung 

. ber Dinge, baß ber römifdje Kaifer bamals gleichzeitig unb faft in 
einem ZHoment djriftltdjcr Kaifcr unb orientalifdier Defpot 

'. geworben ifi 3* gewiffenljafter er nun war, befto intoleranter 
mußte er fein; benn ifym fyat bie (Sotttjett nidjt nur bic Ceiber, 
fonbern audj bie Seelen übergeben. So entftanb bie aggreffbe unb 
abforptioe (Drtfyobo^ie bes Staats unb ber Kircrjc ober rnelmerjr 
ber Staatsfircrje; altteftamentlidje Beifpiele, bie immer 3ur ^anb 
finb, pollenbeten ben pro3eß unb gaben üjm bie IDeifye. 



— 141 — 

Sic 3nto(erau3 ifl etwas Heues auf bem Sobcn ber <5ried]en 
unb fann ifyicn nidjt einfadj 3ur Cafl gelegt roerben; aber rote 
bie £efyre ausgebilbet umrbe, nämlidi als große <5otMDelt*pBn'lo« 
fopln'e, bas ift unter ifyrem ©nfluß gefdjefyen, unb bajjj bie Heligion 
überhaupt mit ber Cefyre gerabesu ibentifeiert u>orben \% ijt eben« 
falls ein XDerf ifyres (Beifies. Alle X}intr>eife auf bie Bebeutung, 
tpeldjc bie £efyre fdjon im apoftolifdjen gettalter befeffen fyat, unb 
auf bie Anfäfee, jte in fpefulatioc 5orm 3U bringen, genügen B}ter 
ntdjt. Sic ftnb Dielmcfyr, roie \d\ in ben früheren Dorlefungen ge« 
3cigt 3U Ijaben fyoffe, anbers 3U Derjtefyen. Der 3tttelleftualismus 
ijebt erft im 2, 3a^*inbert bei ben Apologeten an unb, unterftüfet 
burdj ben Kampf gegen bie (Snoftifer unb burdj bie alejanbrinifdjcn 
Heligionspt|ilofop^en ber Kirche, feftt er ftdj burdj. 

<£s genügt aber nidjt, bie £efyre ber griedjifdien Kirdje nur 
nadi xbjcex formalen Seite 3U roürbigen unb 3U fonjiatieren, in 
rocldjer Art unb in roeldjem Umfang fte jtdj barjkllt unb roie fyod} 
fte geroertet tr>trb. Xüir muffen audj fadjlidj auf jte eingeben; benn 
fte bejtfet 3u>ei (Elemente, bie ifyr gan3 eigentümlich jtnb unb fic 
von ber griediifdjcn Beligionspfyilofopin'e unterfdjetben — ben 
Schöpf ungsgeban^en unb bie Cefyre von ber (ßottmenfdjfyeit 
bes €rlöfers. Von xfyxen roerben it>ir in ber nädjfien Porlefung 
B^anbeln, ferner x>on ben beiben anbeten (Elementen, tr>eldje bie 
griedu'fdje Kirche neben ber Crabition unb ber Cefyre diarafterifteren, 
nämlid] bem Kultus nnb bem Znöndjtum. 



tyxzvpfyxiU Borlefung* 



VO'xt fyoben bisher feftgefteüt, ba§ ber gricdfifdje Katfyoli3ismus 
als Bcligion burdj $mei demente djaraFterijkrt tft, burdj ben (Erabi» 
ttonalismus unb ben 3"telleftualt5mus. 2Tadj bem (Erabi* 
tionalismus ift bie pietätst>olle unb jebe Steuerung abmefyrenbe 
Betrauung bes überlieferten <£rbes nidjt nur etwas IDidjtiges, 
fonbern bereits bie Betätigung ber Beligion felbjl. Das ijt gan3 
antif gebadjt unb ifl bem (Eoangclium fremb; benn biefes roeijjj 
fd?led)terbings nichts baoon, bafa an bie pietät gegen eine Über- 
lieferung an fidj ber Derfefy: mit ber (Sottfycit gebunben \% 2lber 
audj bas 3tr>eitc Clement, ber 3ntelleftualismus, ijl grtedn'fdjer £}er* 
fünft. Die 2(usfpinnung bes (Eoangeliums 3U einer großen (ßott* 
IDelt'ptjilofop^ie, in roeldjer alle benfbaren ZHaterien befyanbelt 
u>erben, bie Über3eugung, ba$, weil bie djrijllidie Heligion bie ah* 
folute ift, fte audj auf alle 5rctgen ber ZHetapliYfif, Kosmologie unb 
<Sefd?idjtc 21usfunft geben muffe, bie Betrachtung ber Offenbarung 
als einer unübcrfefybaren IHcngc oon Ccfyren unb 2Iuffdjlüffen, alle 
gleich heilig unb undjtig — bas ift grtedjifdjer 3ntelleftualismus. 
Xlad\ ifym ijt ja bie <£rfenntnis bas £jödijtc, unb ber (5eijl ijl 
nur (Seift als erfennenber: alles SJjtf)etifd?e, (Etfyifdje un & Heligiöfe 
muß umgefefet toerben in ein IDiffcn, bem bann ber XDille unb bas 
Ccben mit Sidjerfycit folgen tr>erben. Die <£ntu>icflung bes djrij!* 
liefen (Slaubens 3U einer alles umfpannenben tEfyeofoplu'c unb bie 
3bentip3icrung oon (Slaube unb (Slaubcnsroiffen ijl ein Beroeis, 
bafa bie djrijUicfye Heligion auf griedu'fdjem Boben in ben Bann* 
freis ber bort fyeimifdjen Heligionspfyilofopfyie eingetreten unb in 
il>m oerblieben ift. 



— 143 — 

2lber innerhalb biefer großen (Sott'tDelt.pEiilofopfyie, bie als 
„3nfyalt ber Offenbarung" unb als „ortfyobo^c Cefyre" einen abfo« 
luten IVert befiftt, ftnb es 3t©et Elemente, bie fte von ber fonft fo 
pertoanbten griedjifdjen Beligionspfyilofopf)ie burdjgreifenb unter« 
fdiefben unb ifyr einen gait3 eigentümlichen (Efyarafter Derleifyen. 
3d? meine nidjt bie Berufung auf Offenbarung — beim auf Offen« 
barung beriefen ftdj audj bie XTeupIatonifer — , fonbern ben Sdjöp« 
f ungsgebanfen unb bie Cefyre von ber <5ottmenfd}B}eit bes 
(Erlöfers. Sie burdjbredjen bas Schema ber griedjifdjcn Heligions« 
pfylofopfyic an 3u>ei entfe^eibenben punften unb ftnb ba^er aud) 
ftets von ben eckten Vertretern berfelbcn als fremb unb unerträglid? 
empfunben tr>orben. 

Über ben Sdjöpfungsgebanfen fönnen tr>ir uns fürs faffen. 
(Er ifi un3tDcifcl^aft ein ebenfo wichtiges roie bem (Evangelium ent« 
fpredjenbes (Element Surdj ilin ift bie Verflechtung von (Sott unb 
ZVelt aufgehoben unb bie XDirflidjfeit unb Kraft bes lebenbigen 
(ßottes 3um 2IusbrudP gebracht. §tr>ar \\aben audj bei diriftlidjen 
3>enfern auf griedjifdjem 23oben — eben roeil fte (ßriedjen roaren — 
bie Verfudje nidjt gefehlt, bie (SottEjeit lebiglidj als bie einheitliche 
Kraft bes HMtgefüges, als bie (Einheit in ber Vielheit unb als bas 
giel ber Vielheit 3U faffen. Sogar bie Kirdjcnlefyre trägt Bleute 
nodj einige Spuren biefer Spcfulation; aber ber Schöpf ungsgebanfe 
fyat bod? triumphiert, unb bdrnit Ijat bie <£fyriftlid?fcit einen roir!lid)en 
Sieg erfochten. 

Diel fd?tt>ieriger iff es, über bie £efyre x>on ber <ßottmenfd$eit 
bes €rlöfers ein richtiges Urteil 3U gewinnen. Sie ifl un3it>eifel^aft 
bas £}er3ftücf ber gan3en griedjifdjen Dogmatil Von ifyr aus ifl 
bie tErinitätslefyrc geroonnen, unb beibe sufammen bilben nach, gric- 
djifdjer 2luffaffung bie djriftlidje Ccfyre in nuce. Wenn ein gric* 
djifdjer Kirdjenoater einmal gefagt fyat: „Die (ßottmenfdjfyeit (bie 
ZHenfditDerbung) ifl bas ZTeue unter bem TXenen, ja bas einzig Zleue 
unter ber Sonne", fo fyat er bamit nidjt nur bas Urteil aller feiner 
Konfeffionsgenoffen richtig roiebergegeben, fonbern 3uglcidj in tref* 
fenber XVcifc ifyre ZHcinung ausgcbrücft, ba% alle übrigen Stücfc 
ber £efyre ftdj bei gefunben Sinnen unb ernftem ZTadjbenfen pon 
felbft ergeben, biefes aber barüber hinaus liegt. SieCfyeologen 
ber griedjifdjen Kirche finb baoon über3cugt, ba§ djrift« 
lidje Glaubenslehre unb natürliche pfyilofopfyie fidj eigent« 
Iidj nur baburd? unterfdjeiben, bajjj jene bie Ccfyrc oon ! 



— 144 — 

bcr (ßottmcnfdifycit (unb bcr Crinität) umfaßt, X}ödjftens ber 
Sdjöpfungsgebanfe fann daneben nod) in Betradjt fommen. 

3ft bem fo, bann tft es t>on burdjfdjlagenber Bebeutung, ben 
ttrfprung, ben Sinn unb ben Xüevt jener CeBjre richtig 3U faffen. 
3n ifyrcr Ausführung muß fte jeben, bcr von ben fioangclicrt fy>r 
an fte herantritt, gan3 fremb anmuten. Diefer €inbrucf tann aud) 
burdj feine gefdfidjtlidje Heflejion übertounben roerben — ber gan3e 
Bau ber firdflidjen <£fyriftologie ftcfyt außerhalb ber fonfreten 
perfönlidjfeit 3cfu (E^rtjH — ; aber gcfdn'djtlidje €ra>ägungen 
vermögen bodj nidjt nur ifyren Urfprung 3U erflären, fonbern audj bis 
3u einem geu>ijfen <5rabe bie 5ormulicrung felbjt 3U rechtfertigen. 
Perfudjen t»ir es, uns bie fjauptpunftc flar 3U machen. 

XDir §aben in einer früheren Dorlcfung gcfefycn, roie es ba3u 
gefommen ift, ba% ftdf bie fircfylidjen teurer ben Begriff bes Cogos 
«rtDäfylten, um bas JDcfen unb bie JPürbe C^rifti ftdjer 3U fteflen. 
7>a ber Begriff „ZTTefftas" für fte gan3 unt>erftänblidf, alfo nichts« 
fagenb n>ar, unb ba man Begriffe nid?t 3U improoifieren oermag, 
fo Ratten fte nur bie VOaiji, entoeber ftd? (Efyriftus als vergotteten 
ZTTcnfdjen (alfo als ^cros) oor3ufteHen ober fein ZDefcn nadj bem 
Schema eines ber griedn'fdjen (Söttcr 3U benfen ober es mit bem 
Cogos 3U ibentifoieren. 2)ic beiben erften IHöglidffeiten mußten 
abgelehnt merben, benn fie roaren „fycibnifdi" ober erfdiienen fo. 
€s blieb alfo bcr Cogos. IDie 3a>ecfrt>aßig biefe 5ormel nadj Dielen 
Seiten roar, h^aben roir bereits t)en>orgeEjoben — ließ ftdj bodj audj 
ber Begriff ber (Sottcsfofynfdjaft unge3U>ungcn mit ifyr pereinigen, 
ofyne auf bie anftößigen Cfyeogonien 3U führen, unb bcr ZHono* 
tfyeismus fdjien nidjt gefäBjrbet 3U fein — , aber bie 5ormeI fyatte 
audi ifyrc eigene £ogif, unb biefe führte nietet 3U <£rgebniffen, bie 
in jeber fjinftdjt unbebenflidj u?arcn. Der Begriff bes Cogos u>ar 
fefyr t>erfdjiebener Ausprägung fäEn'g; trofe feinem erhabenen 3nl>alt 
fonnte er audj fo gefaßt merben, ba% fein Crägcr feinesmegs tx>afyr- 
ijaft göttlichen XDefcns fei, fonbern eine fyalbgöitlidje Statur fyabe. 

Q'xe 5rage nadj ber näheren Bcfttmmung bcr Ztatur bes Cogos« 
C^riftus fyätte nun in ber Kirdjc nidjt bie ungeheure Bebeutung 
erlangen fönnen, bie fte befommen Bjat, unb man fyättc ftdf bei 
mannigfaltigen Spcfulationen beruhigt, wenn nidjt gleicfoeitig eine 
fefyr prä3ife Porftellung oon ber <£rlöfung ben Sieg gewonnen unb 
eine peremptorifdje 5orberung gebellt Ijättc. Unter allen ben mög- 
lichen €rlöfungsporftellungen — Dergebung ber Sdjulb, €rlöfung 



— 145 — 

aus ber ZHacfyt ber Dämonen u. f. xx>. — trat nämlidf im 3. 3 a fc" 
fyunbert biejenige fouperän in ber Kirdje in bcn Dorbergrunb, 
tpeldje bic djriftlidje <£rlöfung als <£rlöfung com (Eobe unb 
bamit als (Erhebung 3U göttlichem £eben, alfo als Der- 
gottung, f aßte. Siefe Dorfteilung l^at im <£pangclium 3tpar einen 
fieberen 2lnfyaltspunft unb in ber paulinifdjen Geologie eine Stufte; 
in ber <5eftalt aber, in ber fte nun ausgebilbet tpurbe, ijl fie ifynen 
fremb unb ift griedjifdj a,ebad\t: bie Sterblichkeit an fid? gilt 
als bas größte Übel unb als bie tfrfadje aller Übel, ber 
<5üter tjödjftcs aber ift, etpig 3U leben. IDie ftreng griedjifdj 
bas gemeint ift, ge^t baraus fyerpor, ba% \. bie <£rlöfung 00m Cobe 
gan3 realifhfdj alspfyarmafologifdjer pro3eß porgeftellt tpurbe — 
bie göttliche Statur muß einftrömen unb muß bie fterblidjc Hatur 
umbilben — unb ba§ 2. etpiges Ceben unb Dergottung ibentifeiert 
tpurben. fjanbelt es fidj aber um einen realen (Eingriff in bie 
Konjlitution ber menfd] liefen Ztatur unb um ifyre Dergottung, fo 
muß ber (Erlöfer felbft <5ott fein unb ZHenfdt rperben. ZTur 
unter biefer Bebtngung ift bie tDjatfädjlidjfeit bes unmberbaren Vor- 
gangs porftellbar. ZDort, Cefyrc, ctn3clne tLkaten permögen fyier 
nichts — ober tann man burdj 2lnprebigen einem Steine Ceben 
geben, einen Sterblichen unfterblidj machen? — ; nur roenn bas 
(göttliche felbft leibhaftig in bie Sterblichkeit eingebt, tann biefe trans- 
formiert tperben. Das (5öttlicb 4 e aber, b. fy etoiges Ceben, unb 3tpar 
fo, ba § er es 3U übertragen per mag, Ijat nidtf ber fjeros, fonbern 
nur (Sott felbft. 2Ufo muß ber Cogos (Sott felbft fein, unb er muß 
roafyrfyaft ZTTenfd? geroorben fein. 3ft biefen beiben Sebingungen 
genügt, bann ift bie reale, naturfjafte <£rlöfung, b. fy. bie Dergottung 
der Znenfdjfyeit, roirHidj gegeben. Don fyier aus erflären fidj bie 
ungeheuren Streitigfetten um bie ZTatur bes £ogos*Ct|riftus, roeldje 
mehrere 3<*fyrf>unberte angefüllt fyaben. Von fyer aus erflärt es 
ftdj, tparum Sltfyanafuis für bie 5ormel, ber Cogos-Cfyriftus fei 
eines IDefens mit bem Dater, fo geftritten fyat, als fyanble es ftdj 
um Sein ober Hidjtfein ber djriftlidjen ikligion. Von ljier aus 
ipirb es bcutlidj, toarum anbere griecbjfdje Kirchenlehrer jebe <Se- 
fäfyrbung ber Pollen (Einheit pon (Söttlidjem unb ZHenfdj lidjem in 
bem <£rlöfer, jebe Dorfteilung einer bloß moraltf djen Derbinbung 
u>ie eine 2(uflöfung bes (Efyriftentums betrachtet I^aben. Sie fyabtn 
ifyre 5ormeln burdjgefeftt, bie für fie nidjts roeniger als fdjolaftifdje 
begriffe rnaren, fonbern 23cfd]reibung unb Sidjerftellung eines %Ll\at* 

£)axnad, Das IPefen bes Ct^riflentnms. 10 



— 146 — 

ieftanbes, olme tt>etd}en bie djrijHidie Religion fo ungenügenb tpäre, 
u>ie alle anbeten. 2)ie Ceijren pon ber mefensgleidjen Crtmtät — 
tüte es 3ur £et?re pom {^eiligen (Beiß gefommen ijl, mag fyier auf 
ftdj berufen — unb pon ber (ßottmenfdifyeit bes (Erlöfers entfpredjen 
genau ber eigentümlichen Dorjtellung pon ber <£rlöfung als einer 
»efenbaften Dergottung burdj Unfterblidjfeit (Dbne biefe Porftellung 
tpäre es niemals 3U jenen Formeln gefommen; aber fie jteBjen unb 
fallen audf mit ifyr* Sie liaben ftdj aber nidtf burdjgefefet um iljrcr 
Dcrtpanbtfdjaft mit ber griedjtfdjcn pbjlofopfyie mitten, fonbern im 
(ßcgenfafe 3U ifyr. 2)ie griedjifdje pBjilofopfye fyat nie gewagt unb 
nie baxan $ebad)t, bem £Dunfd?e nad? ttnfterblidjfeit, ben fie fo 
lebljaft empfanb, in irgenbwie ctfmlidjer IDeife burdj „(ßefdfidtte" 
unb Spekulation entgegenkommen. <5an3 mYtBiologifdf unb aber« 
gläubifdj mußte fie es anmuten, einer gefdjidftlidien pcrfönltdjfcit 
unb iBjrem €rfdjeinen einen folgen Eingriff in b^n Kosmos bei- 
3u(cgen unb itjr eine tfmnxmblung bes ein für allemal (Begebenen 
unb ewig flteßcnben 3U3iifdjreiben. Das „allein Zteue unter ber 
Sonne" mußte ifyr als bic fdilimmjte 5<*bcl erfdjeinen nnb ifl iljr 
fo erfdjienen. 

Die griedjifdje Kirche ift ijeute noeb, bapon über3eugt, in biefen 
Cefyren bas ZDefen bes clfjriftcntums als (SeBjeimnis nnb als ent- 
hülltes (ßefyeimnis sugleidj 3U befifcen. 5)ie Kritif biefer Behauptung 
ift ntdjt fdjwer. 2lnerfannt foH werben, ba§ jene teuren mächtig 
ba3U beigetragen tiaben, bie djriftlidie Religion por bem «gerfließeu 
in bie griedjifdje Religionspfyilofopbje 3U fcb,üfeen, ferner, ba% ber 
abfolute clfyarafter biefer Religion an ifynen cinbrucFspoU bcutlid? 
wirb, weiter, ba§ fie ber griedjifdjen (Erlöfungsporftellung wirflieb, 
entfpredjen, enblidj, ba§ biefe Porftellung felbjl eine tfyrer lDur3cln 
im <£pangeüum l\at 2lbcr barüber hinaus läßt ftdj nichts aner- 
kennen; es ift pielmefyr 3U fagen: \. bie Dorftellung pon ber €rlö- 
fung als Ecrgottung ber fterbltdjcn Ztatur ift unterdjrijHidj, weil 
ifyr fittlicfye ZTTomcnte im beften 5<*H nur angefügt werben 
fönnen, 2. bie gan3C Cefyre ift unannehmbar, weil fie mit bem 
3cfus (Cfyriftus bes (Evangeliums faum 3ufammcnl)ängt, unb tfcjrc 
Formeln auf Um nidjt paffen; fie entf priest alfo nid?t bem XOirf- 
üdfen, 3. fie füfyrt, weil ftc nur burdj unftdjerc 5äbcn mit bem 
wirf ltdjen (Efyriftus 3ufammenl)ängt, pon i^m ah: ftc erhält nidit 
fein 23ilb lebenbig, fonbern fie per langt, baß man biefes Bilb 
lebiglidj in angeblichen Porausfeftungen erfenne, bic in 



— 147 — 

tfyeoretifdjen Säfeen 311m 2lusbrttcf gebracht finb. Dag bie 
IDirfungen biefer Subjtitution nidft fo fdjlimme unb grunbflürsenbe 
ftnb, ift wefentlidj bic 5olge bapon, bag bie Kirche bie €pangelien 
bodj nidjt unterbrücft B^at, unb biefe pdf mit eingeborener Kraft 
geltenb machen. 2Xlan mag audj 3ugejtefyen, bag bie PorjteHung pon 
bem menfdjgeworbenen (Sott nidjt überall nur wie ein beraufdjenbes 
ZTTYJtenum wirft, fonbern 3U ber beflimmten unb reinen äber3eu« 
gung: (5ott war in (Qjriftus, überleiten fann. Klan mag enblidj 
einräumen, bag ber egoiftifdje IDunfdj nadi unfterblidfer Dauer 
innerhalb ber djrijtlidien Sphäre eine fittlidje Heinigung erfahren 
wirb burdf bie Sefynfudft, mit unb in (Sott 3U leben unb 
untrennbar mit feiner Cicbe oerbunben 3U bleiben. 2tber alle biefe 
(gugcftänbnijfe fönnen bie <£inftd?t nidjt wegfdjaffen, bag in ber 
griedjifdjen Dogmatil bie perfyängnispolljte Perbinbung gcfcblojfcn 
ift 3wifdjen bem antifen XDunfdje nadf unjierblidjem ttbzn unb ber 
djriftlidjen Perfünbigung. 2Iud? fann niemanb leugnen, bag biefe 
Derbinbung, eingeteilt in bie gricdjifdje Heligionspfyilofopfye unb 
ifyren 3ntelleftualismus, 3U Formeln geführt fyat, bie unrichtig pnb, 
einen erbadtfen (Efyriftus an Stelle bes wirflidjen fefcen unb auger- 
bem ber Selbfttäufdjung Haum geben, bag man bie Sadi* ^abe, 
wenn man nur bie richtige 5ormel befifce. Selbj! wenn bie djrifto- 
logtfdje 5prmel bie tfyeologtfdi 3utreffenbe u>äre — wie weit ijat 
ftd] bie Kird^e pom <£pangelium entfernt, bie ba behauptet, man 
fönne 3U 3*fus <£ijriftus fein Dcrfjältnis gewinnen, ja man per« 
fünbige ftdj an ifyn unb werbe hinausgezogen, wenn man nidjt 
allem 3M>or anerfenne, bag er eine perfon mit 3wei Staturen unb 
5wei JDillensenergieen, je einer göttlichen unb einer menfdjlidjen, ge- 
wefeu fei? Sis 3U fold?er 5orbcrung $at fidj ber 3ntelleftualismus 
ausgebtlbct! Darf ba uodj bas (Eoangclium pom fananäifdjen 
lt?eibc ober pom Hauptmann 5U Kapernaum gelefen »erben? 

ZHit bem Crabitionalismus unb 3ntelleftualismus ijl aber nodj 
ein weiteres Clement perbunben; bas ijl ber Ziitualismus. Stellt 
fidj bie Heligion als eine überlieferte, weitfdjidjtige £efyre bar, bie 
nur wenigen wirflidj 3ugänglidj ift, fo permag jte nur als Weihte bei 
ber ZTIc^rsa^l ber (Släubigen prafttfdj 3U werben. Die £efyre wirb 
appliziert in ftcreotypen Sovmeln, bie pon fymbolifc^cn 
fjanblungen begleitet finb. So lägt fte jtdj 3war nidjt innerlid? 
perftcfyen, aber es lägt ftdj etwas (SefyeimnispoHes babei empfmben. 

10* 



— 148 — 

üben bie Dergottung, weldje man von ber Sufunft erwartet unb 
bie an ftcfy etwas Unbefdjreiblidjes unb Unfafclidfes ift, wirb fdjon 
jefet wie ein ringelt burdj tDeiljefyanblungen appli3iert. Die (Erre- 
gung ber pfyantafte unb Stimmung ift bie ©ispofttion für üjren 
(Empfang unb bie Steigerung jener (Erregung bas Siegel bcsfelben. 

So empfinben es bie griedjifdf'fatEjolifdjen (Cfyriften. 3)er Der« 
fefyr mit <ßott vol^ie^t ftdj burdj einen ZTTvfterienfuftus, burdj £}un* 
berte von Heineren unb größeren wirffamen 5ormeln, gcidien, 
Silbern unb IDeiljeljanblungen, bie, wenn fte pünftlid? unb gef>or« 
fam beobachtet werben, göttliche (Bnabe mitteilen unb auf bas 
eroige £eben vorbereiten. Und} bie Cefyre als foldje bleibt wefent* 
lidj unbefannt: in liturgifdjen Sprüchen tritt fie allein in bie <£r* 
fdjeinung. 5ür neununbneun3ig pro3ent biefer C^riften ift bie Hcli* 
gion nur als «Scrcmonienritual vorrjanben unb in ifyn veräußerlicfy. 
2lber audj für bie geizig geförberten Cfyriftcn finb alle biefe Xüei^e« 
{janblungen fd?ledjtt)in notwenbig; benn bie Cefyre credit nur in 
ifyncn bie rechte 2lnwenbung unb ben rechten (Erfolg. 

Hidfts ift trauriger 3U fefyen als biefe Umwanblung ber djrtft. 
liefen Heligion aus einem (Bottesbienft im <5eift unb in ber Wafyv 
fycit 3U einem (Bottesbienft ber S^^en, 5ormeIn unb 3bole! Ztlan 
braucht gar nidjt bis 3U ben religiös unb intclleftuell völlig ver« 
wafyrloften (ßliebem biefer (Erjriftcn^ctt, 3U Kopten unb 2lbeffvniern 
fyerunter3ufteigen, um biefe €ntwicflung fdjaubernb 3U erfennen — 
aud] bei Syrern, (ßriedjcn unb Huffen fielet es im gan3en nur um 
weniges beffer. Wo aber ift in ber Perfünbigung 3efu audi nur 
eine Spur bavon 3U finben, ba% man rcligiöfe EDeifyen als geheim« 
nisoolle Supplikationen über ftdj ergeben Iaffcn foH, ba% man ein 
Hitual pünftlidj befolgen, Silber aufftellen unb Sprüche unb 5or« 
mein in vorgefdjriebener IDeife murmeln foH? Um biefe 2Irt 
von Heligion auf3ulöfen, bat fidj 3efus (Efyriftus ans 
Kreu3 fdjlagen Iaffcn; nun ift fie unter feinem Tiamon unb 
feiner Autorität wteber aufgerichtet! Die „Znyftagogie" ift nidjt nur 
neben bie „ZHatfiefts" (bie £efyre) getreten, burdj weldje fte ja 
hervorgerufen ift, fonbern in XDa^rl^eit ift bie „Cefyre" — wie 
fte audi befdjaffen fein mag, fte ift bodj ein geiftiges (Element — 
in ben Boben gefunfen, unb bie Zeremonie befyerrfdjt alles. Damit 
ift ber Bücf fall in bie antife Sovm ber Religion nieberfter ©rbnung 
bc3eid)net; ber Hitualismus fyat auf bem weiten 23obcn ber griedjifdv 
orientalifdjen (Efyriftenfyeit bie geiftige Hcligion nafyc3U erftieft Sic 



— 149 — 

Ejat nidtf nur etwas XPefentltcp.es eingebüßt, nein fte ijl auf ein 
gan3 anderes Ztiocau geraten; fte ift auf jene Stufe fyerabgebrücFt, 
auf ber ber Sofa gilt: Heligion ift Kultus, nichts anbexes. 

Das griediifcfyorientalifctie (Cfyriflentum birgt jebodj ein Clement 
in ftdj, bas 3<*l|rfiunberte fyinburdj fä^ig gemefen \% bem per- 
bünbeten Crabitionalismus, 3nteHeftualismus unb Hitualismus einen 
gemiffen ZDiberjtanb 3U leiten, ja ifyn \\eute noefy fye unb ba 
Ieiftet — bas if* bas Vflöndtt um. ©er griedrifdje <£fyrift ant- 
mortet auf bic £rage, mer (Ojrift im t)öcb,ften Sinn bes IDortes 
fei: ber Zttondi* Wex pdf im Sdjmeigen übt unb im Heinfein, 
mer nicfyt nur bie XPelt fliegt, fonbem audj bie XPeltfirdje, it>er 
nid]t nur bie falfdje Cefyre permeibet, fonbem aueb, bas Reben 
über bie richtige, mer ba faxtet, fontempliert unb unoerrücft märtet, 
bis feinem 21uge ber £td}tglan3 (ßottes aufgebt, tx>er nichts für 
mertpoll Ijält als bie Stille unb bas Ztad\benten über bas <£migc, 
mer nichts pom £eben perlangt als ben Cob, mer aus foldjer poll- 
fommenen Selbftloftgfett unb BeinEjeit Sarm^er3igfdt ijeroorquellen 
läßt — ber ift ber (Efyrift. 5ür iljn ift audj bie Kirche nidjt 
fd?lec^tl|in notmenbig unb bie tDeifye, bie fie \penbet Sie gan3e 
geheiligte ZDeltlidtfeit ift einem folgen entfdjmunben. 3" biefen 
2Isfeten' fyat bie Kirdje fort unb fort Crfdjeinungen erlebt pon 
foldjer Kraft unb gartljeit ber religiöfen (Empfmbung, fo erfüllt 
pon bem (ßöttlicfyen, fo innerlich tfjätig, fidf naefy geu>iffen Sägen 
bes Bilbes <£fyriftt 3U bilben, ba% man mofyl fagen barf: ljier lebt 
bie Religion, unb fte iß bes Hamens <£fyrif!i nidjt unmürbig. XDir 
Proteftanten bürfen uns nidjt fofort an ber Sovm bes ZtTöndjtums 
ftofien. Die Bebingungen, unter benen unfere Kird?e entjtanben if!, 
l^aben uns ein fyerbes unb einfeitiges Urteil über basfelbc auferlegt. 
Unb ob mir and\ berechtigt fein mögen, es für bie <5egenmart 
unb unfern Aufgaben gegenüber feftufyalten — auf anbere Per- 
Ijältniffe bürfen tpir es nidjt ofyne weiteres antpenben. (Ein $ev* 
ment unb ein (ßegengemidjt innerhalb jener trabitionaliftffdjen unb 
ritualiftifdjen ZDeltfirdje, mie es bie griedjifdjc Kirche gemefen ijl 
unb nodj ijt, fonnte nur bas ZHönc^tum fein, Ijier mar 5reifyeit, 
Selbftänbigfeit unb lebenbige (Erfahrung möglich; ljier behielt bie 
(Erfenntnis iljr Kedit, ba$ in ber Heligion nur bas (Erlebte unb 
bas 3nnerlicb,e t£>ert fyat. 

übet — bie mertpolle Spannung, bie innerhalb biefes (Teils 



— 150 — 

ber (Djriftenfjeit 3wifdjen ber ZDcltfirdje unb bem TXldnditixm bejtonben 
fyat, ifl leiber faft gan3 verfdjwunben, unb ber Segen, ben es 
gcftiftet ijat, ift faum rnefy: 3U fpüren. Xtidtt nur bie nMtfirdjc 
fyat ftdf bas ZHönditum unterworfen unb es überall unter ifjr 3od? 
gebeugt, fonbern audj bie ZDcltlidffeit ift in befonberem HTa§e in 
bie Klöfler eingesogen. 3n &** Hegel jinb bie griedjifdjen unb 
orientalifdjen ZHöndje fyeute bie Organe für bie nieberften unb 
fd}limmften 5unftionen ber Kirche, für ben Silber- unb Heliquicn« 
bienfi, ben fraffeflcn Aberglauben unb bie blöbejte gaubereu Aus* 
nahmen fehlen ntdjt, unb nodj immer mujjj ftdj bie fjoffnung auf 
eine befferc <§ufunft an bie ZlTöndje Hammern; aber ab3ufeljen ift 
nidjt, wie einer Kirdfe Sefferung werben fotl, bie, mag ftc lehren 
was jie will, ftdj babei beruhigt, bajjj ifyre ZHitgüeber gewiffe gere- 
monien richtig beobachten — bas ift ber djrifHidje (Slaubc — 
unb bie 5aften richtig einhalten — bas ift bie djriftlidje Stttlidjfeit. 

XDir fragen fdjliefjltdf: Wie ift bas (Evangelium m biefer Kirdje 
mobift3tert worben, unb rote Bjat es ftdf behauptet? Zinn 3unädjft 
fyabe xdt feinen ZDiberfprudj 3U erwarten, wenn idj antworte: 
biefes offoielle Kirdjentum mit feinen prieftem unb feinem Kultus, 
mit allen ben (Befägen, Kleibern, ^eiligen, Silbern unb Amuletten, 
mit feiner 5aftenorbnung unb feinen 5eften fyat mit ber Heligion 
(EB^rifii gar nichts 3U tljun. 1>as alles ift antife Heligion, an* 
gefnüpft an einige Segriffe bes (Evangeliums, ober beffer, bas ift 
bie antife Heligion, weldje bas (Evangelium aufgefogen fyat. Die 
religiöfen Stimmungen, bie Bjier er3eugt werben, ober bie biefer Art 
von Heligion entgegenfommen, ftnb unterdjrifHidje, fofern ftc über* 
fyaupt nodf religiös genannt werben fönnen. Aber aud? ber (Erabt« 
tionalismus unb bie „Ortfyobojie" fyaben mit bem (Evangelium 
wenig gemein; audj fte ftnb nidjt von ifym fyer gewonnen ober von 
ifym ab3uleiten. Korrefte Ce^re, pietät, (Sefyorfam, Sdjaucr ber 
(Efyrfurdjt fönnen wertvolle unb erfyebenbe (Süter fein; fte vermögen 
ben eht3elnen 3U binben unb 3U 3Ügeln, 3umal wenn fte ifyt in bie 
(Scmeinfdjaft eines feften Kreifes fynein3ieljen; aber mit bem Evan- 
gelium fyaben fie fo lange nichts 3U tfyun, als ber ein3clnc nidft 
bort gefaßt wirb, wo feine 5*eifyeit liegt unb bie innere (Entfdjei» 
bung für ober wiber (Sott. Dem gegenüber ift in bem ZTCöudjtum, 
in bem (Entfdjluffe, (Sott burdj Asfefe unb Kontemplation 3U bienen, 
immerhin ein ungleich Xüertvoücrcs enthalten, weil Sprüdfe <£fyrifti, 



— 151 — 

fei es audj in einfeitiger unb bcfdjränFter 2Imvenbung, bod? als 
Bidjtfdjnur bienen unb bie ZHöglidiFeit, ba§ ftdj felbjtänbiges, 
inneres Zehen ent3Ünbet, fyer näfyer liegt 

fjier näfyer liegt — fie fcljlt, <5ott fei 7>ant f audf in bem 
oben (Belaufe biefes Kirdjentumes bodj nidjt gan3, unb audj bie 
Sprüche <£ljrijtt fdjaHen an bas ©fyr ber Kirdjenbefudjer. Über bie 
Kird?e als foldje mit ifyrem gan3en Apparate lagt jtdj nichts 
(Sünftigeres fagen, als tvas gef agt tvorben ift: aber bas ZDertvolljte 
ift, ba% fie, tvenn audj in befdjeibenem UTaße, bie Kennt» 
nis bes (Evangeliums aufredet erhält Das VOott 3cfu, 
tvenn audj nur gemurmelt von ben prieftern, ftefyt audj in biefer 
Kirdje an oberfter Stelle, unb bie ftilie ZHiffton, bie es übt, ivirb 
nidjt unterbrücFt* Ziehen bem gan3en gauberapparate unb ber 
Überfd/ivenglidjFeit, beren caput mortuum bie Simonie ijt, fielen 
bie Sprüdje 3«fu; fie tverben gelefen unb vorgelefen, unb bie 
Superftition vermag iljre Kraft nidjt aus3Utilgen. Die 5rud?t Fann 
niemanb verFennen, ber t^ier ettvas genauer fyneingefdjaut fyat 
2Iudj unter biefen <£ljrtjten, prieftern unb Caien, jtnbet man foldje, 
bie <5ott als ben Vater ber 23armfyer3igfeit unb als ben Ceitcr 
ifyres Cebens Fennen gelernt fyahen unb bie 3efum (Efyriftum lieb 
fyahen — nidjt tveil fte ilm als bie geheimnisvolle perfon von 
5U>ei Ztaturen fennen, fonbern tveil ein Strahl feines IDcfens 
aus bem (Evangelium in iljr £;er3 gebrungen unb biefer Strahl 
tfmen Cidjt unb XDärme getvorben ift für bas eigene Sehen. VLnb 
mag audj ber (ßebanFe ber väterlichen Porfeljung (5ottes im 
©rient leidster eine fajt fataliftifdje 5orm annehmen unb allsu 
quietiftifd] tvirFen — bajjj er audj fyiev Kraft unb CfyatFraft, Selbft- 
lojtgFeit unb £iebe verleibt, ijt gcivi§* 3dj brauche nur tvieberum 
auf bie fdjon einmal citierten „Dorf gef djidjten" ColjtoPs 3U 
vertveifen, bie n\d\t erfünftelt ftnb; idj Fann aber audj aus mancher 
eigenen 2lnfdjauung unb (Erfahrung betätigen, tvie ftdj felbjt beim 
rufftfetjen Bauern ober nieberen priejter trofe Silber- unb fjeiligen* 
3>ienfi bodj audj eine Kraft bes fdjlidjten (Sottvertrauens, eine 
^artfyeit ber jtttlidicn (Empfinbung unb eine tljalFräftige Sruber- 
liebe finbet, bte ifyren Urfprung aus bem (Evangelium nidjt ver- 
leugnet. Wo fte aber vorfyanben ftnb, ba Fann felbfi ber ganse 
^cremonieenbienp ber Religion eine Pergeijligung erfahren, nidjt 
burd? „UmbcnFen ins Svmbotifdje" — bas ift ettvas viel 311 
Künftlidjes — , fonbern tveil jtdj fclbft am 3bol ber Sinn 3U bem 



— 152 — 

lebendigen (Sott ergeben fann, tvenn bie Seele überhaupt nur einmal 
von üjm berührt iji 

€s ijl aber tvafyrlid? nidjt 3ufällig, bafj, fofern ftdj überhaupt 
felbjtänbiges religiöfes Heben audf bei ben <5licbern biefer Kirdje 
ftnbet, es ftdj alsbalb in <5ottvertrauen, Demut, Sclbftlojtgfeit unb 
SarmljcrsigFett äußert, unb 3uglcid? 3«f U5 Cljriftus mit €fyrfurdjt 
erfaßt tvirb; benn bas ftnb eben bic Sügc, bie es offenbaren, ba§ 
bas (Evangelium nodj nidft erjttdt ift, unb ba% es an jenen reit- 
giöfen {Eugenben feinen eigentlichen 3nB^alt fyat. 

Das Syßem ber orientalifdjen Kirdjen ift als (Sandes unb in 
feiner 5truFtur ettvas bem (Evangelium 5rembes; es bebeutet fotvoty 
eine tvirflidjc {Transformation ber djrifHidjen Religion als audj bic 
fjerabbrüdung ber 5tömmigfeit auf ein viel tieferes Niveau, näm« 
lid? auf bas antife. 2Iber in feinem ZHönditum, fofern es nid?t 
gan3 ber ZDcltfirdje unterworfen unb felbjl vcrtveltlidjt ift, ift ein 
(Element gegeben, tveldjes ben gansen Kird^cnapparat auf eine 
3tveite Stufe fyerabfefet, unb in iveldjem bie ZHöglidjfeit, 3U djriftltdjer 
Selbftänbigfeit 3U gelangen, offen fteljt. Dor allem aber fyat bie 
Kirche, inbem fie bas (Evangelium nidjt unterbrücft fyat, fonbern, 
ivenn audj in fümmerlidtem ZHage, 3ugänglidj erhält, bas Korreftiv 
nodj immer in tfyrer UTitte. Diefes (Evangelium übt feine eigene 
XDirfung in unb neben ber Kirdje bei ein3elncn aus. Die IDir- 
fung aber ftellt ftdj in einem Cypus von 5römmig!eit bar, tveldjer 
eben bie &VL$e trägt, bie tvir in ber Pcrfünbigung ^}e\\x als bie ent» 
fdjeibenbftcn nadjgctviefcn Bjaben. Somit tft bas (Evangelium auf 
biefem 23oben nidjt völlig untergegangen. ZHenfdjenfeelen gewinnen 
aud| Ijier <5ebunbenfycit unb 5rcifyeit in (Sott, unb wenn fte fte 
gefunben fyaben, fprcdjen fie bie Sprache, bie ein jeber (Efyrift ver- 
ficht unb bic einem jeben Cfyriftcn 3U fersen gcfyt. 



J&wrj&Ijnfe TBnvltfm$. 



Wxt rijrißlirijB IReligirm int rßmifrijfctt Hai^oltjfentus 

foll uns in ber heutigen Dorlefung befdjäftigen. 

2>tc römifer/e Kirche iß bas umfaffenbfte unb geroaltigjte, bas 
fomph^iertefte unb bodf am meifTen einheitliche <5ebilbe, roelcrjes bie 
(Sefcf/icrjte, fotoeit roir fte rennen, fyeroorgebradit Bjat. 2lUe Kräfte 
bes menfdjlicf/en (Seifies unb ber Seele unb alle elementaren Kräfte, 
über toeldie bie Znenfcr$eit oerfügt, fydben an biefem 23au gebaut. 
3)er römtferje KatfyoÜ3ismus ift burd? feine Pielfeitigfeit unb feinen 
ftrengen Sufammenfdilujjj bem griecrjifdjen toeit überlegen. Wiv 
fragen roieberum: 

Was fyat bie römifcrt-fatEjolifcrie Kirche geleitet? 

IDoburd? tft fte djaraftertftert? 

Weldit ZHobiftfationen ijat bas <£oangelium in iljr erlebt, unb 
roas ift r>on ifym geblieben? 

Was fyat bie römifdi-fatr^olifdje Kirche geletjtet? Ztun 3U- 
nädjft — fte fyat bie romanifdi-germanifdicn Golfer exogen unb 
3roar in einem anberen Sinn als bie öftlid]e Kirdje bie (Sriedjen, 
Slaoen unb ©rientalen. ZHag audf bie urfprünglicr/c Anlage, mögen 
elementare unb gefdu'crjtlicffe Perfyältmffe jene Golfer begünftigt unb 
irjren 21ufftieg mitberoirft fyxben, bas Perbienfi ber Kirche roirb 
barum nidjt geringer. Sie fyat ben jugenblicfjen Stationen bie crjrijh 
lidje Kultur gebracht, unb nietet nur einmal gebracht, um fte bann 
auf ber erflen Stufe feföufyalten — nein, fte E^at iljnen etwas $oxt* 
bilbungsfäfyiges gefdjenft, unb fte fyat felbft biefen 5ortfcrjritt in 
einem fafi taufenbjäfyrigen Zeitraum geleitet. Bis 3um H. 3afyr« 
Ijunbert iß fte 5ül}rerin unb ZHutter geroefen; fte fyat bie 3been 



— 154 — 

gebracht, bie 5 tele gefefet unb bie Kräfte entbunben. 33is 311m 
H* 3ötjr^unbert — pon bo ab ftefyt man, wie bie felbftänbtg 
werben, bie fte exogen fjat, unb nun XDege einfdffagen, bie ftc 
nidjt gewiefen fyat unb auf benen fte nidjt folgen will unb Fann. 
2Iber audj bann nodf, in bem Settraum ber tefeten fedjstjunbert 
3aljre, ift fte nidjt fo 3urücf geblieben wie bie griediifdje Kirdje. 
Der gan3en politifdjen Bewegung fyat fte ftdj, mit per^ältnismaßtg 
Fursen Unterbrechungen, PoHFommcn gewadrfen geseigt — wir in 
Deutfdjlanb fpüren bas tynreidienb! — unb aud? an ber getftigen 
Bewegung nimmt fte nodt immer einen bebeutenben Slntetl. Sie 
ift freiließ längjt nidft mein? bie 5üln*erin, im (ßegenteil, fte fyemmt; 
aber gegenüber ben 5*fyfent urib Überführungen in ben 5ortfdjrittcn 
ber ZITobernen ift iljr fjemmen nidjt immer ein Unfegen. 

Zweitens aber, biefc Kirche fyat in tDejteuropa ben (ßebanfen 
ber SelbftänbigFett ber Heligton unb ber Kirdic aufredet erhalten 
gegenüber ben audj Ijicr nidjt fcljlcnben 2lnfäfeen 3ur Staatsomni« 
potens auf geifttgem (Bebtet. 3n ber griedjifdjen Kirche fyit fidj 
bie Heltgton, tpie wir gefefyen I^aben, fo feljr mit bem DolFstunt 
unb bem Staat perfdjwiftert, ba% fte außer in bem Kultus unb ber 
XPeltfhidjt Feinen felbjtänbigen Spielraum meljr beftfct. 2Iuf bem 
23oben bes Slbenblanbes ift bas anbers; bas Heligiöfe unb bas mit 
üjm perbunbene Sittliche Ijat fein felbftänbiges <5ebiet unb läßt es 
ftdj nidjt rauben. T>as perbanFen mir porncfymiid} ber römifdjen 
Kirdje. 

2n biefen beiben Cfyatfadjen liegt bas widjttgfte StücF Arbeit 
bcfdjloffen, welches btefe Kirche geleifiet Bjat unb 3um <Eetl nodj 
leiftet. Die SdjranFe in Sesug auf bie erfte hiaben wir angegeben; 
aixdi bie 3wctte fyat eine empftnbltd^e SdjranFe; tpir werben fte im 
Cauf unferer Darfteilung Fennen lernen. 

ZDoburdj djaraFteriftert ftdj bie römifdje Kirdje? Das war 
bie 3»eitc 5rage. Selje idf redjt, fo läßt fte fxdi, fo FompÜ3iert fte 
ift, bodj auf brei fjauptelementc 3urücFfüB}ren. Das er fte teilt ftc 
mit ber grtcdjifdfen Kirche; es ift ber Katfyoli3ismus. Das 
3ipeitc ift ber lateinifdje <5eift unb bas in ber römtfdjen Kirche 
ftdj fortfefeenbe römifdie tDeltreid?. Das britte ift ber <5etft 
unb bie 5tömmigFeit 2lugufHn's. Sluguftin Bjat bas innere tcben 
biefer Kirche, fofern es rcligtöfes £cbcn unb religiöfes DenFen ift, 
' maßgebenber lüeife befttmmt. Zlidjt nur in pielen ZTadjfolgem 



— 155 — 

ift er immer wieber aufs neue aufgetreten, fonbern, oon tfjm er- 
wecFt unb ent3Ünbet, finb 3a^Ircld7e ZHänner erfdjienen, fclbftänbig 
in tB^rcr 5römmtgFeit unb Ideologie unb bodj (Beiß oon feinem 
(Seift. 

Diefe brei demente, bas Fatfyolifdie, bas lateinifdjc im Sinne 
bes römif djen XDeltreidis unb bas augujttnifdje, Fonftituieren bte 
«Eigenart biefer Kirche. 

Was bas crfle betrifft, fo mögen Sie feine Sebeutung baran 
erfennen, bajjj bie römifdjc Kirche freute nod? jeben griedjifdjen 
(Efyrifien oljne weiteres aufnimmt, ja ftdj mit jeber griedu'fdien 
Kirdjengemeinbe fofort „uniert", fobalb fte nur ben papft ancr- 
Fennt unb fidi feiner apoftolifdjen ©berBjoljeit unterwirft. H>as man 
fonfl nodj oon ben (Briefen oer langt, tft gan3 unbebeutenb; man 
läßt* ifynen fogar ben <5ottesbienjt in ber ZHutterfpradje unb bie 
©erheirateten priefter. SebenFt man, welcher „Reinigung" pdf bie 
protejtonten unterwerfen muffen, beoor fte in ben Sdjofc ber römifdjen 
Kirdje aufgenommen »erben Fönnen, fo fpringt ber ttnterfdn'eb in 
bie klugen. Zinn tann ftd? aber bodj eine Kirche nidjt fo \efyc über 
ftdj felbft tauf dien, bafc fic bei ber 2lufnaEjme neuer ZHitglieber, 
3uma( aus einer anbern Konfeffton, wefentlidje Sebingungen außer 
ad?t Keße. <£s mu§ alfo bas Clement, welches bie römifdje Kirche 
mit ber griedn'fdjen teilt, ein fo bebeutenbes unb entfdjeibenbes fein, 
ba% es unter ber Porausfcfeung ber 2lnerFennung ber päpftlidjcn 
©berfjofyeit ausreicht, um bie Union 3U ermöglichen. 2n bcrOjat 
finb bie StücFe, bie ben griedu'fdjen Katljofyismus bejtf mmen, fämt- 
lidj audf in bem römif djen' 3U ftnben unb werben oon iljm unter 
Umftänben ebenfo energifdj geltenb gemacht wie oon jenem. Der 
(Erabitionalismus, bie ©rtljobope unb ber HituaHsmus fpieleit fyier 
gan3 biefelbe Holle wie bort, fofern nidjt „fyöljerc Erwägungen" 
eingreifen, unb oon bem Znöndjtum gilt bas nämlidje. 

Sofern nidft „Bjöfyere (Erwägungen" eingreifen — bamit finb 
wir bereits 3ur Betrachtung bes 3wciten (Elements übergegangen, 
nämlidj bes lateinifdjen (ßeiftes im Sinne ber römifdien XDclrfjerr* 
fdjaft, Sefyr früfye fdjon Bjat in ber abenblänbifdjen fjälfte ber 
<Et|riftenB|eit ber lateinifdje <5etjt, ber <5eiji Hom's, eigentümliche 
ZTTobiftFationcn bes allgemein Katfjolifdjen bewirft. Sdjon feit bem 
2Cnfang bes britten 3afyrfyunberts fefyen wir, ba% bei ben latei» 
nifdjen Dätern ber <5ebanFe aufFommt, bas fjeil — mag es wie 
immer bewirFt unb befdjaffen fein — werbe in 5orm eines Per* 



— 156 — 

träges unter bcfHmmten Bebingungen unb nur nadi ZTCaßgabe 
ifyrer Beobachtung ©erliefen, es fei „salus legitima"; in 5er 5cft- 
Teilung biefer Bedingungen fyabe bie <5ottE}eit ifyre Barm^erstgfett 
unb ZTadtfidjt befunbet, aber um fo eiferfüditiger n>adje fie über 
tfjre Befolgung, ferner, ber gan3e ©ffenbarungsiri^alt ifl „lex"/ 
bie Bibel fotoofyl als bie (Crabitton. IPeiter, biefe Crabition £?ängt 
an einem Beamtenflanb unb an ber richtigen Succefjion biefer 
Beamten. Sie „ZlTYftericn" aber fhtb „Saframente", b. fc. einer- 
feits finb fte oerpflidjtenbe fjanblungen, anbererfeits enthalten fic 
befttmmte (ßnabenftücfe in genau umfdpiebener 5orm unb in präst- 
fterter 2lnu>enbung. IDeiter, bie Bu§bis3iplin ifl ein redtflidj ge- 
orbnetes Derfafyren, roeldjes jtdj an bie pro3effe im Sioilredjt unb 
bei ber Beleibigungsflage anlehnt. <£nblidj, bie Kirche iß Hechts« 
anftalt; fte ift bas nidjt nur neben ifcrer 5unftion, bas ^eil 3U 
bewahren unb aus3ufpenben, fonbern um btefer5unftionn>tllen 
ift fie Hedjtsanjtalt. 

Hedjtsanftolt aber iß fie als ©erfaßte Kirche. Wxv muffen 
uns über biefe Dcrfaffung fur3 orientieren; ifyre (5runblagen jtnb 
ber öftlidjen unb toeftlidfcn Kirche gemeinfam. Ztadfbem ftdj ber 
monardjifdje Cpiffopat entu>ic!clt Blatte, begann bie Kirche ifyre 
Pcrfaffung an bie ftaatltdje 21bminißration an3ulefyten. 2)er ZUetro- 
polttanperbanb, an beffen Spifee in ber Hegel ber Bifdjof ber pro- 
oin3ial^auptftabt ftonb, entfpradj ber prot>in3ialen (Einteilung bes 
Beid>s. Darüber hinaus entoicfelte pdf im ©rient bie firdjlidje 
Perfaffung nodj um eine »eitere Stufe, inbem fte ftdj an bie biofle- 
tiamfdieBeidjscinteilung, bie große <5ruppen x>onprooin3en 3ufammcn« 
faßte, .anfdjloß* So entftanb bie patriardjatsoerfaffung, bie jebocfy 
ntdjt gan3 ßreng burdjgefütjrt unb burdj anbere Hücfftdjten teil* 
reeife burd]frcu3t toorben ift. 

3m Hbenblant) tarn es nidjt 3U einer (Einteilung in patri- 
avdtatc; bagegen trat ctroas gan3 anbexes ein: bas tsefkömif dje 
Beidj ging im fünften 3d^rl|unbert an innerer Sdjtoädfe unb burdj 
bie Einfälle ber ^3avbaxen 3U (Srunbe. IDas com Bömifdjen naefy- 
blieb, bas rettete ftdj in bie römtfdjc Kirdje — ber ortfyobo^e (ßlaube 
gegenüber bem arianifd>en, bie Kultur, bas Hedjt. Sidf 3um 
römtfdjen Kaifer auf3uu>erfen unb in bas leer geworbene (Belaufe 
Des 3ntperiums eh^ietjen, bas toagten aber bie Barbarcn^äupt* 
linge ntdft; fte grünbeten ifyre eigenen Betdje in bm prooi^en. Unter 
btefen ilmftänben erfdjien ber römtfdje Bifdjof als ber fjüter ber 



— 157 — 

Vergangenheit unb als ber fjort ber gufunft. Überall in ben von 
ben 23arE*aren oecupierten prorrin3en — audj in foldjen, bie früher 
ifyrc Selbftänbigfeit troftig gegenüber Hont behauptet Ratten — 
blieften nun 23ifdjöfe unb Caien auf iljn* ZDas Sarbaren unb 21rianer 
in ben prosi^en an Bömifdjem befielen liefen — unb es toar nid?t 
tr>eniges — , umrbe ocrfirdilidjt unb 3ugleidf unter ben Schüfe bes 
römifdjen Sifdjofs gefteüt, bes pornefymften Homers, feit es einen 
Kaifer nidjt mefyr gab. 3" Born aber faßen im fünften 3<*fyr- 
I^unbert HTänner auf bem bifdjöf liefen Stufyl, bie bie &e\&\en & cr 
Seit serftanben unb ausmieten. Unter ^er £}anb fd}ob fidj fo 
bie römifdje Kirdje an bie Stelle bes römifdjen IDelt« 
reidjs; in iijr lebte biefes Bcidf tfyatfädilidj fort; es ift nidit 
untergegangen, fonbern t^at [xd\ nur pertoanbelt. Xüenn mir behaupten 
— unb 3toar nodj für bie <5cgenu>art gültig — , bie römifdje Kirdje fei 
bas burdj bas Coangelium geroei^te alte römifdje Beidj, fo ift bas 
feine „geiftreidje" Bcmerfung, fonbern bie^tnerfennung eines gefdjidjt' 
liefen ILiiaibeftanbes unb bie 3utreffenbfte unb frudjtbarfte <£tjaraf« 
terifti? biefer Kirche. Sie regiert nodj immer bie Völfer; ifyre päpfte 
^errfdjen tr>ie <£rajan unb ZHarf 21urel; an bie Stelle oon Homulus 
unb Bemus finb petrus unb paulus getreten, an bie Stelle ber 
profonfutn bie <£r3bifd?öfe unb Sifdjöfe; ben Cegionen entfpredjen bie 
Sparen x>on prteftem unb ZHöndjen, ber faifcrlidjen £eibu>adje 
bie 3^fuiten. 33is in bie Details hinein, bis 3U ei^clnen Hechts- 
orbnungen, ja bis 3U ben (ßetoänbern läßt ftdj bas 5orttoirfen bes 
alten Beidjs unb feiner 3ttftiiutionen verfolgen. Das ift feine Kirche 
tpie bie eoangelifdjen (ßemeinfdjaften ober n>ie bie Dolfsfirdjen bes 
(Orients, bas ift eine politifdje Schöpfung, fo großartig a>ie ein 
XtMtreidj, iceil bie 5ortfefeung be£" römifdjen Beidjs. Der papft, 
ber ftdj „König" nennt unb „Pontifex maximus", ift ber Xlad\\ olger 
Cäfar's. Die Kirdje, fcfyon im 5. unb %. 3afyrf}unbert 9«n5 r>on 
römifdjem (Seift erfüllt, fyat bas römifdje Beidj in fid} uueber l?er< 
geftellt. 3 n a ^ c " 3afytf?unberten feit bem 7. unb 8. liaben es 
patriotifdie Katfyolifen in Born unb Italien nidit anbers oerftanben. 
2Lls (ßregor VII. in ben Kampf mit bem Kaifertum trat, feuerte i^n 
ein italienifdjcr prälat alfo an: 

ZTimm bes erften 21poftels Sdjioert, 
petri glü^enbes Sdftoert, 3ur fyanbl 
Sridj bie HTadjt unb ben Ungeftüm 



— 158 — 

Der Barbaren: bas alte 3odj 
£aß fte tragen für immer dar! 

Siel}', tote groß bie (Benxilt bes Banns: 
Utas mit Strömen oon Kriegerbhit 
<£injhnats Hlarius' fjelbenmnt 
Unb bes 3»Jius Kraft erreicht, 
IDirf ji bu jefet burdj ein leifes XDort 

2?om, pon neuem burd? bidj erhofft, 
Bringt bir fdjulbigen DanF; es bot 
Zlicrjt ben Siegen bes Scipio, 
Keiner tEfyat ber (Quinten je 
H)oI)foerbienteren Krans als bir! 

Wev w'xxb fyer angerebet, ein Bifdjof ober ein Cäfar? 3^? 
benfe ein (Eäfar ober pielmcljr ein priejkrlidicr Cäfar; fo mürbe es 
cmpfuuben, unb fo n>irb es nodj Ijeutc empfunben. €r berjerrfdjt 
ein Seid? — alfo ijt es audj ein Perfud? mit untauglichen IDaffcn, 
biefes Hcid] bloß mit bem Hüföeug bogmatifdjer polemif ansugreifen. 

Die ungeheuren Konfcquen3cn ber (Efiatfadfe: bie fatrjolifdje 
Kirdjc ift bas römtferje ZDcltreidj, permag id? t^icr nidjt bar3ulegcn. 
ZTur ein paar 5olgerungcn, tocldic bie Kirche felbft 3ierjt, feien an- 
geführt. Diefer Kirdje ift es ebenfo roefentlid?, Hegierungs- 
geroalt aus3uüben, n>ic bas <£oangelium 3U oerfünbtgen. 
Das „Christus vincit, Christus regnat, Christus triumphat* ijt 
politifd) 3U perjterjen: er ijcrrfdtt auf Crbcn, inbem feine pon Hom 
geleitete Kirdic rjerrfdjt, unb 3tbar burdj Hcdjt unb <5crpalt, b. fy 
burdi alle bie mittel, beten ftdf bie Staaten bebienen. €s folt barjer 
aucrj feine 5römmigfeit geben, bie ftdj nidjt allem 3UPor biefer papjt- 
firerje unterwirft, oon ifyr approbiert roirb unb in ftetiger Slbfyängig- 
feit oon irjr bleibt Diefe Kircr/e lerjrt ifyre „Untertanen" alfo 
fpred)en: „Wenn idj alle (Scrjeimniffe müßte unb rjätte allen <5Iaubcn, 
unb roenn id| alle meine fjabc ben Firmen gäbe unb ließe meinen 
£eib brennen unb rjätte bie Cinfyeit in ber Cicbe nidjt, bie allein 
ans bem unbebingten (Scfyorfam gegen bie Kirche fließt, fo rjätte 
icb nid]ts." 2111er <51aube, alle Cicbe, alle (Eugenben, felbft bie 
ZlTartyrien finb außerhalb ber Kirdjc wertlos. Ztatürlidj — audj 
ein irbifdier Staat fdjäfet nur bie Derbicnfte, bie man ftd? um irm 



— 159 — 

fclbft erworben liat. Diefer Staat aber ibentifaiert pdi mit bem 
Himmelreich; im übrigen pcrfäfyrt er wie anbere Staaten audj. 
Don I}ier aus mögen Sie feibft alle Stnfprüdje ber Kirche ableiten; 
fie ergeben ftdj ofyne Sdjwierigfeit. 2Iudj bas Cyorbitantefte er- 
fdjeint als bas Selbjtpcrftänblidje, fobalb nur bie beiben ©berfäfee 
richtig ftnb: „Die römifdje Kirdje ift bas Heidj (Sottes", unb „bie 
Kirche muß wie ein irbifdjer Staat regieren." Daß audj djriftiidje 
ITCotipe in biefe gan3e Cntwicflung mit hinein gefpielt \\abzn — 
ber IDille, bie djrißlidje Heligion wirFlidj mit bem £eben in Perbin- 
bung 3U fefeen unb alle Pcr^ältniffc von üjr burdfbringen 3U laffen, 
fowie bie Sorge um bas ^eil ber eht3elnen unb ber Dölfer — , foll 
nidjt geleugnet werben. Wie pieie ernfie Fatfyolifdje <£^riften haben 
toirflidi nichts anbexes gewollt, als bie fjerrfcfyaft (Zfycifti auf firben 
auf3urid]tcn unb fein Heidi 3U bauen! allein fo gewiß fie burdj 
biefe 2Xt' ficht unb bie (Energie ifyrer Arbeit ben (ßriedjen überlegen 
gewefen finb, fo gewiß ift es ein fdjweres ZlTißpcrftänbnis ber 2ln- 
weifung (Ojrifii unb ber 2lpoftel, bas Heidi (Sottes burdj politifdjc 
ZTTittel fyerbeifüfyren unb bauen 3U wollen. Diefcs Heidi Fennt feine 
anberen Kräfte als religiöfe unb fittlidje unb ftefyt auf bem Soben 
ber 5rei^eit. Die Kirche aber, bie wie ein irbtfdjer Staat auftritt, 
muß alle IHittel besfelben, alfo audj perfdflagcne Diplomatie unb 
(Scwalt, brauchen; benn ber irbifdje Staat, felbji ber Hedjtsftaat, 
muß unter Umftänben 3um Unredjtsftaat werben. Die CntwicFIung, 
bie bie Kirdje als irbifdjer Staat genommen fyat, mußte fie bann 
folgerecht bis 3ur abfoluten HTonardjie bes papjles unb bis 3ur 
UnfefylbarFeit besfelben führen; benn bie UnfcfylbarFeit bebeutet in 
einer irbifdjen CfyeoFratie im (ßrunbe nichts anbexes als bas, was 
bie polle Souveränität in bem ZDeltjtaate bebeutet. Daß aber bie 
Ktrdje por biefer lefeten Konfequen3 nidjt 3urücFgefdjrecFt ift, ift ein 
beweis, in welchem ZTCaßc bas ^eilige in xfyc perweltlidjt iß. 

Saß nun biefes 3weite Clement bie djaraFterifiifdjen <5üge bes 
Katljoli3ismus im 2lbenblanb — ben (Erabitionalismus, bie ©rtljo- 
boyie, ben Hitualismus unb bas HTönditum — burdjgreifenb per- 
änbern mußte, ift offenbar. Der tErabitionalismus gilt nadj wie 
por; wenn aber ein Clement in ifym unbequem geworben ift, fo 
fällt es, unb ber IDiüe bes papftes tritt an bie Stelle: „Die (Erabition 
bin tdj", foll pius IX. gefagt Bjabcn. 5crner bie „redjte Cefyrc" 
ift nodf immer ein fjauptftücF; aber bie Kirdjenpolitif bes papjtes 
permag fie faftifdj 3U änbern; burdj Fluge DiftinFttonen l]at fo 



— 160 — 

manches 2>ogma einen ankern Sinn erhalten; audj neue Dogmen 
roerben aufgeftcllt; bte £efyre ip in tneler fjinpcrjt arbiträr ge« 
roorben, unb eine ungefüge 5ormel in ber Glaubenslehre fann biirdj 
eine fonträre SInroeifung in ber fitrjif unb im Seicrjtpurji aufgehoben 
roerben. Überall fönnen bie fejten £inien ber Vergangenheit 3U 
iSunftcn gegenwärtiger Sebürfniffe aufgelöft roerben. Dasfelbe gilt 
roie com Hitualismus fo audj 00m ZlTöncf|tum. 3df tonn Bfier 
nidjt nadjroeifen, in roeldjem UTafje, feinesroegs immer nur 3U feinem 
ZTadjteil, bas alte Znöndjtum pdj Bjier r>cränbert, ja pdf in großen 
(Erfdjeinungen gerabe3u in fein (ßegenteii oerroanbelt fyat. Dicfe 
Kirche bepfet in irjrer ©rganifation eine 5äfyigfeit, pdf bem ge* 
fdjicrjtlidjen (ßang ber 2)inge an3upaffen, roie feine anbere: pe bleibt 
immer bie alte — ober erferjeint boerj fo — unb roirb immer neu. 

2>as britte Clement, roeldjes ben (ßeift biefer Kirche djaraf« 
teripifdf beftimmt fyat, ip bem eben befprodjenen entgegengefefet unb 
Bjat pdf bodj neben ifym behauptet: es tp burdj bie ZTamen 
2lugupin unb 2luguj!inismus be3eidmet. 3™ 5..3a^rB)unbert, 
in berfelben Seit, in roeldjer biefe Kirdje pdf anfdficfte, bas römifdfe 
Heidf 3U beerben, E^at pe einen religiöfen (Benins r>on aufcerorbent* 
lieber Ciefe unb Kraft erlebt, ift auf feine <£mppnbungen unb 3been 
eingegangen unb vermag pe bis auf ben heutigen lag nietet ab» 
3ufto§en. €s ift bie roidftigfte unb rounberbarpe CEfatfadfe in ibrer 
ißefdfidfte, bajj pe gleichzeitig cäfartfdf unb auguftinifdf gc roorben 
ift. ZDas ift bas aber für ein (Seift unb eine Hidftung geroefen, 
fcie pe burdf 2luguftin empfangen fyat? 

ZXun ^»näcfrft f aiu giifttn 's 5römmigfeit unb Crjeologie 
bebeuteten eine eigentümliche ZDicbererroecfung ber pau- 
linifdfen (Erfahrung unb Ccrjre r>on Sunbe unb <5nabc, 
von Sdfulb unb Hedftfcrtigung, r>on göttlicher präbefti« 
nation unb menfdflidfer Unfreiheit. IDäEfrenb biefe (Erfah- 
rung unb Cefyre in ben ©ergangenen 3<*fyrlmnbertcn perloren ge- 
gangen roaren, erlebte 2luguftin in feinem 3^nercn bxe firlebniffe 
bes 2lpoftels paulus, brachte pe auf ärmlidfe ZDeife roie biefer 3ur 
Slusfpradfe unb faßte pe in beftimmte Begriffe. Don bloßer TXadi* 
atfmung ip fyier nidft bie Hebe — bie Untcrfdfiebe pnb im ci^einen 
rfödfft bebeutenb, 3umal in ber 2Iuffaffung ber Hedftfertigung, bie 
pdf für 2faguftin als ein ftetiger pro3ejs barftclltc, bis bie Ciebc 
unb alle Cugenben bas £fer3 gan3 ausfüllen; aber roie bei 



— 161 - 

paulus ijt alles inbipibuell erlebt unb alles innerlid? gebadet. ZDenn 
Sie feine Konfefftonen lefen, fo tperben Sie trofc aller Hfyetorif, bie 
nidjt fefylt, erFennen, bajg fyer ein (Benins fpridjt, ber (Sott, ben 
gcijn'gen (Sott, empfunben fyat als ben 5cls unb als bas g>\e\ feines 
£ebens, ber nadj ifym bürftet unb auger ifym nichts begehrt Unb 
rpeiter, all bas, tx>as er Crübcs unb furchtbares an ftdj erlebt fyat, 
alle ^erfpaltung mit ftdj felbft unb ben gan3en Dienst bes per- 
gängltdien ZDefens, bas „ftüdtpeife «gefallen an bie ZDelt" unb 
bic mit bem Perlujt ber 5*eil}eit unb Kraft besagte ©genfudjt — 
bas führte er auf eiwe Wuv$el 3urüd: Snnbe, b. k* ZTfangel an 
(Sottesgemeinfdjaft, (Sottloftgfeit. XDieberum aber bas, was iBjn 
losgeriffen fyat aus ber Verflechtung mit ber ZDelt, aus ber (Eigen- 
fudjt unb bem inneren Perfall, tx>as xfyn Kraft, 5^eiE|eit unb ein 
<£tt>igfeitsbetx>uJ3tfein gegeben fyat, bas nennt er mit paulus (Snabe. 
ZMit tlnn emppnbet er audj, ba% fte gans unb gar <5ottes IDcrF 
ift, bafa er fte aber burdj unb an (Efyrijhts gewonnen fyat unb als 
Sünbenoergebung unb (Seift ber Ciebe beftfet. Diel unfreier unb 
ff rupulöfer jebodf als ber grojjje 2lpoftel achtet er auf bie Sünbe — 
bas giebt feiner religiöfen Sprache unb allem, was von xfyn 
ausgegangen ijl, eine gan3 befonbere 5ärbung* „3^ fajfo *>gs 
bafyinten ifl, unb ftrede midi nad\ bem, n?as por mir liegt" — 
biefe apoftolifdje TXlapme ift nidjt bie Sluguftin's. (Setröjietes 
Sünbcnelenb — biefe 5<*rbe behält fein gan3es CEjrijtentunu 
gum (Scfüty ber fyerrlidjen 5reifyeit ber Kinber (Sottes fyat er ftdj 
nur feiten auf3ufd|toingen permodjt, unb a>o er es permodjte, pon 
ifyr nidtf fo 3eugen Fönnen arie paulus. 2lber bie Cmpftnbung bes 
geiröfteten Sünbenelenbs ^at er mit foldjer Kräftigfeit bes (Sefüljls 
unb in fo fynreijjjenben XDorten ausbrüden tonnen wie Feiner por 
üjm; nodj mefyr — er ijat mit biefer 21usfage bie Seelen pon 
ZHillionen fo ftdjer 3U treffen, ifyre innere Perfaffung fo genau 3U 
befdjreiben unb ben (Eroft fo einbrudspofl, ja übertpältigenb por- 
3ufteflen permodjt, ba$ feit nun J500 3ö^ren bas immer wxebet 
erlebt ipirb, tpas er erlebt fyal Bis auf ben heutigen (Tag ijl 
im Katfyoli3ismus bie innere, lebenbige 5römmigfeit 
unb ifyre 2lusfpradje gan3 tpefentlidj auguftinifdj. Von 
feinen Cmpfinbungen ent3Ünbet, empftnben fte roie er unb benten 
mit feinen (SebanFen* Sei pielen protejtonten, unb nidft ben 
fdjleditejten, iß es nidjt anbers* Diefes (Sefüge pon Sünbe unb 
(Snabe, biefes 3neinanber pon (Sefüfyl unb teilte fdjeint eine 

Qarnacf, Pas tPefen bes Ctjrtftentums. 11 



— 162 — 

unt>enr>üfHicr?c Kraft 311 Bcfifecn, ber bie ^cit nichts an3urjaben ver- 
mag; biefes fd)mcr3(idi*felige <£mpfmben bleibt benen unoergeffen, 
bie es einmal erlebt fyaben, unb, u>cnn fte ftdj audi fclbß naditräg» 
lidj von ber Religion eman3ipiert fyabzn, ift es irjnen eine ^eilige 
Erinnerung. 

Diefen „2luguftin M rjat bie abcnblänbifdfe Kirdje, eben als 
fte pdf 3um antritt ber ^errfdjaft anfditcfte, in ftdj aufgenommen, 
aufnehmen muffen. Sic toar ifyn gegenüber gan3 rDcfyrlos; fte 
rjatte itnn aus ifyrer lefeten Vergangenheit fo roenig innerlidj XDcrt* 
oottes entgegenstehen, ba^ fte roillcnlos Fapttulierte. So ift bie 
erftaunlidje „complexio oppositorum" im abenblänbifdjen Katfyoli« 
3ismus entftanben: bie Kirche bes Hitus, bes Hecfjts, ber PolitiF, 
ber XDcltrferrfcrjaft, unb bic Kirdje, in rocldjer eine ^öctjft inbi- 
oibucüe, 3arte, fublimierte Sünben- unb <5nabcnempftnbung unb 
•Cefyre in IDirFfamfcit gefefet roirb. T>as äußerlidjfte unb b>as 
3unerl teufte f ollen pdf r>erbinben! (5an3 aufrichtig fonntc bies r>on 
Anfang an nicf|t gefdicrjen; bie innere Spannung unb ber IDifcer* 
ftreit mußten fofort beginnen; bie <5efdu'cr{te bes abcnblänbifdjen 
Katrjoli3ismus ift r>on ifym erfüllt. 2lber bis 3U einem gennffen 
(Srabe ftnb bie (Scgenfäfee vereinbar, roenig ftens in benfelben 
UTenfdjen oereinbar. Das bc3eugt fein Geringerer als 21uguftin 
felbft, ber aud} ein entfdfloflcner Kirdjcnmann getr>efen ift, ja bas 
Slnfeljcn unb bie ZHacrtt ber Süßeren Kirdje famt itjrcr gan3cn 
Slusftattung aufs Fräftigftc geförbert rjatl Wie tfym bas möglid) 
geroefen ift, bas vermag id? rjier nicr/t aus3ufürjren; ba% innere 
IDiberfprücrie babei niety fehlen tonnten, liegt auf ber tyanb. Wiv 
Fonftatieren nur noefj bas Doppelte: crftlidi, ba% bic äußere Kirdje 
ben innerlichen 2lugufttnismus immer mebr 3urücFgebrängt, umgc« 
roanbclt nnb mobifeiert fjat, ofyte ifyt bod} gan3 austilgen 5U 
Fönnen; 3tx>ettens, bafa alle bie großen perfönlidtfeitcn, bic in ber 
abenblänbifdjen Kircf/e immer roieber neues £cben ent3Ünbet unb 
bic 5^ömmigfeit gereinigt unb ©ertieft rjaben, bireFt ober tnbircFt 
r>on 21uguftin ausgegangen ftnb unb ftd} an irjm gebilbet rjaben. 
Die lange Kette Fatrjolifdjcr Heformer r>on Slgobarb unb (Oaubtus 
oon (Turin im 9« 3<*fcf}unbert bis 3U ben 3anfcnijien bes \7. unb 
18. 3a*)rf?unbcrts unb über fte rjtnaus ift auguftimfdj. Unb wenn 
bas tribentinifcrie Kon3Ü mit Bedjt in pieler £}inftd}t ein Beform- 
!on3il genannt roerben barf, trenn bort bie Cefyre von Sünbe, 



— 163 — 

Buße unb (Snabe viel tiefer unb innerlicher formuliert tvorben tft, 
als man nadj bem Stanbe ber fatrjolifcrjen Cfyeologic im \$. unb 
\5. 3<*fyrfyunbert ercvarten burfte, fo verbanft man bas lebiglid] 
bem 5ortu)irfen ^lugufim's. Die Kirdje fyat freiließ trjrer roefent* 
ixdi nadj 2lugujtin entworfenen (Snabenlefyre eine prarjs bes Beidjt« 
ftufyls 3ugeorbnct, bic jene Ccfyre völlig umvirffam 3U machen brofyt. 
2lber fo toeit fic ifyre (Sre^cn audj 3iefyt, um alle bie bei ftdi 
behalten 3U fönnen, bic ftdj ntcr/t tviber fte auflehnen, fo bulbet fte bodj 
nidjt nur foldje, meldte Sünbc unb (Snabe beurteilen tvie 2luguftin, 
fonbern fte roünfdjt, ba$ tvomöglid} jeber ben (Ernft ber Sünbe unb 
ber SeligFeit, (Sott an3ugefyörcn, fo jtorf empftnben möge toie er. 
Dies ftnb bie tvefentlidjen ZRomentc bes römifcfjen Katfyoli- 
3ismus. Sefyr viel anberes tväre nodj 3U nennen, aber bie fjaupt- 
ßikfc finb bamit be3eicrjnct. 

lOir gefycn 3ur legten 5*age über: IDeldje ZHobiftfattoncn E^at 
bas (Evangelium r?icr erlebt, unb tvas tft von ifym geblieben? 
ZXun — barüber braucht es nidjt vieler XDorte — in allem, tvas 
ftd7 bjer als äußeres Kirdjentum mit bem 2lnfprudf auf gött* 
ix die Dignität barflcllt, ferjlt jeber Sufammcnfyang mit bem 
(Evangelium. <£s Bjanbclt ftdj nierjt um Aufteilungen, fonbern um 
eine totale Perfefyrung. Die Heligion ijt bjer in eine frembe Htcrj* 
tung abgeirrt IDie ber morgenlänbifdie Katfyoli3ismus in merjr 
als einer fjinftdjt 3utreffenber in bie gricdjifdfe Heligionsgefdjidjte ein» 
cjcftellt tvirb als in bie (Sefcrjicfjte bes (Evangeliums, fo mu§ ber 
römifer/e in bie (Sefdjidftc bes römtfcfjen IDeltreidjs eingeteilt 
tverben. Seine Behauptung, (Efyriftus fyabe ein Seid? geftiftet, bas 
fei bie römifdjc Kirche, unb er fyabe biefe Kirche mit bem Scfjtvert, 
ja mit 3tvci Sdjtvertern ausgejtottet, bem geiftlidjen unb bem tvelt» 
liefen, fäfulariftert bas Evangelium unb vermag jtdj nidjt burdj 
&en fjimveis 3U beefen, in ber Znenfd^eit folle bodj ber (Seift 
(Djrijtt rjerrfdjen* Das (Evangelium fagt: „<£fyrifti Heidi ijt nid)t 
von biefer IDelt," biefe Kirdje aber l\at ein trbifdjcs Heidi aufgerichtet; 
Cljrifhxs verlangt, bajj feine Diener nierft fyerrfdjcn, fonbern bienen, 
biefe priefter aber regieren bie XDelt; (Erjriftus füE^rt feine junget 
aus ber politifdjen nnb ber ceremoniöfen Heligion heraus unb 
ftellt jeben vor bas ^Ingeftcrjt (Sottcs — (Sott unb bie Seele, bic 
Seele unb ifyr (Sott — , rjier bagegen tvirb ber ZHenfdf mit ui^cr« 

11* 



— 1G4 — 

reifebaren Ketten an ein irbifdjes 3njtitut gebunden unb foH gc- 
fyordjen; bann erfl mag er pd) (Sott nafyen. <Einfi rjaben bic 
römtferjen (Dpijten öpr Blut pergoffen, i»eü fie bem Cafar bie An- 
betung penveigerten unb bie politifd?e Heligion perfcrjmäljten; ijeute 
beten fie juxar einen irbifd)en Ijerrfdier nierjt gerabesu an, aber fie 
traben ifyre Seelen bem Z)Tad)tgebot bes römtfdjen papjtfömgs 
unterworfen. 






Mnftrfjttfe $JDrIfcJung* 



Der römifdje Katfyoli3ismus als äußere Kirdje, als ein Staat 
bes Hedjts unb ber <Sert>alt, Ijat mit bem (Evangelium nidjts 3U 
tfjun, ja uriberfpridft ifym grunbfäfclidj: barauf labert toir am 
Sdjluß ber lefeten Porlefung ljingert>iefen. Vaft biefer Staat ftcf? 
pom (gpangelium ijer einen göttlichen Schimmer borgt, unb Seift 
biefer Sdjimmer xfym aufjerorbentlid) nüfclidj tft, fann bas Urteil 
nidjt umjioßen. Die Permifdjung bes <5öttlidjen mit bem ZDelt« 
liefen, bes 3nnerlid$en mit bem politifdjen ijt ber tieffte Schabe, 
rocil bie (ßetpiffen gefnedjtet u>erben unb bie Heligion um ifyren 
(£rnft gebraut u>irb — muß jte iljn nidjt verlieren, tüenn alle 
möglichen Maßregeln, bie ba3U bienen, bas irbifdje Heidj ber 
Kirche 3U erhalten, als ber göttliche ZDiUe proklamiert toerben, 
3. 3. bie Souoeränetät bes papjtes? 21ber man tpeift bar auf i^in, 
baft eben burdj bie felbftänbige Haltung biefer Kirdje bie Seligion 
im 2lbenblanbe bapor gefdjüfct u>orben fei, gan3 bem Polfstum ober 
bem Staate unb ber poli3ei 3U verfallen» Diefe Kirdje i\at, fo 
fagt man, ben BjoBjen <5ebanfen ber ooHen Selbftänbigfeit ber Heli- 
gion unb ifyrer UnabBjängigfeit 00m Staat aufredet erhalten, ZTCan 
fann bas 3ugeben; aber ber preis, bm bas 2lbenblanb für biefeu 
Dienft fyat 3aBjlen muffen unb nodj immer 3afylt, ift oiel 3U Bjodj: 
ben Dölfern brofyt ber inner lidje Sanferott, fo groß ift ber tEribut, 
unb ber Kirdje — für fte iß bas Kapital, bas jte gewonnen Ejat, 
in ZDaEjrfjeit ein freffenbes Kapital. £angfam solfyeBjt fxd\ ein 
proseg ber Verarmung ber Kirdje bei allem fdjeinbaren gur»adjs 
an ZTCadjt, ' langfam aber ftdjer, (ßeftatten Sie mir Ijier einen 
frühen fijfurs* 



/ 



— 166 — 

Wev bie politifdje Cage ins 21uge faßt, tote jte eben jefet befielt, 
fyjt genug feinen (ßrunb, bie abnefymcnbe TXladit ber römifd?cn 
Kirche 311 fonjlaticreu, tPcldjeu §\xwad\s E^at fie im J9* 3afy> 
Ejunbert erlebt! Unb bodj — ein fdjarfes 2luge geuxtEjrt, bag jte 
läugfi nidjt meEjr über foldj eine $üHc pon Kräften gebietet, tüte 
im 12, unb J3. 3<*E|rE}unbert. damals ftanben alle materiellen 
unb geiftigen Kräfte 3U iEjrer Perfügung, 3ntenfit> Ejat feitbem, 
aufgehalten burdj einige fur3e cgpodjen bes 2luffd]n?ungs tüie 
3rx>ifcften \5^0 unb \620 unb im \ty. 3aE)rEjunbert, ein unge- 
heurer Hücfgang ftattgefunben, Seforgte unb ernjte KatEjo- 
Iifen DerEjcEjlen ftdj bas nidjt; jte triffen unb erflären, ba% ein 
roidjtiger (teil bes geiftigen Sejtfces, ber 3ur fjerrfdjaft ber Kirche 
notoenbig iji, ifyr abEjanben gefommen fei. Unb weitet — rote 
jkEjt es mit ben romanifdjen Nationen, bie bodj bas eigentliche 
(ßebiet ber fjerrfdjaft biefer römifdjen Kirdje bilben? ©rcc roirf« 
lidje ©roßmadjt ift nur nodj eine einige von xfyxen 3U nennen, 
unb trie tsirb es nad\ einem ZTCenfdjcnalter ausfegen? Diefe 
Kirche lebt als Staat Ejcute 3U einem nidjt geringen (teil oon iEjrer 
(ßefdiidjtc, ifyrer altrömifdjen unb ifyrer mittelalterlichen, unb jte lebt 
als bas römifdje Heidj ber Homanen; Hcidje aber leben nidjt erx>ig. 
XDirb bie Kirdje fäEjig fein, jtdj in bem 3ufünftigeu Xlmfdjroung 
ber Dinge 3U behaupten, trirb jte bie fortfdjreitenbe Spannung mit 
bem geiftigen Heben ber Dölfer ertragen, roirb jte ben Hücfgang 
ber romanifdjen Staaten Überbauern? 

Dodj laffen u>ir biefe 5^agen auf jtdj berufen. Crinnern unr 
uns pielmeEjr, ba% biefe Kirche in ifyrem ZlTönditum unb iEjren 
religiöfen Vereinen, oor allem aber Vant bem 2lugujtinismus ein 
tiefes unb lebenbiges Clement in iEper ZHitte Ejat &vl allen Reiten 
Ejat jte ^eilige er3eugt, fotseit 2TJenfdjen fo genannt tperben fönnen, 
unb ruft jte nod? jefct Ejerüor. (ßottoertrauen, ungefärbte Demut, 
(ßetmjgfyeit ber cgrlöfung, Eingabe bes £ebcns im Dienfte ber 
trüber ift in iEjr 3U finben; bas Kreu3 (Efyrifti nehmen 3aE^lreidjc 
Srüber auf jtdj unb üben sugleidj jene Selbftbeurteilung unb jene 
5reube in (Sott, vo'xe jte paulus unb 21uguftin gewonnen Ejaben. 
Selbftänbiges religiöjcs Heben entsünbet jtdj in ber Imitatio Christi 
unb ein jteuer, bas mit eigener 51<*mme brennt. Das Kirdjentum 
Ejat bie Kraft bes fioangeliums nidjt 3U unterbrücfen oermodjt; 
trofo ben furdjtbarßcn £afien, bie auf basfclbc gerx>orfen jtnb, bringt 
es immer tr>ieber burdj. ZTodj immer roirft es u>ie ein Sauerteig* 



— 167 — 

Unb vok fann man serfennen, ba% biefe Kirche bidjt neben einer 
lajen ZlToral, beren fte ftdj oft genug fcfyulbig gemacht fyat, burdj 
ifyre großen mittelalterlichen (Ideologen bas fipangelium fruchtbar 
auf siele Pcrfyältniffe bes £ebens angetrenbet unb eine djriftlidje 
(£tt|i! gefdjaffeu Ijat? fjier unb anbersroo Ijat fte beroä^rt, ba% 
fie epangelifdjc (ßebanfen nidjt nur fo mit ftdj füfyrt, u>ie ein Sl\x% 
<5olbförner, fonbern ba% jte mit ifyr oerbunben jlnb unb ftdj in ifyr 
rociter entoicfelt fyabcn. Der unfehlbare papfi, ber „apoftolifdj« 
romifdje Polytheismus" ber Ejeüigenoerefyrung, blinber (ßefyorfam 
unb ftumpfe Depotion — jte fdjeinen alle 3nnerlid}Feit erftieft 3U 
haben, unb bodj ftnb audj in biefer Kircfye (Efyriften 3U ftnben, u>ic 
fie bas <2oangelium ertsecFt, ernfi unb Uebet>oH, erfüllt t>on 5reube 
unb ^rieben in <ßott finblidj, nidjt bas ift ber Schabe, ba% ftdj 
bas fipangelium überhaupt mit politifdjen 5ormen x>erbunbcn fyat — 
ZTTclandjtfyon toar fein Verräter, als er ben papft anerfennen trollte, 
tr>enu biefer bie reine Derfünbigung bes (Evangeliums 3uließe — , 
fonbern er liegt in berSanftififation bes politifdjen unb in 
ber Unfäfyigfeit biefer Kirche, bas ab3ujfreifen, tr>as einft unter 
befonberen gcfdjidjtlidjen Pcrfyältniffen 3tx>ecfmäßig toar, nun aber 
3um Ejemmnis gerx>orben ift. 

IDir fommen 3um lefeten 21bfd}nitt unferer Darftelhmg: 

25te djrtpItdjB Bßltgion im J£röfeflanftemu8* 

XDer auf bie äußere £age bes protejtantismus, namentlich in 
Dcutfdjlanb ftefyt, ber mag beim erften 21nblicf roofyl ausrufen : 21dj 
roie fümmerlidj! XDer aber bie (ßcfdjicfyte (Europas überfdjaut 00m 
2. 3afyrfjunbert bis 3ur (ßegenroart, ber wirb urteilen muffen, ba% 
in biefer galten tfScfdjidjte bie Heformatton bes \6. 3<*^fyunberts 
bie größte unb fegensrcid]fte Beilegung getrefen ijt; felbß ber Um- 
fcfyumng beim Übergang 3um \9* 3 a ^rfl un &*ri tritt hinter fte 3U- 
xüd. Was tüoHen alle unfre (Entbecfungcn unb (Erfinbungen unb 
unfre jfortfdjritte in ber äußeren Kultur gegenüber ber (Efyatfacbe 
befagen, ba^ fyeute breißig 2TttHionen Deutfdje unb nodj oiel mcfyr 
Millionen x>on (Efyrifien außerhalb Deutfdjlanbs eine Heligion fyaben 
oljne priefter, ofyte 0pfer, ofyne (ßnabenftücfe unb ^eremonicen — 
eine geiftige Heligion! 

Der proteftanttsmus muß in erfter £inie aus feinem (5egcn- 



— 168 — 

fafce 5um Katrjolijtsmus ©erßanben »erben, unb ^roar iß er fyer 
in doppelter Hidjtung $u toürbigen, erßlidf als Reformation unb 
3ix>citens als Hex>olution. Heformation iß er gcroefen in 3esug 
auf bie Xjeilsleljre, Heoolution in 8e3ug auf bie Kirche, ifyre Autori- 
tät nnb ifyren Apparat. Der proteßantismus iß fomit feine fpon« 
tane, gleidjfam burd] eine generatio aequivoca e^eugte €rfdjcinung, 
fonbern er iß, rote fdjon [ein Harne befagt, burd} bie unerträglich 
geworbenen ZTCißßänbe ber fatEjolifdjen Khrcfje fyeroorgerufen toorben 
unb iß ber Abfdjlufj einer langen Hei^e ifyn ©ero>anbtcr, aber 
unfräftiger HcformDcrfudie bes ZHittelalters. Betoeiß er bereits 
burdj biefe gefdn'ditlidje Stellung feine Kontinuität mit ber Per« 
gangentjeit,/ fo tritt biefe nodj ßärfer in feiner eigenen, ntdjt un3u« 
treffenben Behauptung 3U tEage/er fei in Bejug auf bie Heligion 
fein ^Teuerer, fonbern habe erneuert./ Aber auf bie Kirdje unb 
ir)re Autorität gefeljen, iß er un3tDeifelfyaft revolutionär aufgetreten. 
Alfo iß er in betben 23e3iefyungen 3U toürbigen. 

\. Deformation, b. fy. Erneuerung iß ber proteßantismus 
getpefen in 23e3ug auf ben Kern ber Sadje felbß, in 23e3ug auf 
bie Heligion unb barum auf bie fjeilslelfre. €s lägt ßdj bas 
©ome^mlic^ an brei punften 3etgen. 

Crßlid): Sie Heligion iß ljier toieber auf ßdj felbß 3urücf- 
geführt roorben, fofern bas (Evangelium unb bas itnn entfprecfyenbe 
religiöfe Erlebnis in ben ZJTtttelpunft gerücft unb oon frember «gu- 
that befreit roorben finb.J Aus bem ungeheuren, tDeitfdiidjtigen <5e« 
füge, bas man bisher „Heligion" genannt Blatte, aus jenem (5efüge, 
trcldjes bas Evangelium unb bas ZDeifyrjxtffer, bas allgemeine 
prießertum unb ben t^ronenben papft, ben Erlöfer Gjrißus unb 
bie ^eilige Anna umfaßte, iß bie Heligion herausgeführt unb auf 
ifyre tref entließen ^aftoren rebu3iert toorben, auf bas IDort <5ottes 
unb ben (ßlauben. Kritifdj umrbe biefe ErFenntnis geltenb ge- 
macht gegenüber allem, u>as audj „Heligion" fein unb ßdj glctd?« 
roertig mit jenen <5rö§cn oerbinben u>oUte. 3cglic^c tDirfiidj be« 
beutenbe Heformatiou in ber (Sefdjidjte ber Heltgionen iß m erfter 
€inie ßets fritifdje Hebuftion; benn im £aufe ifyrer gefdn'cijt- 
liefen Entoicflung 3iefyt bie Heligion, inbem ße ßdj ben Derijält« 
niffen anpaßt, fefyr oiel 5^tnbes an ßdj, probu3iert mit ifjm 3ufammen 
eine 5ülle von Sroitterfyaftem unb Apofrypbem unb ßcllt es not« 
gebrungen unter ben Schüfe bes Ejeiligcn. Soll ße nidjt üppig 
ocrtPtlbern ober in ifyrem eigenen bürren £aube erßtcfen, fo nmtj 



— 169 — 

ber Reformator fommen, ber jte reinigt unb fte auf jtdj felbjt 
3urüdfüljrt. Diefe fritifdjc Rebuftion Ijat im \6. 3<*fyrfyunbert 
Cutter ©otogen, inbem er ftegreidj erflärte: bie dirijtfidje Seligion 
ijt ein3ig gegeben in bem XDorte (ßottes unb in bem innem Er- 
lebnis, »eldjes biefem XDorte entfpridjt. 

Der 3toeite punft lag in ber bejHmmten 5affung bes „IDortes 
(ßottes" unb bes „Ertebniffes". 3enes „IDort" roar ifyn nidjt bie 
Kirdienleljre, audj nidjt bie Sibel, fonbern bie Perfünbigung r>on 
ber freien (ßnabe (ßottes in £l}riftus, bie b^n fdjulbigen unb ©er- 
3treifelnben ZTCenfdien fröfylidj unb feiig madjt, unb bas „Erleb- 
nis" u>ar eben bie (ßetpijjfjeit biefer ßnabz. 3m Sinne Cutters 
fa§t pdf beibes in einem Sa% 3ufammen: 3er 3Ut>erfidjtlid?e 
(ßlaube, einen gnpbigen (ßott 3U fyab*n. Damit — fo fyat 
er es erfahren unb fo fyat er es geprebigt — ijt ber innere Sroie« 
fpalt im ZITenfdjen gehoben , ber Drucf jeglidjcn Übels überumn- 
bm f bas Sdjulbgefütjl ausgetilgt unb trofc ber XlnooHfommen^ett 
ber eigenen Ceijlungen bie (ßetx>if$eit, mit bem ^eiligen <5ott 
untrennbar vevbunben 3U fein, gewonnen: 

Ztun toeig unb glaub* idj's fefte, 
3d? rüljm's audj oijne Sd^eu, 
Dag (Sott, ber £}ödift' unb 33c jte, 
RTein 5*eunb unb Pater fei, 
Xlnb ba§ in allen fallen 
Er mir 3ur Redeten jlefy' 
Unb bämpfe Sturm unb IDeHen 
Xlnb u>as mir bringet IDefy. 

Ztidfts anbercs foll geprebigt toerben als ber gnäbige (ßott, 
mit bem u>ir burdj (Efyrijhis üerföfynt jtnb, unb »ieberum nidjt 
Efftafen unb Diftonen gilt es, fein Überfdjtpang von (Befüllen tjl 
nötig, fonbem (Slaube foll ertpedt werben; er foll Einfang, XTCitte 
unb <£nbc ber gan3en 5^ömmigfeit fein* 3 n &* r Korrefponben3 
oon IDort unb (51aube tütrb bie „Rechtfertigung" erlebt; fte ijl 
barum bas fjauptftücf ber reformatorifdjen Derfünbigung; jte be- 
beutet nichts (ßeringeres, als burdj Cfyrijhis 5rieben unb 5reibeit in 
(ßott erlangt 3U fyahzn, £}errfdjaft über bie XDelt unb innere 
Eroigfeit. 

Das Dritte enblidf in biefer Erneuerung nxtr bie mächtige 



— 170 — 

Umbilbung, bie nun ber (ßottcsbtenft erleben mußte, ber bes 
€hi3elnen unb ber (Sottesbienft ber <ßemeinfd>aft. 3ener — bas 
wat offenbar — fann unb barf nidjts anberes fein als Setfyätigung 
bes <5 Ja üben s. „(Sott toiQ r>on uns nichts anberes als ben 
<51auben unb tüill audj nur burdj ben <5Iauben mit uns fymbeln": 
btefen Safe fyat Cutter un3cu?lige 2Tfale uneberljolt. T>a% ber 
2ttenfdj <5ott (Sott fein lägt unb ifym bie fifyre gtebt, tfjn als ben 
Pater ansuerfennen unb ansurufen — nur fo permag er iijm 3U 
bienen. 21lie übrigen ZDege, bie er auffudjt, um 3U tfym 3U fom« 
men unb ifyn 3U efyrcn, ftnb 3nru>cge, unb alle anbeten 23e3iefyungen, 
bie er fnüpfen tritt, ftnb pergeblidj. tUeldj eine ungeheure XHaffe 
ängftlidjer, Ijoffenber unb Ijoffnungslofer Dcrfudje u>ar nun abge- 
tan, nnb vocld] eine Umu>äl3ung im Kultus ^toar bamit gegeben! 
IDas aber oon bem (Sottcsbienft bes (Einsehen gilt, bas gilt genau 
fo oon bem gemeinfdjaftlidjen. 21udj ljier tjat nur bas Xüort 
(Sottes unb bas (Sehet einen plafe. Wittes anbere ift 3U oerbannen: 
bie gottesbicnftlidje (Scmcinbe foll in Danf unb £ob (Sott oerfün« 
bigen, unb fie foll ifyn anrufen. Darüber hinaus giebt es über« 
fyaupt feinen „(Sottesbienft". 

3n biefen brei Stücfen ift bas, was in ber Hcformation bie 
£}auptfadje n>ar, enthalten. Um (Erneuerung tjanbelte es ftdj; 
benn fte he$eid\nen nidjt nur, tsenn audj in eigentümlicher IDeife, 
eine 23ücffeljr 3um urfprünglidjen (Efyrijtentum, fonbern fte roaren 
audj im abcnblänbifdjeu Kat^oÜ3ismus felbjt porfyanben, wenn audj 
perfdjüttet unb oerbeefi 

23et>or roir aber tseiter gefym, gejtotten Sie mir 3u>et fur3e 
€£furfe, ZDir fagten eben, bie gottesbienßlidje (Semeinbe bürfe 
tljren (ßottesbienft ntdjt anbers feiern als burdj Perfünbigung bes 
IDortes unb burdj (Sehet Wir muffen aber nadf 21mx>eifung ber 
Reformatoren nodj f}tn3ufügen, ba§ jte audj als Kirche überhaupt 
fein anberes ZTTerfmal fjaben foll als bas, (ßemeinfdjaft bes ©lau« 
bens 3U fein, in u>eldjer bas Wott (ßottes redjt geprebigt nrirb — 
über bie Saframente bürfen u>ir ljier fdjtseigen, ba audj fie nad\ 
Cutter ifyre Sebeutung tebiglidj am Wott ^ahen. Stnb aber ZDort 
unb (51aube bie einigen ZHerfmale, fo f deinen bie im Redjte 311 
fein, weld\e fagen, bie Reformation fjabe bie fidjtbare Kirdje auf- 
gehoben unb eine unjidjtbare an bie Stelle gefefet. 21Hein biefc 
Se^auptung ift nidjt 3utreffenb. Die Unterfdjcibung einer ftdjt- 
baren unb einer unftdjtbaren Kirche flammt aus bem Mittelalter 



— 171 — 

bc3to. fdjon von 21uguftin. Vxe, u>eldje bie xoafycc Kirche als „bie 
gafyl ber präbeftinterten" befinierten, mußten ifyre. DoHfommene 
tfnjtdjtbarfett behaupten. Tibet bie beutfdjen Reformatoren ^aben 
fte nidjt fo bejttmmt IDenn fte erflärten, bie Kirdje fei eine <ße< 
meinfdjaft bes (ßlaubens, in ber bas Wovt (ßottes redjt cerfünbigt 
roirb, fo fyäben fie bamit alle grobfhtnüdjen ZTCerfmale abgelehnt 
unb fo bie ftnnenfäfligc Sidjtbarfeit atlerbings ausgefdiloffen; aber 
— um einen Pergleidj 3U brauchen — u>er nrirb eine geiftige 
(Semeinfdjaft 3. 23. ©on gleich jlrebenben 3^ngem ber IDiffenfdjaft 
ober oon Patrioten besfyalb für „unftdjtbar" erMären, »eil fte 
feine äußeren ZTCerfmale bejtfct unb nidjt mit ben 5ingern abge3äfylt 
»erben fann? (Ebcnfotsenig ifi bie eoangelifdje Kirche eine ,,uu« 
ftdjtbare" {ßemetnfdjaft. Sie ift eine (ßemeinfdjaft bes (ßetftes, unb 
bafyer fteHt ftdj ifyre „Sidjtbarfcit" auf cerfdjiebenen Stufen unb 
mit cerfdjiebener Stärfe bar. <£s fann ZTTomente geben, in benen 
fte x>öHig unerfennbar ift, unb toieberum foldje, in benen fte fo 
fräftig in bie (Erfdjeinung tritt roie eine ftnncnfällige (ßröge. 2111er« 
bings, fo fdjarf umriffen fann fte niemals auftreten tme ber Staat 
x>on Denebig ober bas Königreich $ranfreidj — ein großer fatljo« 
lifdjer ©ogmatifer fyat biefe Dcrgleidjung in 3e3ug auf feine Kirdje 
für 3Utreffenb erflärt — ; aber als proteftant foH man u>ijfen, ba% 
man nidjt einer „unfidjtbaren" Kirche angehört, fonbern einer 
geiftigen (ßemeinfdjaft, bie über bie Kräfte, oerfügt, tüeldje geiftigen 
(Semcinfdjaften 3uftefyen, einer geiftigen (ßcmeinfdiaft auf (Erben, 
bie in bie <Etx>igfeit reidjt. 

Unb nun bas anbere: ber protefkmtismus behauptet, bie 
djrifHidje (ßemeinfdjaft rufye objeftio allein auf bem (Eoangelium, 
bas (Evangelium aber fei in ber ^eiligen Schrift enthalten. X?on 
Anfang an ijt ifym entgegnet u>orben, wenn bem fo fei unb babei 
feine Autorität anerfannt tperbe, bie über ben 3nfyalt bes <£van* 
geliums unb feine (Ermittelung aus ber fy. Sdjrift 3U entfdjeiben 
fyabe, fo fei eine allgemeine X?errx>irrung bie 5olgc, von ber benn 
audj bie (ßefdjidjte bes proteftantismus ein reidjlidjes Zeugnis 
ablege; Ijabe jeber bie Sefugnis 3U entf djetben, u>as rr ber redete 
Derftanb" bes (Evangeliums fei, unb fei er in biefer fjinjtdjt an 
feine Crabttion, fein Konsil unb feinen papfi gebunben, fonbern 
übe bas Redtf ber freien 5orfdjung, fo fönne eine (Einheit, eine 
(ßemeinfdjaft, fur3 eine Kirche überhaupt nid>t suftanbe fommen; 
ber Staat muffe bafyer eingreifen, ober es muffe irgenb eine «ritt- 



— 172 — 



fürltcfye 2lbgren3ung getroffen »erben. (SctDiß — eine Ktrcbe mit 
bem Sanctum Officium ber 3 nc l u ^ion fann fo nid?t in bie <£r» 
fdjeinung treten; femer, es ijt roirflidi unmöglich, fyer aus ber 
Sa&iz heraus eine (Semeinfdjaft äußerlid] ab5ugrcn3en. Was 
aber ber Staat ober gcfdjtdjtlidje Nötigungen getljan baben, fommt 
überhaupt nidjt in Setradjt: bie 23ilbungen, bie fo entftonben ftnb, 
feigen im epangelifdjen Smn nur unetgcntlidj audj „ Kirdjen ". 
2)er proteftantismus — bas iß bic £öfung — rechnet 
barauf, ba% bas fioangelium etwas fo (Einfaches, (Sott- 
lidjes unb barum tDafyrfyaft ZHenfdjlidies iß, ba% es am 
fidjerften erfannt wirb, wenn man ifym 5reifyeit läßt, 
unb ba% es audi in ben ein3elnen Seelen toefentlid? bie« 
felben Erfahrungen unb Über3eugungen fdjaffen wirb. 
Dabei mag er ftdj oft genug täufdjen, unb es mag audj naefy 
3nbioibualitdt unb Silbung redjt Derfdjiebenartiges entfielen — 
bisher ifl er bodj in biefer feiner Haltung nidjt 3U Sdjanben ge« 
tüorben. €ine tüirflidje geiftige (Bemeinfdjaft eoangeltfdjer Cfyriften, 
eine gemeinfame Über3eugung in bem ZDidjtigfien unb in ber 
2lmrenbung besfelben auf bas oielgeftaltete £ebm ift entflanben 
unb ijl in Kraft. Diefe (Semeinfdjaft umfaßt beutfdje unb außer» 
beutfdje proteffanten, tutfyeraner, (Ealrriniften unb anbere Denomi« 
nationen. 3 n ifynen allen lebt, foferu fte ernfte C^riften ftnb, 
etwas (Semeinfames, nnb biefes (Semeinfame ift unenblidj x>icl 
widriger nnb wertvoller als alle Perfdjiebenfyeiten. €s erhält 
uns 'eüangetifdj unb es fdjüfet uns ©or bem mobernen fjeibentum 
unb cor Hücffall in ben Katfyoli3ismus. ZTTcE^r aber bebürfen wir 
nidjt, ja jebe anbere Steffel weifen wir 3urücf. 3*ttes aber ijl 
feine 5cffel, fonbern bie Sebingung unferer jtoiljeit. Unb wenn 
man uns Dorfyält: „3fy* feto 3erfpalten; fooiel Köpfe, fooiel £efy 
ren", fo erwibern wir: „So ifi's, aber wir roünfdjen nidjt, baß es 
anbers wäre; im (Segenteil — wir wünfdjen nodj mefyr 5*eiljett, 
nodj meljr 3 nb wibualitdt in 21usfpradje unb Cefyre; bie gefdjicfy* 
liefen Nötigungen 3U lanbes* ober freifird]lidjen Silbungen ijaben 
uns nur 3Ut>iel Sdjranfen unb (Befefce auferlegt, wenn fte audi 
nicfyt als göttlidje 0rbnungen cerfünbigt worben ftnb; wir wün* 
fcfyen nodj mefyr <§ut>erjtdjt 3U ber inneren Kraft nnb 3U ber (Einheit 
fdjaffenben ZHadjt bes (Evangeliums, bas ftdj im freien Kampf ber 
(Seifter fidlerer burdjfefot als unter Beoormunbung; wir wollen ein 
geiftiges Heidi fein unb fyabtn fein Verlangen, 3U ben 5töfcf?töpfcn 



— 173 — 

. Sgyptens 3urücf 3uf efyren ; tDofyl tüiffen tr>ir, ba% um ber ©rbnung 
önb ber €r3te^ung n>iHen äußere (Semeinfdjaften entfielen muffen; 
u>ir tpollen fte gerne pflegen, fou>eit fte ifyre g>xx>td<t erfüllen unb 
ber pflege toert ftnb; aber unfer X}er3 Rängen toir nidjt an fie; 
benn fte beftefyen Bleute nodi, fönnen aber morgen unter anberen 
politif dien ober f03ialen Sebingungen neuen (Bebilben plafc madjen; 
tr>cr eine foldje „Kirdje" i\at, ber Ijabe fte, als Ijätte er fte ntdjt; 
unferc Kirdje tfi nidjt bie partifularfirdje, in ber urir flehen, fon« 
bern bte societas fidei, bie ifyre (51ieber überall fyxt, audj unter 
ben (ßrtedjen unb Hörnern. Das ift bie epangelifdje 2lntux>rt auf 
ben Portourf ber „gerfplitterung", unb bas ift bie Sprache ber 
5reifyeit, bte uns gefdjenft ift. — Kehren trir nadi btefen Sc- 
harfen 3ur Darfiettung ber u>efentlid?en <§üge bes proteftantismus 
3urücf. 

2. Der proteftantismus ift nidjt nur Deformation, fonbem 
audj Devolution getvefen. Hedjttidj betrautet, burfte bas ganse 
Kirdjemvefen, gegen bas Cutter ftdj auflehnte, ooHen (Sefyorf am 
beanfprudjen. <£s roar fo gut gültige Hedjtsorbnung im 2lbenb« 
Ianb tpie bie (ßefefee bes Staats. 2lls Cutter bie päpfllic^e Sann- 
bulle verbrannte, voÜ3og er un3tveifett}aft einen revolutionären 
2Ift — revolutionär nidjt in bem fdjlimmen Sinn, in tveldjem es 
ftcfy um bie 2luflefynung gegen eine Hedjtsorbnung Ijanbelt, bie 
3ugletdj ftttltdje ©rbnung ift, tvoljl aber im Sinne eines getvalt» 
famen Strucks mit einem gegebenen Hedjts3uftanbe. (ßegen einen 
foldjen tvanbte ftdj bie neue Setvegung, unb stvar erftreefte ftdj ifyr 
proteft in XDort unb tE^at auf folgenbe fjauptpunfte. 

firftlid?, fte protejtterte gegen bas gan3e fyierardjifdje unb 
pricfterlid)e KirdjenfYftem, perlangte, ba% bas abgefdjafft tverben 
folle, unb f djaffte es ab 3U (ßunjten bes allgemeinen prieftertums 
unb einer aus ber (ßemeinbe ftdj Ijerausbilbenben ©rbnung. Weld\e 
Cragiveite biefe 5orberung ijatte unb tvie fefyr fte in alle bisher 
bcftefyenben Perfyältniffe eingriff, bas lägt ftdj nidjt in wenigen 
Säften fagen. Zttan brauchte Stunben ba3U, um bas aus3ufüf}ren. 
IDie ftdj bie (Drbnungen tfyatfäctytdi in bzn evangelifdjen Kirchen 
nun gehaltet ljaben, bas lägt ftdj ebenfalls ljier nidjt barfteHen. 
€s iß audj nidjt von prtn3ipieller Sebeutung; von prin3tpteHer 
33cbeutung aber ift, ba% bas „göttliche" Kirdjenredjt ab» 
getfyan tourbe. 



— 174 — 

Zweitens, fte protefHerte gegen alle formalen, äußeren Auto- 
ritäten in ber Heligion, alfo gegen bie Autorität ber Ko^ilien, 
ber priefter unb ber gan3en fircftlidjen tErabition; nur bas fott 
Autorität fein, rx>as ftdj inner lieft als foldjc bartftut unb befreiend 
u>irft, alfo bie Sadje felbft, bas <2t>angelium. So ftat Cutter aueft 
gegen bie Autorität bes Sibelbudtftabens proteftiert; aber tptr toerben 
noeft feften, ba§ ftier ein punft liegt, an toeldjem er unb bie üb- 
rigen Reformatoren ftdj bodj nidjt gatt3 Mar geworben ftnb, an 
bem fte baftcr audj nidjt bie Konfcquen3en gesogen ftaben, toelcfte 
iftre prin3ipielle fimftcftt ©erlangte. 

Drittens, fte protefüerte gegen bie gan3e überlieferte Kultus* 
orbnung, gegen allen Hitualismus unb jeglidjes „^eilige Cftun". 
Da fte, toie tr>ir gehört ftaben, feinen fpe3iftfdjen Kultus fennt 
unb bulbet, feine binglidjen (Dpfer unb £etfhtngen an (Sott, feine 
ZTCeffe unb feine lüerfe, bie für (Sott unb um ber Seligfeit roillcn 
gctfyan toerben, fo mußte ber gan3e überlieferte (Sottesbicnft mit 
feinem prunf, feinen gan3 unb ftalb ^eiligen Stücfen, feinen (Se- 
bärben unb pro3efftoneu fallen, XDie oiel man aus äftftetifcften 
unb päbagogifdjen (Srünbcn an 5ormen beibehalten fönne, roar 
bem gegenüber eine gan3 fefunbäre 5rage. 

Viertens, fte protestierte gegen ben Saframentarismus. TXuv 
bie (Eaufe unb bas Abenbmaftl ließ fte als (Einrichtungen ber Ur* 
firdjc be3». als Stiftungen bes Ejerrn befteften, aber fte tx>ollte fte 
geartet u>iffen, fei es als Symbole unb djriftlidje <£rfennungs3eidjen, 
fei es als Üjanblungen, bie iftren ZDert äusfdtficßlidj an bem Wott 
ber Sünbcnoergebung traben, bas mit iftnen ©erbunben ift. Alle 
übrigen Saframente fdjaffte fte ab unb mit iftnen bie gan3e Por- 
ftellung, als fei (Sottes (Snabe unb f?ülfe in Stücfen 3ugänglidj unb 
fei in geheimnisvoller IDeifc oerfcftmolsen mit beftimmten förper- 
liefen Dingen. Dem Saframentarismus fefete fte t>as Wott ent- 
gegen unb ber Porfteüung, ba% bie (Snabe ftücftoeife gegeben roerbc, 
bie Über3eugung, ba$ es nur eine (Snabe gebe, nämlidj (Sott 
f e 1 b ft ftaben als bm gnäbigen. Ztidft toeil er fo auf gef lärt toar, 
fyat £utfcjer in feiner Sdjrift „Pon ber babylonifcftcn (Sefangenfdjaft" 
bcit gan3en Saframentarismus oertoorfen, — er ftatte nodj genug 
Aberglauben in ftd], um ftödtft abfeftreefenbe Behauptungen auf- 
ftellen 3U fönnen — , fonbern u>cil er innerlich erfahren ftattc, baft 
alle „(Snabe" tEäufdjerei ift bie ber Seele nieftt ben lebenbigen 



— 175 — 

(Sott felbjl giebt. Darum bedeutete it|m biefe gan3e Saframents- 
leljre ein Attentat an ber ZHajeftät (Sottes unb eine Knedjtfdjaft 
ber Seelen 3ugleidj. 

5ünftens, fte protestierte gegen bie boppelte Sittlidjfeit unb 
bamit gegen bie „fyöljere", gegen bie Seljauptung, bajj es <5ott 
befonbers wohlgefällig fei, bie in ber Schöpfung gefegten Kräfte 
unb (Sahen nidjt 3U gebrauchen, Die Beformatoren Ratten ein 
ftarfes (Befühl bafür, ba§ bie ZDelt mit ifyrer £uft ©ergebt; man 
barf ftdj Cutter wafyrlidj nidjt als ben mobernen ZTCenfdjen oor- 
fteUcn, ber mit freubigem (Sefüfyl unb fidler auf ber (Erbe fkmb; 
er fyatte r>ielmcljr, wie bie mittelalterlichen ZHenfdten, eine leb- 
hafte Sefynfudjt barnadj, biefe ZDelt los 3U werben unb aus bem 
„3ammertB}al" ab3ufdjeiben. 2lber weil er bapon über3eugt war, 
ba% man (Sott nichts bieten forme unb bürfe als Vertrauen, fo 
fam er in 23e3ug auf bie ZDcItftcllung bes Cljriften 3U gan3 an* 
beren tE^efen als bie ernften TXlondie ber vergangenen 3<*Wunberte. 
Da Reiften unb 2lsfefe (Sott gegenüber ofyne XDert finb, ba fte audj 
ben ZlTitmcnfdjcn nidjts nüfeen, nnb ba (Sott ber Schöpfer aller 
Singe ift, fo ift es am geratenden, an ber Stelle 3U bleiben, ba 
(Sott einen fyingcftellt fyat. Von fyier aus fyat Cutter bodj eine 
5reubigfeit unb 3uvezfid\t 3U ben irbifdjen ©rbnungen gewonnen, 
bie im Kontraß ftefyt 3U feiner weltflüdjtigen Stimmung unb fte 
wirflidf überwunben fyat. <£r jtellt ben entfdjcibenben Sa$ auf, 
ba% alle Stänbe — ©brigfeit, fifyeftanb ufw. bis Ijerab 3U ben 
Knechten unb Zfiägben — gottgewollte unb besfyalb wafyrfyaft geiftlicfye 
Stäube feien, in benen man (Sott bienen folle: eine treue ZHagb 
fielet E^öijcr als ein fontcmplierenbcr ZFLond). Ztidjt mit Dielen Künftcn 
foUcn bie Cljriften eigene Xüege fudjen, fonbern (Sebulb unb ZTädjften- 
liebe bewetfen innerhalb bes gegebenen Serufs. Von fyier aus er* 
wudjs ifym bie Dorfteilung r>on bem fclbftänbigen Bedjt aller welt- 
lichen ©rbnungen unb (Sebicte: fte finb nidjt blos 3U bulben unb 
empfangen erft oon ber Kird^e eine 2lrt r>on Bedjt ber (£jiften3 — 
nein, jte fyaben iijr eigenes Bedjt unb finb bas grojje (Sebiet, auf 
benen ber (E^rift feinen (Slauben unb feine Ciebe 3U bewähren Ijat; 
ja fte ftnb felbft bort 3U refpeftieren, wo (Sottes ©ffenbarung im 
<£oangelium nodj gan3 unbefannt geblieben ift 

So fyat berfelbe ZHann, ber feinem perfönlidjen <£mpfinben 
nadi nichts von ber ZDelt ©erlangte unb in beffen Seele nur bie 
Sorge um bas <£wige lebte, bie ZHenfd^eit oon bem TSanne ber 



— 176 — 

Slsfefe befreit. €r Ijat baburdj redtf eigentlich bas £chen einer 
neuen geit begründet; er fyat it^r bte Unbefangenheit 3urücfgegeben 
in Bc3ug auf bte IDelt unb ein gutes <5en>iffen bei aller trbifdjen 
Arbeit Diefe 5rudjt ift ifym 3ugefa&en, nidjt toeil er bie Heltgton 
vctxoehlidit fyat f fonbern tretl er fie fo ernjl unb fo tief genommen 
fyat, ba% fie 3u>ar alles burcfybringen, aber felbft von allem äußer- 
lichen befreit fein follte. 



&tfy\t\yt&t ßttrfejimg. 



£s iji oftmals bie 5rage aufgeworfen n>orben, ob unb in 
tDeldjem ZlTafje bie Heformation ein ZDerf bes beutfdjen (Seijtes 
geroefen ift 3d? vermag ljier auf biefes fompÜ3ierte probtem nidjt 
ein3ugefyen; fot>iel aber fdjeint mir gea>i§, ba§ 3toar Cutfyer's entfdjet' 
benbes religiöses Erlebnis mit feiner Nationalität nidjt 3ufammen- 
sujiellen ift, bafa aber bie 5otgen, bie er itjm gegeben tjat, fotsoljl 
bie pofttipen als bie negativen, ben beutfdjen TXlann 3eigen — 
ben beutfdjen ZHann unb bie beutfdje (ßefdjicbte. Pon bem 
ZlTomente an, in n>eldjem pdf bie ©eutfdjen in ber ifynen über* 
lieferten Heligion toirfüdi fyeimifdj 3U machen Derfudjten — erfl 
©om \3. 3aljr^unbert an ijt bas gefdiefyen — , ljaben jte aud] bie 
Heformatton porbereitet Unb tme man bas morgenlänbifdje 
(Efyrijtentum mit Bedjt bas griedjifdje, bas mittelalterlicfyabenb* 
länbifdje bas römifdje nennt, fo barf man audj bas reformatorifdje 
als bas germanifdje be$ex<hnen, trofc Cafoin, benn er ijl Cutljer's 
Schüler getpefen, unb er tjat nieftt unter ben Homanen, fonbern 
unter ben (gnglänbern, Schotten unb Xlieberlänbem am nadfycdß 
tigjten getrirft, Sie ©eutfdjen be3eidjnen burefy bie Deformation 
eine Stufe in ber allgemeinen Kirdjengefdiidfte; oon ben Staren 
läßt jtdj Sljnltdjes nidjt behaupten. 

Die 21bfefyr oon ber 2lsfefe, bie ben Deutfdjen niemals ein 
fo burdffdjlagenbes ^beai geroefen ijt toie ben anberen Polfem, 
unb ber protejt gegen bie Heligion als äußere Autorität ftnb fo» 
tDofyl aus bem paulinifdjen Csangelium als audf aus bem beutfdjen 
<5eijk 3U erflären. 2ludf bie iüärme unb £}er3lid}feit in ber 
Prebigt unb ber 5reimut in ber polemifdjen 21usfpradje fyat bie 

Qarnacf, Das IDefen bes Ctjriftentums. 12 



— 178 — 

beutfdje Ration an Cutter tote eine <£rfdjile§uiu$ ifjrer eigenen 
Seele empfunden. 

ZDir liabm in ber lefeten Porlefung bie £}auptgebiete berührt, 
auf benen Cutter einen nadjbrüdlidjen nnb fortoirfenben Proteß 
erhoben fyat. 3^ könnte nod} manches Ejin3ufügen, fo ben IDiber' 
fprud?, ben er, namentlich am Anfang feiner reformatorifdjen IDtrf- 
famfeit, gegen bie gan3e bogmatifdje (Terminologie, ifyre Formeln 
unb Cefyrausbröcfe, gerichtet fyat. 2Wes in allem — er ijat prote- 
jfciert, toeil er bie djriftltdie Heligion in iEjrer Heinfyeit 3urü<f führen 
nx>Hte, ofyne priejter unb (Dpfer, ofyte äußere Autoritäten unb 
(Sefefee, oljne fyeilige g>ztemon\tn, oljne alle bie Ketten, mit benen 
bas 3enfeits an bas Diesfeits gebunben fein foule. Bei biefer 
Kemjton xft bie Heformation 3urüdgegangen, nidft nur hinter bas 
elfte 3a^r^unbert, aud? nxdit nur hinter bas ©ierte ober 3u>eite, 
fonbern bis auf bie Anfänge ber Religion felbft. 3<* P* fyat f ofyne 
es 3U afyten, fogar 5ormen mobifoiert ober befeitigt, bie fdjon im 
apoftolifdjen Zeitalter bejianben fyahen, fo in ber Vis^ipün bas 
5aften, in ber Perfaffung bie Sifdjöfe unb 3)tafonen, in ber £eljre 
ben (Efyliasmus u. cu 

tüie pellt pdj nun aber bei biefer Umbilbung burd} Hefor- 
mation unb Heoolution bie neue Schöpfung als gan3e m ifyrem 
Perfjältnis 3um (Evangelium bar? TXlan barf fagen, ba% in ben 
oier fjaupipunften, bie trir in ber porigen Porlefung fyerporgefyoben 
fyabm, bas (Evangelium tvirflidj tvieber erreicht ijt — in ber 3nner- 
lidjfeit unb (Seiftigfeit, in bem (Srunbgebanfen von bem gnäbigen 
(ßott, in bem (Sottesbienjl im (Beip unb in ber iPafyrfyeit, unb in 
ber Dorftcllung von ber Kirche als ber (Semeinfdjaft bes (ßlaubens. 
öraud?e idj bas im ein3elnen nadftutveifen, ober follen tvir uns 
in biefer Überzeugung irre madjen laffeu, tveil bodj ein (Djrip im 
fecfoefynten unb neun3el)nten 3afyrf?unbert anbers ausfielt als im 
erften? Daß bie 3nnerlid?feit unb ber 3nbivibualismus, meldte bie 
Seformatton entbunben fyat, ber (Eigenart bes (Evangeliums ent- 
fpredjen, ift getvtjj. ferner, Cutfyer's Derfünbigung ber Hedjtferti- 
gung giebt nidjt nur ben (Sebanfen bes paulus, mögen immerhin 
Unterfdjiebe befielen, in ber £}auptfad}e tvieber, fonbern trifft aud? 
in bem Siele genau mit ber prebigt 3*fa 3ufammen. (ßott als 
ben Dater tviffen, einen gnäbigen (Sott fyaben, pdf feiner Por« 



— 179 — 

fefyung unb (Strafte getroffen, bie Vergebung ber Sünben glauben — 
bas ift bort unb fyier bas <£ntfdjeibenbe. Unb nodj in ber trüben 
3&t ber lutfyerifdjen ©rtfyobojrie Ijat ein paul (Serijarbt biefe 
et>angeltfd{c <Srunbüber3eugung in feinen Ciebern — „3f* <ßott für 
midi, fo trete gleich alles toiber midi", „Befiehl bu beute IDege" 
u. a* — fo fyerrltdj aus3ubrücfen vermocht, ba% man erfennt, wie 
fidler fte ben proteftoniismus burdjbrungen fyat. IDeiter, ba% ber 
redete (Sottesbienft nidjts anbeves fein barf, als bie Slnerfenmmg 
(5ottes im £ob nnb im (Bebet, bafj aber audj ber Dtenj! am ZTädtften 
(ßottcsbienj* ifl, ifl bireft bem £t>angelium xmb ben ifym entfpredjen- 
ben 2lnn>eifungen bes paulus entnommen. finblid}, bafy bie tpatjre 
Kirche burdj ben ^eiligen <5eift unb ben (Slanben sufammengeljalten 
toirb, bajj fte eine geiftige (ßemeinfdjaft oon Brübern unb Sditr>eftern 
ift — biefe Über3eugung liegt auf ber Cinie bes (Evangeliums unb 
ift oon paulus mit aller Klarheit ausgefprodjen tvorben. Sofern 
bie Heformation bies alles toieberfyergefteüt unb audj Cfjrifhts als 
ben ein3igen Crlöfer anerfannt bat, barf fte im fhrengften Sinn bes 
IDorts eoangelifd? genannt trerben, nnb fofern biefe Über3eu- 
gungen trofc aller Perfümmerungen unb Belafhxngen in ben prote* 
ftantifdjen Kirchen nodi immer bie leitenben ftrib, bürfen fie ftdj 
mit allem $uge als et>angelifd?e be3eidjnen. 

21ber bas, tr>as fyier erreicht roorben ifl, ijat audj feine 5di<titen. 
Wenn xoxt fragen, was uns bie Heformation gefoflet unb in tseldjem 
HTaße fte ifyre prin3ipien burdigefefet ijat, treten fte uns beutlidj 
entgegen. 

\. Umfonfl erhält man nichts in ber ©efdjidjte, unb eine ge« 
roaltfame Beilegung mujj boppelt be3afylt toerben — tüas ijat uns 
bie Heformation gefoftet? 3^? tpiH nidjt baoon reben, bajj bie 
(Einheit ber abenblänbifdjen Kultur, ba ftdj bie Heformation bodj 
nur in einem (teile ZDefieuropa's burdjgefefet fjat, 3erflört toorben 
ift; benn bie HTannigfaltigfeit unb 5*etijeit ber nun folgenben (£nt- 
roidlung fyat uns größeren (Sexoxnn gebracht. 21ber bie ZXottoenbig- 
feit, bie neuen Kirdjen als Staatsfirdjen 3U etablieren, §at 
fd?u>ere ZTadjteile 3ur 5olgc gehabt. 5*etlid}, bas Kirdjenftaatstum 
if! fdjlimmer, unb feine 21nfjänger ijaben nxtfjrlidi feinen (ßrunb, 
es gegenüber ben Staatsfirdjen 3U rübmen. Willem biefe — fte 
ftnb nidjt nur eine $olge bes Brudjs mit ber firdjlidjen (DbrigFeit, 
fonbern fjaben ftdj bereits im \5. 3 a fy r *! u ttbert vorbereitet — traben 

12 • 



— 180 — 

bodj Perfümmerungcn t}eraufgefüf}rt. Sie fyabcn bas <ßcfül?l ber 
Peranttoortlidifeit unb bie Tlttivität ber eDangclifdjen (Sc* 
meinben gefdjtoädjt unb ba3U bcn nidft unbegrünbeten 2lrgtr>obn 
getoecft, ba% bie Kirche eine 21nftalt bes Staates fei unb ftdj nadj 
ifym 3U richten tjabe. 3n ben legten 3afc3C^nten ijl n>of}l manches 
gefdjetten, um burd} größere Selbftänbigfeit ber Kirdjen jenem 2lrg» 
too^n 3U feuern, aber wettere 5ortfdfritte in biefer Sidftung ftnb 
notoenbig, namentlich in 25e3ug auf bie Sxexiieit ber ein3elnen (Sc* 
meinben. (ßetoaltfam foQ bas 25anb mit bem Staate nidjt burdj« 
fdjnitten »erben; benn bie Kirchen oerbanfen i^m and] manches 
(gute; aber bie <£ntoicflung, in bie toir getreten jtnb, muß beför» 
bert merben. Dabei iß bie ZTZannigfattigfeit ber ftrdjltdjen 23il- 
bungen fein Schabe; fte erinnert ©ielmeljr in Fräftiger 2Peife baxan f 
ba% afle biefe formen arbiträr jtnb. 

ZDeiter, ber protejlantismus fyat im (ßegenfafe 3um Katfyoli» 
3ismus bie 3nnerlidtfeit ber Seligion unb bas sola fide ausfd}lie§» 
lidt betonen muffen; aber eine Cefyre in fdjarfem (Segenfafe 3U 
einer anberen 3U formulieren, ij* immer gefäfyrlidf. ©er „gemeine 
ZTTann" fyörte es nid?t ungern, ba% „gute Werte" unnötig, ja feelen» 
gefäfyrlidf feien. Cutter ijl für bas bequeme Znißperftänbnis, bas 
ftdj baran anfdjtofc, nid\t oerantoortlid?; aber oon 2lnfang an mufjtc 
in ben beutfdjen Heformationsfirdjen über jtttlidje Ccqrljeit unb 
mangelnben <2rnß in ber Heiligung geflagt »erben. Vas Wort: 
„Ciebet iljr midi, fo galtet meine <ßebote" trat ungebüfyrlidj 3urüc£ 
(£rft ber pietismus l?at »ieber feine 3entrale Sebeutung erfannt 
Bis bafjin »ar im (ßegenfafc 3U ber fatfyolifdjen „ZDerfgeredftigfeit" 
ber penbel ber Ccbensfüljrung bebenflidf auf bie entgegengefefcte 
Seite fyinüberge(dt»enft. 2lber bie Heligion ijl nidjt nur (Sefmnung, 
fonbern (ßeftnnung unb tEljat, (ßlaube, ber in ber Heiligung unb 
in ber Ciebe tljätig iji: bas muffen bie eoangelifd^en C^ripen nodj 
triel fidlerer lernen, um nidjt befdjämt 3U »erben. 

Hodf etwas anberes fyängt mit bem eben 2lusgefprod}enen eng 
3ufammen. Sie Deformation fyat bas ZHöndjtum abgetan unb 
abtfyun muffen. TXlit Hed?t tiat jte es für eine Permeffenfyeit erflärt, 
ffd? burdj ein für bas gan3e Ccben abgelegtes (Selübbc 3ur Sfsfefe 
3U oerpflidjten; mit &ed\t fyat jte jeben »eltlidjcn Seruf, getoiffen» 
ijaft oor ben klugen (ßottes geführt, bem Znöndjsjkmbe gleich, ja 
überlegen erachtet. 21ber es trat nun etwas ein, »as Cutter fo 
nidjt oorausgefe^en unb ge»oHt fjat — bas „ZHönditum", »ie es 



— 181 — 

epangelifd} benfbar unb notoenbig ijt, oerf dju>anb überhaupt (gute 
jebe (ßemeinfdiaft aber braucht perfönlidtfeiten, bie ausfdjließlidj 
tljrem 5a>ecFe leben; fo braucht aud? bie Kircfye 5*eimillige, bie 
jeben anderen Beruf fahren laffen, auf bie „£)elt" oersiditen unb 
jtdj gan3 bem Dienft bes Zlädijten unbmen, nidjt u>eil biefer Beruf 
ein „fyöljerer" iji, fonbern u>eil er notoenbig ift, unb u>eil aus einer 
lebenbigen Kirche audi biefer antrieb fjerDorgefyen muß. <2r iji 
aber in ben eoangelifdjen Kirchen gehemmt u>orben burd? bie beci- 
bierte Haltung, bie fte gegen ben Katfyoli3ismus einnehmen mußten. 
Das iji ein teurer preis, bm xx>iv ge3al)lt fyaben; bie €ru>ägung, 
rrietnel fdjlidjte unb ungefärbte 5römmigfeit bagegen in ^aus unb 
5amiüe ent3Ünbet u>orben ift, fann ifyn nidjts absieben! 2lber txrir 
bürfen uns freuen, ba% in unferm 3aBjrfjunbert ein Einfang ge» 
madjt roorben iß, ben Perluft roieber ein3ubringen. 3n ben Dia- 
foniffen unb manchen percoanbten €rfdjeinungen erhalten bie 
epangeltfdjen Kirdjen bas 3urücf, roas fte einft oon ßdj geftoßeh 
baben, roeil fte es in feiner bamaligen (ßeftalt nidjt an3uerfennen 
üermodjten. 2lber es muß ftd? nodj oiel reicher unb mannigfaltiger 
ausgeftalten! 

2. Die Deformation ijat nid?t nur einen fjofyen preis 3afylen 
muffen, fte l\at audi nidft permodft, ifjre neuen <£rfenntniffe in allen 
Konfequen3en 3U über flauen unb rein burdtfufüfyren. Zlidft bavon 
ift bie Hebe, ba% fte nidjt überall fdjleditfyin (gültiges unb Blei« 
benbes gefdjaffen Ijat — u>ie u>äre bas möglich, unb roer fönnte 
bas umnfdien! Zieht, ifyre 2lusgeftaltung ijt audi bort rücfjlänbig 
geblieben, mo man nadj bem erßen, grunblegenben Anfang I}öfyeres 
ermarten burfte. Derfdjiebene Urfad)en fyaben fyier 3ufammengea>irft. 
£}als über Kopf mußten feit bem 3afjre \526 eoangelifdje Canbes- 
firdjen gegrünbet toerben; fte mußten abgefdjloffen unb „fertig" 
fein, als nodj fo pieles im 51uffe roar* Da3U !am, ba% bas ZHiß« 
trauen nad? linfs, nad) Seite ber „SdjtDarmgeifter", fte beftimmte, 
Hidjtungen, mit benen fie nodj ein gutes Stücf ZDegs ti&Lte 3U- 
fammengefyen fönnen, energifdj 3U befämpfen. Daß Cutter pon 
iljnen fdjledjterbings nidfts lernen roollte, ja ba% er gegen feine 
eigenen €rfenntniffe, u>enn fte mit benen ber „Sdftr>armgeißer" 
3ufammenirafen, argu>öfynifdf umrbe, ijat jtd| bitter gerädjt unb 
umrbe bm et>angelifd?en Kirchen in ber 2lufflärungsepodje ijeim« 
ge3ct%lt. Zttan muß nodj mefyr fagen auf bie (Sefafyr fyn, 3U bm 
Dcrf letnerern Cutfyer's gerechnet 3U »erben: biefer (Senius ijatte 



— 182 — 

eine Kräftigtet! bes (Slaubens u>ie paulus ur.b burdj jte eine un- 
geheure Hladft über bie (ßemüter, aber auf ber Xijöfye ber €rf ennt» 
niffe, roie jte fd?on in feiner <§eit 3ugänglidj roaren, fyit er nidjt 
gejlanben. £s u>ar fein naipes &\taltet: mefyr, fonbern ein tief 
belegtes unb fortgefdjrittenes, in toeldjem bie Heligion barauf 
angea>iefen u>ar, 5üfylung m ü a ß cn geiftigen UTädjten 3U nehmen. 
3n biefem Schalter fiel es ifym 3U, nidjt nur Heformaior, fonbern 
audj geiziger 5üfyrer unb teurer fein 3U muffen: bie ZDelt» 
anfdjauung unb bas (ßefdfidjtsbilb Ijat er neu für (ßenera« 
tionen entwerfen muffen; benn es u>ar feiner ba, ber ifym ijalf, 
unb man n>oHte niemanben fjören als tfyn. €r aber Ejat nidjt 
mit allen fyeQen <£rfenntniffen im 23unbe gejtanben. <£nblid), er 
trollte überall auf bas ttrfprünglidje, auf bas (Evangelium felbft 
3urücfgefyen, unb fotneit bas burd? 3"tuition unb innere €rfa^rung 
möglich u>ar, fyat er es geleiftet; ba3u, er t?at auit treffliche ge« 
fd)id?tlid}e Stubien gemacht unb iji ftegreidj an oielen Stellen burd) 
bie Sdjladjtlinie ber überlieferten J)ogmen fjinburdjgebrungeru 2lber 
eine gejtdjerte Kenntnis i^rer (ßefdjidjte mar bamals nodf eine 
Unmöglidjfeit, unb nodj unerreidjbarer u>ar eine gefdjiditlidie <£r- 
fenntnis bes ZTcuen (Eeftaments unb bes Urdjrtjtentums. 33etpun- 
berungsumrbig ift es, tr>ie Cutfyer trofebem fo oieles burdjfdjaut unb 
richtig gea>ertet B|at TXlan lefe nur feine Porreben 3U ben neu* 
teftamentlidjen 23üdiern ober feine Sdjrift „Pon Kirchen unb 
<£oneiliis", 2lber 3afylofe Probleme fyat er gar nidjt erfannt, 
gefdjtoeige löfen fönnen, unb roar bafyer unoermögenb, Kern unb 
Sdjale, Urfprünglidjes unb 5rembes 3U unterfdjeiöcn. XDie fann 
man ftd? bafyer munbern, ba% bie Heformation als £e^re unb 
töefdjidjtsbetradjtung nodj etwas gani Unfertiges geroefen ift, 
unb baß, u>o fie feine Probleme fafy, Demrirrungen in ifyren eigenen 
<5ebanfen entfielen mußten? ZTicfyt u>ie paUas 2ltfyene fonnte jte 
fertig aus bem Raupte bes 3^piter entfpringen . — als Cefyre per* 
modjte fie nur einen 21 nf an g 3U be3eidjnen unb mußte auf Xüeiter- 
füfyrung rechnen. 2lber inbem fie jtdj rafdj 3U fejkn Canbesfirdjen 
formierte, tpar fte nafye baran, jtd) felbft tlpe tpeitere (EnttPtcflung 
für immer ab3ufdjneiben. 

3n 33e3ug auf bie Dcrtxurrungen unb bie Hemmungen, bie jte 
ftdj felbft auferlegte, muß es genügen, auf einige ^auptpunfte 3U 
pertpeifen. <£rftlidi, Cutfyer tpollte nur bas fioangelium gelten 
faffen, nur bas, u>as roirflidi bie (ßeuriffen befreit unb binbet, tpas 



— 183 — 



ein jeber ocrftcfycn . fann , audf ber Knecht unb bie ZHagb. Tibet 
bann ndbim et bodf nidjt nur bie alten Dogmen von ber (Erinität 
unb ben 3tx>ei XTaturen in bas (Eoangeltum rjtnein — er a>ar auefy 
auger ftanbe, pe gefdiidjtlicti 3U prüfen — unb bilbete fogar neue, 
fonbern er Dermodjte überhaupt nidjt fidier 3tx>ifd}en „Cefyre" unb 
„<£t>angeltum" 3U fdjeiben, in biefem punfte roeit hinter paulus 3U» 
rücfbleibenb. Die notoenbige 5olge a>ar, ba% ber 3nteHeftualismus 
nidft übertpunben rourbe, ba% pdf aufs neue eine fdjolaftifdje Cefyre 
als tjeilsnotroenbig bilbete, unb ba% w'xebetnm 3toei Klaffen 
unter ben Cfyrtjten entftanben — foldje, roeldje bie Doftrin oer- 
ftefyen, unb foldje, roeldje an bas Derftänbnis jener gebunben unb 
bofjer unmünbig fmb. 

Smeitens, Cutter roar übev3eugt, bajj „IDort <5ottes" nur 
bas ijl, rooburd? ber ZHenfdj innerlich neu gefdjaffen roirb — bie 
Perfünbigung ber freien <5nabe (ßottes in <£fjrifhis. 2luf ben 
X?öfyepunften feines Cebens mar er frei von jeglidjer Kncdjtfcr/aft 
bes 23udjftabens, unb roie oermocrjte er 3U unterfdjeiben 3tx>if dien 
(ßefefe unb (Evangelium, sioifdjen 2Utem unb Heuern Ceftament, ja 
toie oermoer/te er im Zteuen Ceßament felbft 3U unterf Reiben! <£r 
tooHte nid^ts anberes als bie ^auptfadje gelten laffen, bie aus 
biefen Büdjern fjerr>orleud?tet unb ifyre Kraft an ben Seelen be- 
wäfytt. Tibet er fjat nidjt reinen ©fdj gemacht. €r forberte bodj 
in Säuen, wo xtim ein Budjftabe roidjtig geworben roar, Unter» 
roerfung unter bas: „<£s ftefyt gefdjrieben"; er forberte fte perem» 
ptorifdj, ofyxe ftdj 3U erinnern, ba§ er felbft anbeten Sprüchen ber 
1?. Sdjrift gegenüber jenes „<2s ftcE^t gef trieben " für unperbinblidj 
erflärt fyatte. 

Drittens, (Snabe ift Sünbenoergebung nnb barum bie 
(Searißfyeit bes gnäbigeu <5ottes, Ceben nnb Seligfeit: rote oft Bjat 
Cutter bas tmeberfjolt unb ftets fyn3ugef ügt, ba$ bas XVott babet 
bas IDirffame ift — ber Sufammenfcrjlufs ber Seele mit (Sott in 
Dertrauen unb finblidjer <£fyrfurd}t, am IDorte (Sottes gewonnen; 
um ein perfön liebes Derfyältnis fyanbelt es per/, Tibet berfclbe 
ZTCann fjat ftdi in bie peinlichen 5treitigfeiten »erfinden laffen 
über bie (Snaben mittel, über bas 2lbenbmafyl unb bie Kinber- 
taufe, in Kämpfe, in benen er in <5efafjr \tanb f foroofyl feinen 
t>ofyen begriff pon (Snabe coieber gegen ben fatfyolifdjen ein3U» 
tauften, als bie grunblegenbe <£inftd}t ein3ubüj3en, ba§ es fidt um 
ettpas rein (ßeiftiges fjanbelt nnb baß neben Wott unb (Staube 



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— 184 — 

alles andere gleichgültig tft Die I$interiajfenfd?aft, die er tyer 
feiner Kirche 3urüdgelaffen fyxt, ift ein Dcrfyängnisöolles €rbe ge» 
worden! 

Viertens, die (Segenfirdje, die ßdf *<*fdl gegenüber der 
romifdjen und unter irjrcm Drud bilden mußte, erfamtte nidjt oime 
(Brund ifyre IDafyrrjett und xfyc Hedjt in der ZDtederaufridjtung des 
€t>angeliums. 2tber indem jte diefes unter der £)and mit dem 
gefamten 3n^alt ifyrer teilte identiftierte, fdjltcr? fid) ebenfalls unter 
der £>and der (Sedanfe ein: VOxt, d. I}. die partifularfirdicn, die 
nun entbanden waren, find die wafyre Kirche« Cutter felbft 
fyat freiließ nie oergeffen fönnen, dag die wafyre Kirche die ^eilige 
gemeinde der (gläubigen fei, aber in Unflartjeiten darüber, tx>ie 
ftdt 3U ifyr die ftdjtbare neue Kirdje verhalte, die nun entbanden 
toar, geriet er dod), und in der 5olge3eit bürgerte ftdj das fdjltmme 
2TZigr>erftändnis immer merjr ein: IDir find die wafyre Kirdje, weil 
wir die redete „Cefyre" traben. Von fyier aus ift, neben 
den böfen folgen der Selbftperblendung und 3ntoleran3, audj jene 
fdjlimme Unterfdjcidung von (Theologen und paftoren emerfeits urib 
£aien andererfeits, über die wir bereits gefprodjen tjaben, nodf 
weiter »erftärft worden. ltid]t in der (Theorie, woijl aber in der 
praris bildete jtdj wieder, wie im Katl|oli3ismus, ein doppeltes 
(Efyriftentum aus, und trofc der 2(nftrengungen, die der pietismus 
dagegen gemacht fyat, ift es bis beute nidjt überwunden: der (Ecjeo« 
loge und paftor muß die gan3e £efyre vertreten, mug ortfyo» 
do£ fein; für den taten genügt es, dag er einige JEjauptftücfe feft« 
fyält und die (Drtfyodoj: ie nidjt angreift Ztodj jüngft ift mir er3äfylt 
worden , ein fefyr befannter IHann §abe über einen unbequemen 
(Efyeologen geäußert, er wünfcfye, derfelbe möge in die pfyilofopfyifdje 
5afultdt übergeben, „dann Ratten wir ftatt eines ungläubigen (Etjeo 
logen einen gläubigen pfyilofoprjen". Das ift gan3 fonfequent ge- 
dacht pon dem Standpunft aus, dag die Cerjre audj in den eoan- 
gelifd)en Kirchen etwas ein für allemal $eftgelegtes und trofe ifyrer 
allgemeinen Derbindlicr?feit etwas fo Schweres ift, dag iljre Ver- 
tretung den Caien gar nidft 3ugemutet 3U werden braucht 2lber 
auf diefem Wege, und wenn die andern Verwirrungen pdf audj 
nod| fteigem oder oerfeftigen, drofyt der proteftantismus 3U einer 
Fümmerlicfjen Doublette des Katrjolt3ismus 3U werden, Kümmerlid? 
nenne idj fie; denn 3weierlei wird er doefrf nidjt erreichen fönnen, 
nämltd) den papft und den Znöndjsprtefter. Die unbedingte 2(uto- 



— 185 — 

rität, »cldje ber Katftolif an bcm papße beßfet, vermag »eber ber 
23ibclbud)ßabe nodj bas in Symbolen gefaxte Befenntnis 3U fdjaffen, 
unb bis 3um UTöndisprießer fann ber proteßantismus nidjt meftr 
3urücffdjreiten. <£r behält fein Canbesfirdjentum unb feine »erfjei* 
rateten (Beißlidjen; beibes nimmt ßdj neben bem Katechismus 
nidjt feftr ßattlidj aus, wenn bie er>angelifdjen Kirchen ftier mit 
iftm rioalißeren trotten. 

ZTfeine Ferren! 2)er proteßantismus iß, (Sott fei Dan!, nodj 
nidjt fo fcftlimm baran, bd% bie Unpottfommenfteiten unb I?er»ir» 
rungen, in benen er begonnen I^at, bie (Dbexfyanb ge»onnen unb 
fein eigentliches IDefen gän3lidj »erfnmmert ober erßicft Ratten» 
2ludj biejenigen unter uns f »eldje baoon überseugt ftnb, ba% bie 
Heformation bes \6. 3aljrf|unberts ettoas 2lbgefdjloffenes unb 5*t> 
tiges iß, trotten bodf bie entfdjetbenben (ßrunbgebanfen ber Hefor- 
mation Feines»egs preisgeben, unb es giebt ein großes 5elb, auf 
»eldjem alle ernßen eoangelifdjcn cEftrißen einmütig 3ufammenßeften. 
2tbcr »enn 3cne es nidft ein3ufeften permögen, ba% bie 5ortfefeung 
ber Heformation im Sinne bes reinen Perßanbes bes tDortes (ßottes 
eine Cebensfrage für ben proteßantismus iß — biefe 5ortfefeung 
hiat bereits in ber eoangelifdjen Union reidje Svndite getragen — , 
fo mögen ße »enigßens ber 5**iftcit Haum geben, bie Cutter in 
feinen beßen Sagen pertreten Ijat: „ZHan Iaffe bie (ßetßer auf- 
einanber planen unb treffen; »erben etliche inbes ©erführet, »oftlan, 
fo geftts nadf rechtem Kriegsbraudj; »o ein Streit unb Sdjladjt 
iß, ba muffen etliche fallen unb »unb »erben; »er aber reblidj 
ßdjt, »irb gefrönet »erben/'. 

Die Katftolißerung ber eoangelifdjen Kirdjen — idf meine 
nidjt, baß ße päpßlidj, fonbern baß ße (ßefefees«, Ceftr- unb §ere- 
monienfirdjen »erben — iß besfyalb eine fo brennenbe (Sefaftr, 
»eil b r e i ge»altige ZlTadjte mitarbeiten, biefen c2nt»icflungspro3eß 
3u beförbern. 7>a iß erftens bie 3"bifferen3 ber ZHaffen. 2lllc 
3nbifferen3 fdjiebt bie Heligion auf bie Cinie, auf »eldjer bie 
Autorität unb bas ^erfommen, aber audf ber prießer, bie X?terardjie 
unb ber §eremonienfultus ßeften. Dorthin fdjiebt ße bie Heligion, 
um ßdf bann übet iftre äußer lieft Feit, iftre Hücfßänbigfeit unb 
über bie „Anmaßungen" ber (Seißlidjen 3U bef lagen; ja ße fann 
»oftl in einem unb bemfelbcn ZTToment jene Klagen unter Sdjmä- 
ftungen ergeben unb 3uglcid] Derädjtlidf jebe lebenbige Äußerung 
ber Heligion befpötteln unb jeber Zeremonie fjulbigen. Siefe 3n- 



\ 



— 186 — 

biffcrcnj fyxt für epangelifdjes C^riftentum gor fein Perftönbnis, 
fuctjt es infrmftip 3U unterbrücfen unb rüfymt ilmt gegenüber tcobl 
ben Hatrtotyismus« Zweitens fomtnt rjier in Betracht, toas idj 
fcie „natürliche Heligion" nennen mödjtc: bie, meiere pon 5urd]t 
unb Hoffnung leben, bie, meiere por allem nadj Autorität in ber 
Heligion fudjen, bie, roeld?e bie eigene Derantroortlidtfeit los fein 
trollen unb eine Hücfperftdjerung begehren, bie, tpeldje eine „Bei- 
gabe" 3nm Ceben, fei es in feinen 5*ierjhmben, fei es in feinen 
fdilimmften Höten fucfyen, eine äfttjetifcfie Derflärung ober eine 
afute Ijülfe, bis bie Seit rjilft — fte alle fdjieben ebenfalls, oEme 
bajj fte es tpiffen, bie Heligion auf bie fatrjolifdje Cime; fte n>oHen 
„etwas 5efics", fte trollen ba$u noerj feijr piel anberes, Anregungen 
unb hülfen aller 2lrt; aber epangelifdjcs (Ojriftentum wollen fte 
nierjt; biefes aber roirb, roenn es folgen ZDünfdjen nadjgiebt, 
fatrjolifer/es Crjriftentum. Vxe b ritte ZTTadjt nenne \di ungern, 
unb bodj barf fte nierjt pcrfdjroiegen »erben — es ifi ber Staat 
<£s iß irmt nidjt 3U perbenfen, ba$ er an ber Heligion unb ben 
Kirchen por allem bas Konferpatipe unb bie Ztebenroirfungen 
fdjctftt, bie fte in £}tnftdjt auf ptetät, (ßerjorfam unb ©rbnung 
leiten. £ben besfyalb aber übt er einen Drucf in biefer Hidjtung 
aus, fdjüfet alles Stabile in ben Ktrcr/en unb fudjt fte pon jeber 
inneren Beroegung ab3uljalten, roeldie tt^re £inr?ett unb ifyren 
„öffentlichen Hufeen" in 5*<*g* fteHen fönnte; ja er fyat oft genug 
bamacr} getrachtet, bie Kirche ber poli3et nafye 3U rücfen unb fte 
als ZTTtttel für bie 2lufredjterrjaltung ber Staatsorbnung 3U benufeen. 
HTan fann bas entfdjulbigen — ber Staat mag perfuerjen, Hladjt- 
mittel 3U nehmen, too er fte ftnbet; aber bie Kirdje barf ftdj ntd}t 
3U einem gefügigen ZDerf3eug ^ergeben; benn neben allen ben per- 
roüfienben folgen, bie bas für irjren Beruf unb ifyr 21nferjen fyat, 
ipirb fte aucrj auf btefem IDege 3U einer äußeren 2lnftalt, in ber 
bie ©rbnung roicrjtiger tft als ber (Seift, bie 5orm roidjtiger als 
bie Sacrje, ber (Sefyorfam toertpoüer als bie IDarfrrjett 

J)iefen brei fo perfdjiebenen HTäditen gegenüber gilt es ben 
€mft unb bie 5*eirjeit bes epangelifdjen (Erjriftentums aufrecht 3U 
erhalten. Die Cfjeologie allein permag bas nid|t; 5efrigreii bes 
dfriftlidjen clrjarafters ifi geforbert. Die epangelifctjen Kirchen 
»erben rücfmärts gefdjoben, roenn fte nidft ftonbfyalten. 71ns fo 
freien Schöpfungen, roie bie pauliniferjen (Semeinben es roaren, ift 



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cinß bie fatfyolifdje Kircfye entfianben — u>er Bürgt bafür, ba§ nic^t 
audj bie Kirchen „fatfiolifdt" tpcrben, tpeldje an ber „5rei^eit eines 
<£Ejrifienmenfdfen" ifyren Urfprung gehabt ljaben? 

2Iber bas <£pangelium tpürbe bes^alb nidjt untergeben: bas 
be3eugt bie «ßefdfidjte. <2s mürbe als ein roter 5«ben im 3nnern 
bes ßewebes immer nodj 3U ftnben fem, unb es n>ürbe an irgenb 
einer Stelle aufs neue fyerportreten unb jtdt aus ben perjlricfenben 
Perfnüpfungen befreien. Tlrxdt in ben äußerlich gefdfmücften, inner- 
lich verfallenen (Tempeln ber griecfyifdjen unb römifdjen Kirdje iji 
es nidjt perlöfdjt „Wage bid? portpärts! unten tief in einem 
<5etpö(be vo'vtft bu nodj ben 2Htar unb feine ^eilige, etoig brennenbe 
Campe ftnben!" 2>iefes <£pangelium B^at ftd? mit ber Spekulation 
unb ber Kultusmyftif ber (Sriedjen perbunben unb ijl in ifyien 
bodj nidjt untergegangen; es ijt mit bem römifdjen IDeltreidf per- 
einigt tporben unb fyal [xd\ fogar in biefer Perfdjmel3ung erhalten, 
ja nodj bie Heformation tterporgetien lajfen! Seine bogmatifdjen 
teuren, feine Kultusorbnungen flohen gerpedjfelt, nod? piel mefjr 

— es iji pon ber reinjten (Einfalt unb pon ben tief jten Denfern 
ergriffen tporben; es ift einem 5 ran 31s! us unb einem 7Xexx> ton 
teuer getoefen. €s fyat ben EDanbel ber IDeltanfdjauungen über* 
bauert; es fyit (ßebanfen unb formen, bie einft ^eilig tparen, ab» 
gefhreift tpie ein (ßemanb; es fyat an bem gefamten 5ortfdjritt ber 
Kultur teilgenommen; es Ijat ftdi pergeijtigt unb im Caufe ber 
<8efd?idite feine ftttlidjen (ßrunbfäfee jtdjerer an3un>enben gelernt. 
3n feinem urfprünglidfen £rnft unb Crojt ift es 3U allen <§eiten 
(Eaufenben aufgegangen unb fyat in xfyxen alle Selajhmgen abge« 
tporfen unb alle Per3äunungen burdjbrocfyen. Wenn toir ein Hed?t 
Ratten 3U fagen, bas £pangelium fei bie fofenntnis unb 21n- 
erfennung (ßottes als bes Paters, bie <5etpif$eit ber (Erlöfung, bie 
Demut unb $xe\xbe in (ßott, bie tEfyatfraft unb bie 33ruberliebe, 
menn es biefer Heligion rpefentlidj ijl, ba% ber Stifter nidjt über 
feiner 33otfdjaft, bie 53otfd|aft nidjt über bem Stifter pergeffen tpirb 

— fo 3eigt bie (Sefdjicfyte, ba% bas tpirflidj in Kraft geblieben ift 
unb jtdj immer roieber burdjringt. 

Sie »erben pielleidjt permigt l\aben, ba% idj auf unfere 
gegenwärtige £age, nämlid? auf bas Derfjättnis bes fipangeliums 
3U unferem gegencoärtigen geizigen ^ujtanb, unferer gan3en ZDelt* 
erfenntnis unb tDeltaufgabe, nidjt eingegangen bin. 21ber um 



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bies mit €rfolg in 8e3ug auf bie fonfrete Situation 3U ttfun, basu 
bebürfte es mefyr Seit, als ein paar flüchtige Stunben; in Sesug 
auf ben Kern ber Sadfe aber ift bas ZTöttge gefagt; benn in bec 
(ßefdjtdjte ber djrtjUtdfen Heligion ^aben mir feit 
ber Deformation feine neue Stufe erlebt Ungeheure 
IDanblungen Ijat unfere ZDeiterfenntnis erfahren — jebes 3<rfpfput« 
bert feit ber Deformation bebeixtet einen ^ortfdjritt, ben tvidftigften 
bie beiben legten — , aber bie Kräfte unb prüften ber Deforma- 
tion ftnb, religiös unb ettyfdj betrachtet, ntdjt überholt unb abgelöjt 
tvorben. XDir brauchen fte nur rein 3U erfaffen unb mutig an$& 
tvenben, fo fefcen itpten bie mobernen Crfenntniffe feine neuen 
Sdtnrierigfeiten entgegen. Die u>irf liefen Sdjtviertgfeiten, 
meldte ber Heligion bes (Evangeliums entgegen 
ftefyen, finb immer bie alten. 3^ ncn gegenüber vermögen 
mir nichts 3U „betveifen"; benn unfere 23etveife ftnb Ijier nur Paria« 
tionen unfrer Öber3eugungen. Wofy aber t}at fidf burdj ben (Sang, 
ben bie (ßefcfydjte genommen fyat, ein weites (Sebiet aufgetfyan, auf 
tveldtem jtdj berdjrifHidteSruberjtnn nodj gans anbers betvä^ren ma%, 
als er es in ben früi^eren 3al|r^unberten erfannt unb vermocht Ijat — 
bas f 3 i a 1 e. Qier liegt eine gewaltige Aufgabe, unb in bem 2Tfa§e, 
als wir fte erfüllen, u>erben tvir bie tiefte 5rage, bie jrage nad] 
bem Sinn bes Cebens, freubiger beantworten tonnen, 

Kleine Ferren! Die Heligion, nämlid} bie (Bottes* unb 
nädjjtenliebe, iji es, bie bem Ceben einen Sinn giebt; bie IDiffen- 
fdjaft vermag bas nidit. Qa% idj einmal von meiner eigenen 
£rfaljrung fpredje, als einer, ber ftdj breifcig 3al|re um btefe 
Dinge emjtyaft bemüht bat <£s iß eine fyerriicfye Sad?e um bie 
reine ZDiffenfdjaft, unb xx>el\e bem, ber fte gering fdjäfet ober ben 
Sinn für bie (grfenntnis in ftdj abflumpft! 2lber auf bie 5ragen 
nadj bem tDofjer, EDofyin unb ID05U giebt fte ijeute fo wenig eine 
Antwort wie vor 3wei* ober breitaufenb 3aijren. Wofyl belehrt 
fte uns über öjatfädjlidjes, beeft IDiberfprüdje auf, verfettet <2r« 
fdfemungen unb berichtigt bie tEäufdjungen unferer Sinne unb 
PorfteHungen. 21ber wo unb wie bie Kurve ber 2Pelt unb bie 
Kurve unferes eigenen Cebens beginnt — jene Kurve, von ber 
fte uns nur ein Stücf 3eigt — unb wofyin biefe Kurve füfyrt, bar« 
über belehrt uns bie EDifJenfdfaft nidit. Wenn wir aber mit 
feiern IDillen bie Kräfte unb Wette bejahen, bie auf ben fjölje* 



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punften unferes inneren Cebcns als unfer tjödfßes <5ut, ja, als 
unfer eigentliches Selbß aufprallen, n>enn u>ir ben €rnjt unb ban 
Vflvd Ijaben, jte als bas £Dirflid?e gelten 311 laffen unb nadt i^nen 
bas Geben eht3uriditen, unb wenn wir bann auf ben (Sang 
ber (ßefdjtdfte ber ZHenfdtfyeit bliefen, ifjre auftoärts jtdj betoegenbe 
(Entoicflung perfolgen unb jlrebenb unb bienenb bie (ßemeinfdjaft 
ber (Beijler in ifyr auffudjen — fo »erben toir nidjt in Öberbrug 
unb Kleinmut oerfmfen, fonbern mir tx>erben (ßottes geu>i§ »erben, 
bes (ßottes, ben 3 c f U5 <Q|riftus feinen Pater genannt tjat, unb 
ber audj unfer Pater ift. 



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